Wer liest, sammelt Sätze. Manchmal bewußt. Manchmal ist ein einziges Wort ausschlaggebend: hartnäckig taucht es immer wieder auf. Fliege, zum Beispiel. Oder Mitternacht. Oder Asphalt. In ganz unterschiedlichen Büchern und Zusammenhängen, bei ganz unterschiedlichen Schriftstellern. Solche Fliegensätze oder Mitternachtssätze oder Asphaltsätze finden, immer elf an der Zahl, in der Serie ‚Spielwort‘ ihren Platz. Ein Spaß, ein Zeitvertreib. Und eine andere Art, auf Bücher zu deuten.

Spielwort: Steine

Elf Zitate zusammengelesen von Ingrid Mylo

„Da ist diese Neugier, einen Stein hochzuheben, um zu sehen, was darunter krabbelt.“
– Simon Beckett im Gespräch mit Tobias Wenzel auf dem General Cemetery, Sheffield

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Ich will keine Steine finden, die schon ein anderer in ein Schächtelchen gelegt hat.
– W. F. Hermans: Niemals schlafen

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„Und dann hockt da ein widerlicher kleiner Siebenjähriger hinter dem nächsten Zaun und wirft mit Steinen.“
– Lars Gustafsson: Trauermusik

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Aber ein Steinchen, wenn nur ein Steinchen die Schräge herunterrollte, was für eine Lawine würde das geben!
– David Albahari: Die Art der Schräge

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(…), ein paar weiße Steine werden im Wald fallen gelassen, unter Bäumen, sie schimmern im Mondlicht, Spuren, eine Fährte.
– Margaret Atwood: Sie

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Stell dir das nur einmal vor, daß Schuhe ohne weiteres imstande sind, Stein abzutragen – der ist dann wie manche Geschichten, die in der Mitte durchhängen, nachdem man sie jahrhundertelang erzählt hat. Der Boden merkt sich, wo wir gegangen sind.
– Anne Michaels: Wintergewölbe

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In dem verkrusteten Schlamm, der hart ist wie Gußeisen und in dem Lumpen und faulige Bastschuhe festgewachsen sind, liegen große, flache Steine, auf denen zu Mittag und zu Abend gegessen wird.
– Iwan Bunin: Hundertacht

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Mit dem Maurer Dury aus Marseille fiel auch ein Stein vom Gerüst und zermalmte ihm den Schädel.
– Félix Fénéon: 1.111 wahre Geschichten

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Die Steine, die wir warfen, ich höre // sie fallen, glasklar durch die Jahre.
– Tomas Tranströmer: Die Steine

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Müssen wir für immer menschlich bleiben? Das Bewußtsein hat sich erschöpft. Zurück zu anorganischer Materie, na los. das wollen wir. Wir wollen Steine auf dem Feld sein.
– Don DeLillo: Der Omega-Punkt

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Um all diese Steine loszuwerden, haben die Bauern früher runde Gebilde daraus gebaut, die von keinerlei Nutzen sind.
– Cees Nooteboom: Der entfernteste Punkt

Spielwort: Schritte

Elf Zitate zusammengelesen von Ingrid Mylo

(…) und was du hörst, sind Schritte, das vergessene Geräusch, das zu einer Zeit ohne Auto gehört und hier seit Jahrhunderten ununterbrochen ertönt.
– Cees Nooteboom: Venezianische Vignetten

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Hier waren meine Schritte Explosionen im Grund,
die die Stille übermalt,
übermalt.
– Thomas Tranströmer: Entlang des Radius

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Schritte klingen im Grunde immer gleich: bedrohlich werden sie nur durch die Umgebung, die Situation, in der sie gehört werden.
– Donna Leon: Tierische Profite

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„Schritte in Filmen hören sich nie echt an.“
– Don DeLillo: Der Omega-Punkt

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Die Füße, schleppend, konnten sich nicht entscheiden; die anfangs eindeutigen, von der eigenen Wohnung wegstrebenden Schritte zögerten nun: wohin ging man um vier Uhr morgens?
– Gonçalo M. Tavares: Die Versehrten

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Es ist Herbst, die Nacht kommt zwischen zwei Schritten.
– Ilma Rakusa: Nagoya

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Von der untersten Stufe der Veranda waren es genau hundert Schritte bis zum Briefkasten. Genau einhundert Schritte. Die logistisch perfekte Entfernung bestärkte ihn in seinem Glauben an Gott.
– Chuck Klosterman: Nachteulen

