Wer liest, sammelt Sätze. Manchmal bewußt. Manchmal ist ein einziges Wort ausschlaggebend: hartnäckig taucht es immer wieder auf. Fliege, zum
Beispiel. Oder Mitternacht. Oder Asphalt. In ganz unterschiedlichen Büchern und Zusammenhängen, bei ganz unterschiedlichen Schriftstellern. Solche Fliegensätze oder Mitternachtssätze oder Asphaltsätze finden, immer elf an der Zahl, in der Serie ‚Spielwort‘ ihren Platz. Ein Spaß, ein Zeitvertreib. Und eine andere Art, auf Bücher zu deuten.

Spielwort: Telefon
Elf Zitate zusammengelesen von Ingrid Mylo
Sobald man aus dem Haus ist, klingen alle Telefone gleich.
– Haruki Murakami: Mister Aufziehvogel
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Ein Telefon, das draußen klingelte, veranlaßte ihn, den Blick dorthin zu wenden, von wo das Geräusch kam.
– Sreve Tesich: Abspann
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Normalerweise klingelt das Telefon einfach so, und manchmal erschrickt man, weil man mit einer Sache beschäftigt oder konzentriert ist und nicht mit dem Klingeln rechnet, aber manchmal hört man am Klingeln sofort, daß etwas ungut ist.
– Birgit Vanderbeke: abgehängt
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Ich habe nichts gegen Telepathie, sagte Jane, aber das Telefon ist soviel zuverlässiger.
– Margaret Atwood: Anweisungen für das dritte Auge
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In einer großen Stadt, immerzu Telefone, die klingeln, irgendwo, die ganze Zeit, auch in der Nacht.
– Tor Ulven: Das allgemein Unmenschliche
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Ich hätte ihn gleich um sein Telefon bitten können, schließlich war die Sache ja doch auch dringend, aber es wäre mir unhöflich vorgekommen und deshalb fragte ich den Mann zuerst, wie es ihm gehe.
– Roman Ehrlich: Dinge, die sich im Rahmen meiner temporären Anstellung bei Grinello Clean Solutions ereigneten
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Es gibt ja Leute, die am Telefon nicht funktionieren.
– Wolfgang Herrndorf: In Plüschgewittern
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Ernst Spengler war allein in seinem Dachzimmer, das Fenster bereits geöffnet, und wollte sich gerade hinunterstürzen, als plötzlich das Telefon klingelte.
– Gonçalo M. Tavares: Die Versehrten
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Wie viele Menschen waren wohl in der Lage, im Schlaf ans Telefon zu gehen?
– Peter James: Rigor Mortis
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Ich ging in die Küche, und das Telefon klingelte immer weiter, ich dachte, wenn ich abhob, würde ich bestraft werden, ich war überzeugt, daß es sich um eine Falle handelte, also blieb ich einfach stehen und wartete, ohne mich zu rühren, wartete darauf, daß es aufhörte.
– Madeleine Thien: Flüchtige Seelen
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Braucht man denn wirklich ein Telefon?
– Max Frisch: Aus dem Berliner Journal
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Spielwort: Zähne
Elf Zitate zusammengelesen von Ingrid Mylo
Ist es nicht seltsam, daß wir so etwas Verrücktes wie Zähne im Mund haben, fragt sie und bleckt das Gebiß.
– Angelika Klüssendorf: Jahre später
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Es war wie in einem dieser unerfreulichen Alpträume, in denen man staunend und schaudernd Zähne aus seinem Mund holt.
– F. Scott Fitzgerald: Die Frauen im Haus
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Und dann, die alten Lippen schmal über den falschen Zähnen: „Genau wie in alten Zeiten, nicht?“
– Jo Baker: Ein Ire in Paris
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Die Wahrheit ist nämlich: wenn er den Mund gehalten und die Augen geradeaus gerichtet hätte, wäre ich vielleicht nur wegen dieser hinreißenden Zähne mit ihm ins Bett gehüpft.
– Siri Hustvedt: Damals
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Es machte mich an, jemandem die Faust in die Zähne zu rammen, den ich eben noch angeflirtet hatte.
