Geschrieben am 1. September 2024 von für Crimemag, CrimeMag September 2024

Ingrid Mylo: 3×11 Spielworte (32) – Krähen, Muster, Katastrophe

Ingrid Mylo: 3×11 Spielworte (32)

Wer liest, sammelt Sätze. Manchmal bewußt. Manchmal ist ein einziges Wort ausschlaggebend: hartnäckig taucht es immer wieder auf. Fliege, zum Beispiel. Oder Mitternacht. Oder Asphalt. In ganz unterschiedlichen Büchern und Zusammenhängen, bei ganz unterschiedlichen Schriftstellern. Solche Fliegensätze oder Mitternachtssätze oder Asphaltsätze finden, immer elf an der Zahl, in der Serie 3 x 11 Spielworte ihren Platz. Ein Spaß, ein Zeitvertreib. Und eine andere Art, auf Bücher zu deuten.

Spielwort: Krähen

Elf Zitate zusammengelesen von Ingrid Mylo



            Eine Krähe landete auf der abgeblätterten Fahnenstange. Wurde mir die Inspiration in Form eines lächerlichen kreischenden Vogels geschickt?
– Lars Saabye Christensen: Der Sommer, in dem meine Mutter zum Mond flog

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            Wie alle Tage lärmten und krakeelten die Saatkrähen ohne Sinn und Zweck im Weidengebüsch an dem kleinen Fluß.
– Iwan Bunin: Der fröhliche hof

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            Was wollen die Krähen, welchem Beschützer trauen sie nicht?
– Ilma Rakusa: Nagoya

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            Der Eßtisch bot einen derart verwüsteten Anblick, daß man hätte denken können, ein Schwarm Krähen sei durchs Fenster gekommen und habe sich darüber hergemacht, nur um anschließend wieder zum Fenster hinauszufliegen.
– Haruki Murakami: Samsa in Love

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            Die Krähe im Fenster reize man nicht mit einem glänzenden Gegenstand.
– Padgett Powell: Immer den Wachturm entlang

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            Er wurde von einer Krähe geweckt, die auf seinem nackten Bauch landete und ihre scharfen Krallen in seine Haut hieb.
– Stefan Ahnhem: Und morgen du

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            Ich meine, wie kommt eine tote Hand einfach so angeflogen? Hat eine Krähe sie irgendwo geschnappt und ausgerechnet hier im Garten fallen lassen?
– Henning Mankell: Mord im Herbst

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            Krähen schweben in den alten Orchesterpavillon ein. Keine Ahnung, was die da suchen.
– Sam Shepard: Las Vegas, New Mexico

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            Und zwei Krähen stürzen tot von einer schiefen alten Lärche auf dem Hof gegenüber zu Boden, Funken springen überall auf, und Leonard Vermins graues Haar, das vom Regen durchnäßt wurde, während er hier draußen in der ersten Reihe stand, trocknete augenblicklich.
– Håkan Nesser: Himmel über London

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            Die Krähen liebe ich natürlich auch, sie scheinen der Welt so angemessen.
– Peter Stamm: Ich glaube, ich bin hier richtig

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            Aber jeden Morgen, wenn ich Brötchen holen ging, hockte in meiner Ausfahrt in der Novalisstraße eine Krähe (ein Kolkrabe?), wahrscheinlich immer die gleiche, und ich fragte mich, wie lange lebt so ein Tier eigentlich?
– Wolfgang Herrndorf: Arbeit und Struktur

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Spielwort: Muster

Elf Zitate zusammengelesen von Ingrid Mylo


            War es nicht unglaublich, wollte ich sagen, daß es früher Menschen gab, die die Welt – Blätter, Bäume, Flüsse, Gras – betrachteten und sie als Muster sahen, und noch unglaublicher, daß sie das Wesentliche dieser Muster erfaßten und es auf Stoff bannten?
– Jessica Au: Kalt genug für Schnee

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            Es gibt zu allem eine Geschichte, es ist wie bei diesen Mandelbrotbäumen, wo in jedem Muster neue, noch feinere Muster stecken, man kann so nahe herangehen, wie man will, es hört nie auf, eine Geschichte in der Geschichte in der Geschichte in der Geschichte.
– Peter Stamm: In einer dunkelblauen Stunde

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            Wenn das Universum ein System von Gewohnheiten ist, woraus entstehen dann neue Muster?
– Rupert Sheldrake: Denken am Rand des Undenkbaren

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            Ich glaube, Musik hat die Fähigkeit, all die beschissenen Muster, die wir uns angewöhnt haben, um mit der Welt klarzukommen, zu durchstoßen [….]
– Nick Cave zu Séan O’Hagan: Glaube, Hoffnung und Gemetzel

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            In der kalten Jahreszeit entstehen auf dem streng geometrischen Muster des Kelims aus Schlammspuren und trockenem Laub gewagte Variationen von Land Art.
– Michele Serra: Die Liegenden

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            Sie erinnerte sich so ausschließlich an das Gefühl, das dieses rauhe Muster in ihren Fingerspitzen hervorgerufen hatte, daß diese Erinnerung fast alles verdrängte.
– Undine Gruenter: „Wie war der Himmel blau“

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            Das Muster erinnerte mich an das Ziffernblatt einer Uhr, nur daß diese Uhr mehr als zwölf Stunden hatte: Die Stunden dieser Uhr nahmen kein Ende.
– Christoph Dolgan: Elf Nächte und ein Tag

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            Er dachte an die alten koptischen Muster, die er in einem Museum in Kairo gesehen hatte. Und er wußte, daß es das Muster war, das ihm gerade Kraft gab.
– Angelika Overath: Unschärfen der Liebe