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Ich bin in meinen gut sechzig Jahren auf der Erde nicht viele Schritte gegangen, und mir ist klar, daß mein Leben einem außenstehenden Betrachter als ziemlich dürftig erscheinen muß.
– Håkan Nesser: Himmel über London

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Er ging mit langsamen, schweren Schritten, und die Zeit, die er brauchte, um diese Strecke zu gehen, enthielt mehr als ein ganzes Leben.
– Lars Saabye Christensen: Der Sommer, in dem meine Mutter zum Mond fliegen wollte

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Ich machte kleine Schritte, ich war bereit.
– Erri De Luca: Fische schließen nie die Augen

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Man weiß nicht, was das Letzte sein wird, das einem erscheint, bevor man den Schritt hinüber tut.
– Georgi Gospodinov: Physik der Schwermut

Spielwort: Sonnenuntergänge

Elf Zitate zusammengelesen von Ingrid Mylo

„Jetzt müssen wir uns den Sonnenuntergang anschauen.“ Sie zeigte auf einen alten Küchenstuhl, der, sagte sie, eigens für den Sonnenuntergang da stand, und verlangte, daß er darauf Platz nahm.
– Alice Munro: Corrie

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Der Sonnenuntergang schleicht jetzt wie ein Fuchs über dieses Land und entzündet das Gras in einem einzigen Augenblick.
– Tomas Tranströmer: Gogol

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Normalerweise schenke ich mir die Fernsehnachrichten, denn der Sonnenuntergang war für mich immer schon schwer zu ertragen – das ist die Tageszeit, in der Einsamkeit besonders schwer wiegt.
– Douglas Coupland: Eleanor Rigby

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Ich las derweil von den grandiosen Idiotien des Amant Magnifique und nahm bei Sonnenuntergang ein exzellentes Dinner aus Porridge und Kamelfleischstücken mit gebratenen Zwiebeln ein.
– John Dos Passos: Orient-Express

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Der Sonnenuntergang dieses Tages wird mich auf einem Hügel antreffen, in einem Klostergarten des Malteserordens, mit auf Gras dahinfaulenden Orangen und Krähen, die das Fruchtfleisch herauspicken.
– Georgi Gospodinov: Physik der Schwermut

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Es gefiel mir, vom Sonnenuntergang verschont zu sein, nicht zu sehen, wie der Tag sein besiegeltes Ende nimmt, wie die Sonne vom Meer eingesackt wird.
– Erri De Lucca: Fische schließen nie die Augen

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„Jack, ich glaube, das wird nichts“, sagte sie, während sie an ihrem letzten Tag im leuchtenden Orange des Sonnenuntergangs die Einfahrt hinaufgingen.
– Richard Yates: Eine strahlende Zukunft

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Mattrot glomm der Sonnenuntergang hinter der Mühle, dort, wo der durchscheinend grünliche Horizont mit der dunklen Erde verschmolz.
– Iwan Bunin: Der fröhliche Hof

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Eines Tages sagte er: Alexandra. Zeig mir den Sonnenuntergang nie wieder. Ich interessiere mich nicht mehr dafür.
– Grace Paley: Ungeheure Veränderungen in letzter Minute

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Sonnenuntergänge waren jetzt nur noch ersterbendes Licht, nichts sonst, das Ausblenden des glücklichen Zufalls.
– Don DeLillo: Der Omega-Punkt

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… daß das Glück, wie Rosanow gesagt hatte, darin besteht, in der Nase zu bohren, während man den Sonnenuntergang betrachtet.
– Edward St. Aubyn: Am Abgrund

Die bisherigen Spielworte im Überblick:
ménage à trois (1): Bahnhöfe, Fliegen, Lippenstift
ménage à trois (2): Stühle, Socken, Sterne
ménage à trois (3): Telefon, Zähne, Scherben
ménage à trois (4): Zwiebeln, Friedhöfe, Zigaretten
ménage à trois (5): Handtaschen, Kaffee, Stille
ménage à trois (6): Listen, Schnee, Gedanken
ménage à trois (7): Kerzen, Toiletten, Worte
ménage à trois (8): Unterwäsche, Bücher, Suppe

Vier Blicke auf Ingrid Mylos neuesten Gedichtband Überall, wo wir Schatten warfen.
Ingrid Mylo bei uns auf CulturMag.