Wer liest, sammelt Sätze. Manchmal bewußt. Manchmal ist ein einziges Wort ausschlaggebend: hartnäckig taucht es immer wieder auf. Fliege, zum Beispiel. Oder Mitternacht. Oder Asphalt. In ganz unterschiedlichen Büchern und Zusammenhängen, bei ganz unterschiedlichen Schriftstellern. Solche Fliegensätze oder Mitternachtssätze oder Asphaltsätze finden, immer elf an der Zahl, in der Serie ‚Spielwort‘ ihren Platz. Ein Spaß, ein Zeitvertreib. Und eine andere Art, auf Bücher zu deuten.

Spielwort: Augen
Elf Zitate zusammengelesen von Ingrid Mylo
Die Vorstellung, sich von den besessenen Hühnern die Augen ausschlürfen zu lassen, behagte ihr überhaupt nicht.
– Sacha Naspini: Nives
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Um so etwas wie einen Ruhestand zu erreichen, schloß ich die Augen, was aber nichts änderte; in der Tat fühlte es sich an, als seien meine Augen weit geöffnet.
– Claire-Louise Bennett: Teich
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Wenn man jemanden erschießt, soll man ihm wenigstens in die Augen schauen.
– Lena Andersson: Der gewöhnliche Mensch
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Manchmal waren seine Augen wie ein sichtbarer Teil der Eingeweide (nichts andres; abstoßend und unmenschlich)
– Peter Handke: Die Zeit und die Räume
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Wenn du mich mit diesen wilden Augen ansiehst, habe ich das Gefühl, daß ich dir Dinge erzählen könnte, die ich einem anderen Menschen nie anvertrauen würde.
– Katherine Mansfieldt: Die Dillgurke
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Mit 14 Jahren war ich überzeugt, daß Moskaus Straßenlaternen mit meinen Augen angezündet werden.
– Marina Zwetajewa: Ich sehe alles auf meine Art
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Danach habe ich bei jeder Gelegenheit Augen gezeichnet, bis mir jemand sagte, das sei ein bißchen unheimlich, all die Augen auf meinen Heften und Schulbüchern, da habe ich wieder aufgehört damit.
– Peter Stamm: In einer dunkelblauen Stunde
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Was hält die Schlupfwespen und Aaskäfer davon ab, die Augen meiner Mutter zu fressen?
– Samantha Harvey: Das Jahr ohne Schlaf
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Hans-Ullrich beugte sich immer tiefer über den Kaktus, so daß er fast in seine geöffneten Augen stach.
– Judith Kuckart: Der Bibliothekar
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Manchmal ertappe ich mich dabei, wie ich heimlich einen Blick auf ihn werfe und versuche, in seinen Augen zu lesen und dabei Beweise zu finden.
– Riku Onda: Fische, die in Sonnensprenkeln schwimmen
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Um zu wissen, wie spät es ist, sehe ich nach dem Zifferblatt des Weckers, aber da ich vergesse, die Augen zu öffnen, sehe ich nichts.
– Henri Michaux: Turbulenz im Unendlichen

Spielwort: Mitternacht
Elf Zitate zusammengelesen von Ingrid Mylo
Als die Uhr Mitternacht schlägt, klingt es so, als ob eine reife Frucht aufspringt – und dann tickt sie leise, ganz leise weiter.
– Eudora Welty: Der alte Mr Marblehall
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Das könnte der Fahrstuhl sein, überlegte er, aber es war eigentlich viel zu spät, und um diese Zeit, gegen Mitternacht, passierte nicht mehr viel in seinem Wohnblock.
– Karin Fossum: Eine undankbare Frau
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Um Mitternacht hat er sich dann die Treppe im Hausflur runtergeschmissen, um zu beweisen, daß diese Ursache auf ihn keinerlei Wirkung mehr habe, und sich dabei den Fuß angebrochen.
– Wolfgang Herrdorf: In Plüschgewittern
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„Jemand muß diesem Kerl mal stecken, daß ein guter Barkeeper nie vor Mitternacht trinkt“, meldete sich Bud Haugen zu Wort, ein Mann, der während des Koreakriegs kurzfristig eine Bar besessen hatte.
– Chuck Klosterman: Nachteulen
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Ihr Michael fährt mit seinem kleinen roten Fahrrädchen immer im Kreis um den Sandkasten, während sie von einer ungestörten Mitternacht träumt.
– Grave Paley: Faith im Baum
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Um den Stengel jeder Frucht war ein Neujahrswunsch gewickelt, bestimmt für denjenigen, der sie um Mitternacht pflücken würde.
– Kim Thúy: Der Geschmack der Sehnsucht
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Irgendwann ist Mitternacht, man wünscht sich ein gutes neues Jahr, und später geht man zurück in sein Zimmer.
– Thomas Weiss: Flüchtige Bekannte
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(…) und immer war es gleich Mitternacht, tick-tack, die Minuten verstrichen, die Minuten, bis du wieder in Lumpen und Schmutz dastandest.
– Hilary Mantel: Von Geist und Geistern
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Um Mitternacht war er vor dem Tor, plötzlich arbeitslos, seine Aktentasche voll ungeöffneter Colaflaschen.
– Stewart O’Nan: Westlich des Sunset
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Er erwachte gegen Mitternacht und fühlte sich wieder wie er selbst.
– Ben Lerner: 22:04
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Je weiter sich die Musik entfernte, desto langsamer drehte sich das Karussell, um schließlich, als die Turmuhr vom Hauptplatz Mitternacht schlug, gänzlich stehenzubleiben.
– Varujan Vosganian: Das Spiel der hundert Blätter

