Wer liest, sammelt Sätze. Manchmal bewußt. Manchmal ist ein einziges Wort ausschlaggebend: hartnäckig taucht es immer wieder auf. Fliege, zum
Beispiel. Oder Mitternacht. Oder Asphalt. In ganz unterschiedlichen Büchern und Zusammenhängen, bei ganz unterschiedlichen Schriftstellern. Solche Fliegensätze oder Mitternachtssätze oder Asphaltsätze finden, immer elf an der Zahl, in der Serie ‚Spielwort‘ ihren Platz. Ein Spaß, ein Zeitvertreib. Und eine andere Art, auf Bücher zu deuten.

Spielwort: Stühle
Elf Zitate zusammengelesen von Ingrid Mylo
Wer hätte erwarten können, daß der Stuhl erfunden werden würde? Möglich war er jedoch. Und also gibt es Stühle.
– Lars Gustafsson: Frau Sorgedahls schöne weiße Arme
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Es war einfach so, daß die Stühle dieser Welt etwas waren, das meine Phantasie besonders anzuregen vermochte.
– Jung Young Moon: Vaseline-Buddha
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„Du siehst das Potenzial des Stuhls. Daraus schließe ich, daß du ein großer Fotograf sein mußt.“
– Jonathan Lee: Wer ist Mr Satoshi?
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Pelle sagt immer „Baby, umarme den Stuhl“ zu ihm und kriegte sich dann nicht mehr ein, wie süß er das machte.
– Adam Johnson: Nonc und Geronimo
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Ich war ein sehr lustiges kleines Mädchen, das gern auf einen Stuhl stieg.
– Sophie Auster in einem Interview mit dem SZ-Magazin
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Danach setze ich mich noch auf einen Stuhl und schaue mir abwechselnd das schön aufgeräumte Zimmer an oder beim Fenster hinaus.
– Terézia Mora: Selbstbildnis mit Geschirrtuch
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Ich stand auf und schob meinen Stuhl an den Tisch, Sitzfläche darunter, das hat immer etwas Endgültiges.
– Margriet de Moor: Mélodie d’amour
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Unsere Mutter machte sich Gedanken darüber, wie Stühle aussehen würden, wenn man die Knie in die andere Richtung beugen könnte.
– Lucia Berlin: Mama
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Ich hörte den Stuhl meiner Mutter scharren und wußte, jetzt geht sie aus dem Zimmer.
– Elizabeth Strout: Die Unvollkommenheit der Liebe
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Ein Stuhl, den sie vorher nicht richtig gesehen hatte, stand draußen auf dem Gras, aber das Haus war still wie immer, nicht einmal die Vorhänge atmeten.
– James Salter: My Lord
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Man erkennt nicht mehr, daß das, was da brennt, mal ein Stuhl war.
– Heinz Helle: Eigentlich müßten wir tanzen