– Daniel Galera: So enden wir.
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Er hatte weißes Haar, das ihm hinten bis zu den Schultern reichte, und er wollte kein Gebiß tragen, weil er meinte, sein Profil sei markanter ohne Zähne.
– Flannery O’Connor: Eine späte Feindbegegnung
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Er schüttete das Bier nur so in sich hinein, das ihm wegen der nicht vorhandenen Zähne ganz wunderbar in den Rachen floß.
– Varujan Vosganian: Als die Welt ganz war.
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Der Wecker stand auf Evas Seite, bewacht von ihren Zähnen im Wasserglas.
– David Constantine: Die Meerjungfrau
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Sie sollte entspannter sein, da sie nichts mehr wollte, als von meinem Vater und Chile wegzukommen, obwohl sie angeblich dort ist, weil sie ihre Zähne wegen Unterernährung verliert, die von gebrochenem Herzen herrührt, an dem ich schuld bin.
– Lucia Berlin: Welcome Home
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Es gab noch einen wunderbaren Augenblick im Criterion, nämlich als Hughs Zähne herausfielen und an mir vorbeiflogen, so daß das gesamte Publikum es sah.
– Peter Woodthorpe über die britische Premiere von Becketts ‚Waiting for Godot‘
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Später erzählte mir jemand, daß meine Zähne zu einem hohen Preis gehandelt würden, aber ich konnte nicht feststellen, ob das stimmte und ob es ein Rechtsmittel gab, die Zähne, bildlich gesprochen, in den Kiefer zurückzupflanzen, wo sie hingehörten.
– David Albahari: Ludwig
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Spielwort: Scherben
Elf Zitate zusammengelesen von Ingrid Mylo
Ich betrachtete das Glas in meiner Hand und stellte mir vor, es wäre in Hunderte von Scherben zersprungen.
– Daniel Galera: So enden wir
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Als sie die Scherben mit dem Fuß zertrat, erinnerten sie die winzigsten Stückchen an kleine Zähne.
– Madeleine Thien: Sag nicht, wir hätten gar nichts
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Er verteilte die Scherben sehr gleichmäßig über den Boden. Es war ein sorgfältiger Vorgang, bei dem er keinen Moment die Beherrschung verlor.
– Jon McGregor: Speicher 13
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Dann läuft er rasch zu dem Kind, hebt eine Scherbe auf und schabt ihm damit den Po sauber.
– Anna Enquist: Denn es will Abend werden
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Thomas tanzte wie ein Spürhund; er setzte einen Fuß vor den anderen beim Tanzen, so als ginge er auf Scherben, als müsse er aufpassen, daß er seine Ideen nicht zertritt.
– Hilmar Klute: Was dann nachher so schön fliegt
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Meine Mutter konnte in Menschen hineinsehen und zerbrochenes Glas sehen: sie sah Scherben und die Flaschen voller Tränen.
– Jennifer Clement: Gun Love
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Ihre Körperhaltung war die eines Menschen, der Scherben aufkehren muß und darüber untröstlich ist.
– Clemens S. Setz: Südliches Lazarettfeld
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Jemand hatte mir mal erzählt, in Nelkenzigaretten befänden sich kleine Glasstückchen, und ich stellte mir immer vor, wie in meinen verrußten Lungenflügeln Scherben glitzerten.
– Leslie Jamison: Die Klarheit
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Nehmen Sie sich vor den Scherben in acht, sagt er.
– Amy Bloom: Meine Zeit mit Eleanor
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Wenn die Reihe an mir ist, werde ich wahrscheinlich meine Brille zerschlagen und mir mit einer Scherbe die Pulsadern aufschlitzen.
– David Sedaris: Hier stehe ich
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Und wohin ich auch schaute, sah ich die Wahrheit in einem Haufen Scherben.
– Jacqueline Woodson: Ein anderes Brooklyn
Hier ménage à trois (1): Bahnhöfe, Fliegen, Lippenstift
ménage à trois (2): Stühle, Socken, Sterne
Vier Blicke auf Ingrid Mylos Gedichtband „Überall, wo wir Schatten warfen„
Ingrid Mylo bei uns auf CulturMag.