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            Achte sorgfältig auf die Muster, sie dürfen dir aber nicht die Sicht verstellen, man braucht Zeit, um ein gutes Auge für Muster zu entwickeln.
– Audur Ava Ólafsdóttir: Ein Schmetterling im November

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            Wir stellten unsere Treue unter Beweis, und es schien, als würde sich eine Art Motiv offenbaren, als wären unter dem Überzug uralte Muster einer verlorenen Welt zu entdecken.
– Elizabeth Hardwick: Schlaflose Nächte

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            „Einfallslose Muster“: Welches Muster ist nicht so?
– Peter Handke: Die Zeit und die Räume

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Spielwort: Katastrophe

Elf Zitate zusammengelesen von Ingrid Mylo


            Das einzige, was wir außer größerer Betrunkenheit noch erwarten konnten, war etwas Schreckliches, eine Katastrophe … und darauf steuerten wir betrunken, aber sehenden Auges zu, fast neugierig, als wollten wir es umarmen.
– A. F. Th. von der Heijden: Fallende Eltern

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            Warteten alle Lebewesen wie sie auf das endgültige Verschwinden des Mondes und die Katastrophe, die darauf folgen würde?
– Jean Stafford: Der dunkle Mond

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            Solange dieses Mißverständnis nicht aufgeklärt ist, werden wir alle im Schatten der Katastrophe leben.
– Imre Kertész: Heimweh nach dem Tod (Tagebuch 7.3.59)

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            Irgendwann wird der Knopf zerbrechen, und das volle Ausmaß der Katastrophe wurde mir neulich während der Lektüre eines Romans bewußt.
– Claire-Louise Bennett: Teich

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            Ich merke, daß ich wirke wie jemand, der plötzlich angesichts einer hereinbrechenden Katastrophe daran erinnert wird, daß er Herr der Lage sein müßte.
– Michele Serra: Die Liegenden

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            Wir konnten spüren, wie sich die Katastrophe zusammenbraute, doch vielleicht war sie auch nur eine Einbildung, geschürt durch die Morde und die alarmierende Berichterstattung.
– Fabrice Humbert: Die Gesichter des Ethan Shaw

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            Der Blick in die Fenster war ein Blick in die Katastrophen anderer, in ihre Einsamkeiten und in die Verrücktheiten, mit denen sie die Katastrophen und die Einsamkeiten zu bekämpfen versuchten.
– Christopher Dolgan: Elf Nächte und ein Tag

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            […]; wie der Name // der Katastrophe auch lautet, er ist niemals // das Gegenteil von Liebe.
– Mary Oliver: Schatten

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            Die Katastrophe deutete sich bereits an, hatte sich eingefädelt in die Randbereiche der Geschichte, aber niemand wußte, wo man suchen mußte.
– Hilary Leichter: Lutschlösser

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            Alle, die der Katastrophe entfliehen können, sollten es tun, und die Schwachen, die Alten, die Babys werden in den Trümmern zurückbleiben.
– Hilary Mantel: Von Geist und Geistern

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            Er fühlte sich so viel besser, erleichtert, diese Katastrophe hinter sich gebracht zu haben, und dachte, es ist gar nicht so schlecht, hier mit dem Kopf auf der Toilette zu knien.
– Peter Cameron: Was geschieht in der Nacht

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Die bisherigen Spielworte im Überblick:
ménage à trois (1): Bahnhöfe, Fliegen, Lippenstift
ménage à trois (2): Stühle, Socken, Sterne
ménage à trois (3): Telefon, Zähne, Scherben
ménage à trois (4): Zwiebeln, Friedhöfe, Zigaretten
ménage à trois (5): Handtaschen, Kaffee, Stille
ménage à trois (6): Listen, Schnee, Gedanken
ménage à trois (7): Kerzen, Toiletten, Worte
ménage à trois (8): Unterwäsche, Bücher, Suppe
ménage à trois (9): Steine, Schritte, Sonnenuntergänge
ménage à trois (10): Masken, Gespenster, Koffer
ménage à trois (11): Briefe, Fische, Gesten
ménage à trois (12): Listen II, Katzen, Schatten
ménage à trois (13): Spinnen, Universum, Narben
ménage à trois (14): Mäntel, Hunde, Uhren
ménage à trois (15): Knöpfe, Leben, Glas
ménage à trois (16): Ohren, Handschuhe, Tod
ménage à trois (17): Finger, Wasser, Fernsehen
ménage à trois (18): Bett, Geheimnis, Wörter
ménage à trois (19): Augen, Mitternacht, Taschenlampe
ménage à trois (20): Beine, Kuß, Schnecken
ménage à trois (21): Spiegel, Bedeutung, Schildkröten 
ménage à trois (22): Inseln, Herz, Würmer
ménage à trois (23): Löcher, Liebe, Brücken
ménage à trois (24): Fenster, Kugel, Füße
ménage à trois (25): Fingernägel, Bienen, Dinge
ménage à trois (26): Ameisen, Brillen, Zukunft
ménage à trois (27): Bier, Eulen, Wünsche
ménage à trois (28): Arme, Moment, Bleistift
ménage à trois (29): Fliegen II, Brunnen, Gedächtnis
ménage à trois (30): Messer, Leben II, Engel
ménage à trois (31): Sachen, Licht, Knochen

Vier Blicke auf Ingrid Mylos Gedichtband Überall, wo wir Schatten warfen.
Ingrid Mylo bei uns auf CulturMag.
Siehe auch: Katherine Mansfield / Ingrid Mylo: Alles, was ich schreibe – alles, was ich bin, Texte einer Unbeugsamen (Marix Verlag). Besprechung von Alf Mayer hier.

In 2023 von ihr in der Edition Azur bei Volland & Quist erschienen: Die Entfernung der Sterne – hier bei uns besprochen.

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