Wer liest, sammelt Sätze. Manchmal bewußt. Manchmal ist ein einziges Wort ausschlaggebend: hartnäckig taucht es immer wieder auf. Fliege, zum Beispiel. Oder Mitternacht. Oder Asphalt. In ganz unterschiedlichen Büchern und Zusammenhängen, bei ganz unterschiedlichen Schriftstellern. Solche Fliegensätze oder Mitternachtssätze oder Asphaltsätze finden, immer elf an der Zahl, in der Serie ‚Spielwort‘ ihren Platz. Ein Spaß, ein Zeitvertreib. Und eine andere Art, auf Bücher zu deuten.

Spielwort: Masken
Elf Zitate zusammengelesen von Ingrid Mylo
Beim Reingehen fiel mir als erstes eine komische Sache auf, nämlich, daß viele Besucher große schwarze Masken trugen, so daß man bloß ihre Augen sehen konnte.
– Jesse Eisenberg: Masgouf
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Ich muß stark betrunken gewesen sein und meinen Spaß daran gehabt haben, mir eine Maske aufzusetzen und jemanden zu spielen, der ich nicht war.
– Hanning Mankell: Die schwedischen Gummistiefel
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Der Anblick dieser Maske brachte mir ein gewisses Maß jener Gelassenheit zurück, die mir während der Konversation mit der Psychologin abhanden gekommen war.
– Jeff Vandermeer: Auslöschung
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Die Griechen wußten, daß die Maske im Theater keine Verkleidung ist, sondern ein Mittel der Enthüllung.
– Siri Hustvedt: Das Gleißen der Welt
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Am Fuß der Säule stehen Schalen, Masken, ein Gesicht in einem Gesicht, von Löchern durchbohrt, der Geist entflohen.
– Margaret Atwood: Rohmaterial
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Es war, als würde ich aufschrecken und plötzlich erkennen, daß der tödliche Virus, vor dem ich mich fürchtete, sich hinter einer lächelnden Maske verbarg.
– Henning Mankell: Die Mangopflanze
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Winter wußte, daß die Gesichter von Menschen, die einen gewaltsamen Tod gestorben sind, zu einer Maske verzerrt werden, die auch das letzte dessen zerstört, was sie einst gewesen sind.
– Åke Edwardson: Das dunkle Haus
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Der Blick, den sie ihm zuwarf, schien ihre Befürchtung zum Ausdruck zu bringen, diese Maske wäre ihr Tod.
– Katherine Dion: Die Angehörigen
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Dadurch, daß man sein Gesicht hinter der Maske verstecken konnte, soll es zu allerlei unschönen Handlungen gekommen sein, sodaß Maskenbälle schließlich gesetzlich verboten wurden, (…)
– Jung Young Moon: Vaseline-Buddha
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Lauter Masken und hinter allen das eigene, unverwechselbare Ich.
– Marie Luise Kaschnitz: Orte und Menschen
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An dieser Stelle war der Spaß vorbei, und man sah, wie es ausgehen konnte, wenn die Masken die Macht übernahmen
– Christina Hesselholdt: Vivian

Spielwort: Gespenster II
Elf Zitate zusammengelesen von Ingrid Mylo
In der Lichtflut vor dem Wagen tauchten die nackten Baumstämme wie schwarze Gespenster auf, flogen vorbei und verschwanden wieder in der Dunklheit.
– Kjell Westö: Das Trugbild
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„Ich weiß zwar nicht, was ich gesehen habe, aber ein Gespenst war es nicht, weil es Gespenster nicht gibt.“
– Andrew Sean Greer: Ein unmögliches Leben
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Im Allgemeinen ist es besser, die Unvorhersehbaren unter uns wie Gespenster zu behandeln, wandelnde Phantome, die ihre einsamen Erzählungen einem Publikum vorspielen, das taub, stumm und blind scheint.
– Siri Hustvedt: Mit Fremden leben
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Wie ein Gespenst lebte er und verzog den Mund, wenn die Treppenstufen unter seinem Gewicht knarrten.
– Tommy Wieringa: Eine schöne junge Frau
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Vielleicht brauchte er eine Bestätigung dafür, daß er wirklich lebte und nicht das Gespenst war, nach dem er aussah.
– Lorrie Moore: Bezüglichkeiten
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Die Gespenster mögen das Elend, weißt du.
– Grégoire Delacourt: Wir sahen nur das Glück
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Gewöhnliche, normale, gesunde Menschen ließen sich nicht von Dunkelheit und Gespenstern beherrschen.
– Liza Marklund: Verletzlich
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Du fürchtest dich, es ist Nacht, also glaubst du auch an Gespenster.
– Thomas Reverdy: Die Verflüchtigten
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Die einzige Art, die ich kenne, um mit Gespenstern fertigzuwerden, ist, sie aufzusuchen und ihnen in natura gegenüberzutreten, Aug in Aug.
– Georgi Gospodinov: Auf der Suche nach Carla in Lissabon
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Keiner von beiden erkannte auf Anhieb das Gespenst, das er vor sich hatte.
– Yuri Herrera: Zeichen, die vom Weltende künden
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Wer die versponnene Neigung hat, lieber nicht zu existieren, dem bleibt der Beruf des Gespenstes.
– Erri De Luca: Fische schließen nie die Augen

