Geschrieben am 1. Februar 2022 von für Crimemag, CrimeMag Februar 2022

Ingrid Mylo: 3 x 11 Spielworte (6): Listen, Schnee, Gedanken

Wer liest, sammelt Sätze. Manchmal bewußt. Manchmal ist ein einziges Wort ausschlaggebend: hartnäckig taucht es immer wieder auf. Fliege, zum Beispiel. Oder Mitternacht. Oder Asphalt. In ganz unterschiedlichen Büchern und Zusammenhängen, bei ganz unterschiedlichen Schriftstellern. Solche Fliegensätze oder Mitternachtssätze oder Asphaltsätze finden, immer elf an der Zahl, in der Serie ‚Spielwort‘ ihren Platz. Ein Spaß, ein Zeitvertreib. Und eine andere Art, auf Bücher zu deuten.

Spielwort: Listen

Elf Zitate zusammengelesen von Ingrid Mylo


„Kannst du mir eine Liste machen, wenn du ungefähr weißt, was du willst?“
– Marie-Sabine Roger: Das Leben ist ein listiger Kater

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Also habe ich eine Liste aller Dinge zusammengestellt, die ich nicht mag, die ich nicht machen will und die andere nicht machen sollen.
– Haruki Murakami: Die Pilgerjahre des farblosen Herrn Tazuki

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Es war eine Liste mit den Alte-Männer-Sachen, die er zum Leben brauchte. Die Liste sah folgendermaßen aus: Campbells Tomatensuppe. Hackfleisch. Würstchen. Bonbons. Folgers Pulverkaffee. Nudeln. Falsche Butter. Kekse. Kartoffeln. Elf Krispies. Vollmilch. Toastbrot. Schwarze Lakritze.
– Chuck Klosterman: Nachteulen

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So viele Listen werdeen beständig länger und machen einen traurig.
– David Markson: Wittgensteins Mätresse

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Ich erkenne Wert, ich verleihe Wert, ich schaffe Wert, ja ich schaffe sogar – oder gewährleiste – Existenz. Daher mein Drang, „Listen“ aufzusetzen.
– Susan Sontag: Ich schreibe, um herauszufinden, was ich denke

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Man sollte keine Bücher schreiben ohne Listen drin.
– Wolfgang Herrndorf: Arbeit und Struktur

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Zurück im Haus, erstellte ich eine Liste mit allem, was ich schon immer hatte tun wollen, aber nicht getan hatte, weil die Gesellschaft darüber die Nase rümpfte.
– David Sedaris: Ich bremse für die traditionelle Ehe

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Eine Tollkirsche wuchs auf der Seite des Eingangs, wo zwei parallele Listen von Jungen- und Mädchennamen gekritzelt standen, die alle bis auf die letzten durchgestrichen waren.
– Charles Chadwick: Die Frau, die zu viel liebte

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Listen werden gewissenhaft abgearbeitet.
– Column McCann: Transatlantik

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Jetzt stehe ich nur noch aus einem einzigen Grund früh auf: es erwartet mich ein weiterer Tag mit einer Liste zu erledigender Dinge, die ich am Abend vorher zusammengestellt habe.
– Layla Shah: Die Welt ist kälter ohne dich

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Am Anfang war die Liste.
– Georgi Gospodinov: Physik der Schwermut

Spielwort: Schnee

Elf Zitate zusammengelesen von Ingrid Mylo

Der Schnee war über Nacht gekommen, unbemerkt, wie wenn alte, einsame Frauen sterben.

– Remco Campert: Die Katze, die weglief

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Der Schnee fiel jetzt dicht und in großen Flocken; alles war von einer so betäubenden Stille, daß ich mich räuspern wollte, um mir zu beweisen, daß ich noch da war, doch blieb ich still, aus Ehrfurcht vor der Welt, die mich mit schmerzendem Weiß absorbierte.

– Stefan Beuse: Alles was du siehst

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Es lag Schnee, und im Schnee waren die suchenden hechelnden Hunde, die man vom Auto aus sehen konnte, unheimlich.

– Cees Nootebooom: Berliner Notizen

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Besonders dramatisch wirken immer Blutspuren im Schnee.