Spielwort: Socken
Elf Zitate zusammengelesen von Ingrid Mylo
Erst kürzlich gab es einen unglücklichen Zwischenfall mit einer Socke, einer dieser dünnen Baumwollsocken ohne ordentlicher Ferse, ich hatte sie ihnen empfohlen, aber vergessen zu sagen, daß man sie an die Füße zieht und nicht in den Hals steckt …
– Kjersti A. Skomsvold: 33
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Goldsrud steckte ihm zwei Finger in den Rachen und zog die Socke raus.
– Jo Nesbø: Der Sohn
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Das Gute daran, sich eine Socke über die Augen zu ziehen, ist, daß sie ein Provisorium ist.
– Nicholson Baker: Eine Schachtel Streichhölzer
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Leider denkst du an Socken, die auf dem Boden liegen und darauf warten, aufgehoben und gewaschen zu werden.
– Margaret Atwood: Männer mögen
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Oder sie erklären, daß sie’s nicht ertragen könnten, wenn ein Mann im Bett die Socken anbehält, und man weiß nicht, was man antworten soll, da man ja wirklich nicht vorhatte, die Socken anzubehalten.
– Wolfgang Herrndorf: In Plüschgewittern
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Die Turnschuhe standen neben ihm, und die Socken lagen darin wie zwei weiße Wattebälle.
– Karin Fossum: Eine undankbare Frau
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Sie konnte sich nicht vorstellen, daß ein Polizist in Socken irgendetwas ausrichten könnte.
– Peter Stamm: Weit über das Land
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(…), da steht der alte Mann mit seinem Sockenstand, der aussieht, als würde er tot umfallen, wenn ihm nicht sofort jemand ein Paar Socken abkauft, (…)
– Ali Eskandarian: Die goldenen Jahre
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Schließlich kauften wir Unterwäsche und ein Paar rote und gelbe Socken, von dem meine Mutter sagte, sie seien „lustig“.
– Peter Cameron: Kopf oder Fuß
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Die fusseligen Socken entfernten sich ebenfalls Richtung Ufer, bis sie im gleißenden Sonnenlicht nicht mehr zu sehen waren.
– Yoko Ogawa: Der Herr der kleinen Vögel
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Denn wer kann schon über die unendliche Leere nachdenken, während er mit den Zehen im Loch einer billigen Socke herumspielt.
– Bregje Hofstede: Der Himmel über Paris

Spielwort: Sterne
Elf Zitate zusammengelesen von Ingrid Mylo
Da waren ungeheuer viele Sterne, wie man sie bei uns nie erlebt, ein Meer anderer Welten, unendlich weit entfernt, Zeichen, Figuren, Schrift in dieser unglaublichen Stille.
– Cees Nooteboom: Paula II
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Die Sterne knisterten vor Kälte, als ich Stunden vor Tagesanbruch aus meinem Kokon kroch.
– John Dos Passos: Orient-Express
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Er hatte ihr erzählt, vor langer Zeit hätten die Menschen geglaubt, der Himmel sei eine Schale voller kleiner Löcher und daß diese kleinen Löcher die Sterne seien und die Sonne durch sie hindurchscheine.
– Steven Millhauser: Ein Tag auf dem Land
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Ihr seid nicht fair, sandte sie in Gedanken den Sternen ihre Antwort, als pariere sie eine häßliche Vorlage auf dem Tennisplatz ihrer Phantasie.
– Scott Bradfield: Die Leute, die sie vorübergehen sahen
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Es war Nacht, und schlagartig veränderte sich die Anordnung der Sterne, als wäre das Himmelszelt eine riesige Projektion, die jemand, wer weiß wie, durch eine andere ersetzt hatte.
– David Albahari: Der Himmel
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Und der Mond war ein Stück faules Holz, die Sterne kleine goldene Mücken und die Erde ein umgestürzter Hafen.
– Peter Stamm: Nacht ist der Tag
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Da es in dieser Unwetternacht keine Sterne am Himmel gab, mußte er dem Licht im Tunnel folgen.
– Håkan Nesser: Himmel über London
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Die gesamte Route 33 entlang durchstachen die Lichter der Häuser das Dunkel, als seien Späne von Sternen vom nächtlichen Himmel auf die Erde gefallen.
– Josh Weil: Herdentiere
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Mein Wissen über das Universum ist begrenzt, aber ich weiß, daß Sterne keine Steine absondern, sondern Energie.
– Douglas Coupland: Eleanor Rigby
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Die Sterne sind Birnen, // die keiner erreichen kann, // nicht einmal zu einer Hochzeit.
– Anne Sexton: Die Erde stürzt ab
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Da fiel ihm ein, daß am nächsten Tag ja Heiligabend war und seine Mutter bisher noch nicht einen einzigen Stern aufgehängt hatte.
– Lars Saabye Christensen: Der Sommer, in dem meine Mutter zum Mond fliegen wollte