Spielwort: Koffer
Elf Zitate zusammengelesen von Ingrid Mylo
Männer, die mit einem Koffer in der Hand aus dem Haus gingen, kehrten gemeinhin zurück.
– Julian Barnes: Der Lärm der Zeit
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Einer meiner frühesten Erinnerungen ist die an meinen Vater, wie er montag morgens durch die sonnige Wohnung läuft, seinen Koffer packt und dabei ein Liedchen pfeift, Zip-a-Dee-Doo-Dah Zip-a-Dee-ay.
– Richard Ford: Zwischen ihnen
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Aber die meisten von uns sind halt wie beschissene Koffer, die zwischen anderen Gepäckstücken hin und her rumpeln, oder nicht?
– Barney Norris: Hier treffen sich fünf Flüsse
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Augenblicke später sahen wir, wie die Gepäckabfertiger unsere Koffer in die fließende Kloake stellten.
– David Sedaris: Wer’s findet, dem gehört’s
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„Ich würd mich kein bißchen wundern, wenn sie nicht ne Knarre in dem Koffer da hätten.“
– Flannery O’Connor: Ein Kreis im Feuer
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„Mit einem dieser alten Koffer ist Hemningway in Afrika auf Löwenjagd gegangen“, sagte sie.
– Takis Würger: Der Club
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Während ich darüber nachdenke, erscheinen mir alle Koffer für einen Moment lang wie große Bücher: aufgeblasene Exemplare ohne Titel, in einer Bibliothek für Monster, Riesen, Idioten.
– Jhumpa Lahiri: Wo ich mich finde
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Schließlich klappte sie ihren kleinen Koffer auf und zog sich aus.
– Elizabeth Strout: Angeknackst
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Alles, was sie besaßen, paßte in einen Koffer, ein Gepäckstück, das sie penibel pflegten, das jedoch so abgenutzt war, daß es aussah, als hätte es tausend Leben hinter sich.
– Madeleine Thien: Sag nicht, wir hätten gar nichts
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Die Koffer sind noch immer nicht ausgepackt, und eh das nicht geschehen ist, wird wohl auch mit mir nichts Gutes geschehen können.
– Ingeborg Bachmann an H. M. Enzensberger am 22. 3. 63 (‚Schreib alles, was wahr ist, auf‘)
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Mit dem kleinen Koffer in der Hand sah er um sich und hatte für eine Weile den Eindruck, am Ende von allem angekommen zu sein.
– Mirko Bonné: Lichter als der Tag

Die bisherigen Spielworte im Überblick:
ménage à trois (1): Bahnhöfe, Fliegen, Lippenstift
ménage à trois (2): Stühle, Socken, Sterne
ménage à trois (3): Telefon, Zähne, Scherben
ménage à trois (4): Zwiebeln, Friedhöfe, Zigaretten
ménage à trois (5): Handtaschen, Kaffee, Stille
ménage à trois (6): Listen, Schnee, Gedanken
ménage à trois (7): Kerzen, Toiletten, Worte
ménage à trois (8): Unterwäsche, Bücher, Suppe
ménage à trois (9): Steine, Schritte, Sonnenuntergänge
Vier Blicke auf Ingrid Mylos neuesten Gedichtband Überall, wo wir Schatten warfen.
Ingrid Mylo bei uns auf CulturMag.