Spielwort: Taschenlampe
Elf Zitate zusammengelesen von Ingrid Mylo
„Nimm die Taschenlampe, leuchte herum, und du wirst sehen.“
– Lorrie Moore: Flügel
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Im Licht der Taschenlampe erinnerte mich der Boden des Brunnens an die Mondoberfläche, wie ich sie vor langer, langer Zeit im Fernsehen gesehen hatte.
– Haruki Murakami: Mister Aufziehvogel
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Die Taschenlampe war im Grunde genommen eher eine große Laterne, deren starke Batterien für die ganze Nacht reichen würden.
– Arnaldur Indridason: Nacht über Reykjavik
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Es war jetzt viel heißer, und die Sonne blitzte am grauen Himmel wie eine Taschenlampe unter einem Laken.
– Wells Tower: Die braune Küste
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Seine einzige Hoffnung lag darin, mit der Taschenlampe zu leuchten und dem Lichtschein zu folgen, obwohl er nichts erhellte.
– Chuck Klosterman: Nachteulen
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Während wir dem hüpfenden Strahl der Taschenlampe folgen, wünschte ich mir, wir wären alle verschiedene Leute, Fremde, die hier nachts zufällig zusammentreffen.
– Sam Shepard: Land der Lebenden
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Nachts kam er jede Stunde in mein Zimmer, leuchtete mich mit einer Taschenlampe an und zog sich leise zurück, wenn er sah, daß ich immer noch am Leben war.
– Lars Saabye Christensen: Der Sommer, in dem meine Mutter zum Mond fliegen wollte
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Und die Menschen dort draußen strecken die Arme aus und tasten sich mit Taschenlampen in der Hand voran, erhellenden Taschenlampen, und vielleicht glauben manche, was beleuchtet wird, würde selbst Licht absondern, und deshalb braucht man sich keine Sorgen zu machen, daß man die Leute verschreckt.
– Kjersti A. Skomsvold: 33
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Allein im stockfinsteren Wasser, ohne zu wissen, was oben und unten ist, nur er und eine lächerliche Taschenlampe.
– Mirko Bonné: Tauchen
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Sie leuchtete mit der Taschenlampe senkrecht hinauf in die Nacht, und ich konnte in einer dünnen, hellen Säule die Schneeflocken sehen, Flocke für Flocke.
– Peter Cameron: Gelegenheitsjobs
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Ich ließ das Glas fallen, das ich in der Hand hielt, es zersplitterte auf dem Steinboden, und ich erkannte, daß ich wieder vergessen hatte, eine Taschenlampe zu besorgen.
– Håkan Nesser: Die Lebenden und die Toten von Winsford
Die bisherigen Spielworte im Überblick:
ménage à trois (1): Bahnhöfe, Fliegen, Lippenstift
ménage à trois (2): Stühle, Socken, Sterne
ménage à trois (3): Telefon, Zähne, Scherben
ménage à trois (4): Zwiebeln, Friedhöfe, Zigaretten
ménage à trois (5): Handtaschen, Kaffee, Stille
ménage à trois (6): Listen, Schnee, Gedanken
ménage à trois (7): Kerzen, Toiletten, Worte
ménage à trois (8): Unterwäsche, Bücher, Suppe
ménage à trois (9): Steine, Schritte, Sonnenuntergänge
ménage à trois (10): Masken, Gespenster, Koffer
ménage à trois (11): Briefe, Fische, Gesten
ménage à trois (12): Listen II, Katzen, Schatten
ménage à trois (13): Spinnen, Universum, Narben
ménage à trois (14): Mäntel, Hunde, Uhren
ménage à trois (15): Knöpfe, Leben, Glas
ménage à trois (16): Ohren, Handschuhe, Tod
ménage à trois (17): Finger, Wasser, Fernsehen
ménage à trois (18): Bett, Geheimnis, Wörter
Vier Blicke auf Ingrid Mylos Gedichtband Überall, wo wir Schatten warfen.
Ingrid Mylo bei uns auf CulturMag.
Anfang des Jahres von ihr erschienen: Katherine Mansfield / Ingrid Mylo: Alles, was ich schreibe – alles, was ich bin, Texte einer Unbeugsamen (Marix Verlag). Besprechung von Alf Mayer hier.