– Lars Gustafsson: Alles, was man braucht

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Man sieht die Erde nicht

und nicht den Himmel.

Aber der Schnee fällt weiter.

– Hashin

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Der Gondoliere sang von der Sonne, während er sich den Schnee aus den Augen wischen mußte.

– Cees Nooteboom: Venezianische Vignetten

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Der Schnee funkelte luziferisch. Die Versuchung nimmt immer die Form des Schönen an.

– Andrzej Stasiuk: Die Welt hinter Dukla

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Ich sah dem Paar eine oder zwei Minuten lang zu und schaltete auf den nächsten Kanal um, der nur Schnee zeigte, solange man nicht dafür bezahlte.

– David Sedaris: Sachte, Tiger

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„Also dieser Schnee“, murmelte er, als er sich ein paar Flocken von der Schulter wischte. „Man könnte denken, wir sind in Chamonix.“

– Patrick Leigh Fermor: Die Violinen von Saint-Jacques

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Der Schnee am Äquator – dieser eingefrorene Mondschein, dieses Salz, dieser Nebelschleier – zerschmilzt und strömt dann nach den Gesetzen der Schwerkraft mehr als sechstausend Kilometer weit durch Dschungel, Sümpfe, Wüsten; er schwellt den Nil und färbt seine brennenden Ufer leuchtend grün.

– Anne Michels: Wintergewölbe

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„Sieht nach Schnee aus“, sagte jemand im Scherz.

– Annie Proulx: Ein Haus in der Wildnis

Spielwort: Gedanken

Elf Zitate zusammengelesen von Ingrid Mylo

Unlängst, als ich meine Arbeit unterbrach, um ins Badezimmer zu gehen und in den Spiegel zu schauen, kam mir ein dummer Gedanke.

– Lydia Davis: Das Ende der Geschichte

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Vielleicht wäre das gar nicht so übel – meinen Griff zu lockern und alles der Schwerkraft und dem Schicksal zu überlassen – wie ein Gedanke, der so gut ist, daß man nicht aufhören kann, darin zu schwelgen.

– Nina Riggs: Die helle Stunde

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Nein, erwiderten seine Gedanken, nichts beginnt einfach so an einem bestimmten Datum und einem bestimmten Ort.

– Julian Barnes: Der Lärm der Zeit

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Dann stellte ich fest, daß ich mit meinen Gedanken nicht weitergekommen war, obwohl meine Uhr drei Uhr morgens anzeigte.

– Jane Gardam: Lunch mit Ruth Sykes

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Nachtgedichte, Nachtgebete, ließ die Gedanken gleiten, als wären sie Gefährten, die durch seine Nacht zogen, ihm zunickten; dann und wann erhaschte er einen, hielt ihn wie einen gefangenen Schmetterling in der geschlossenen Hand.

– Urs Faes: Halt auf Verlangen

Die Parteipropaganda vernebelte ihre Gedanken, panierte sie mit einem dicken Teig des Schwachsinns.

– Madeleine Thien: Sag nicht, wir hätten gar nichts

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„Schau doch nur, meine Liebe“, rief er etwa aus, „du hast meine Hose in die Speisekammer getan! Wo warst du denn wieder mit deinen Gedanken?“

– John Banville: Die blaue Gitarre

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Gordon war überrascht über die unerwünschten Gedanken, die sich seiner bemächtigten. Er würde ihnen nicht nachgeben, war aber besorgt, daß sie überhaupt aufgetaucht waren.

– Jon McGregor: Speicher 13

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Menschen, die von einer Pistolenkugel getroffen worden sind, können noch ganz vernünftige Gedanken haben, obwohl sie literweise Blut verlieren.

– Antti Tuomainen: Die letzten Meter bis zum Friedhof

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Ihre Gedanken flatterten hin und her wie die Kerzenflamme auf dem Tisch, und urplötzlich ging ihr ein Licht auf: das hier war das schöne Leben.

– Kirstín Marja Baldursdóttir: Hinter fremden Türen

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Am nächsten Morgen sind die Gedanken weg. Sie kommen in ein paar Tagen wieder, aber nun sind sie weg.

– Luc Bondy: Am Fenster

Die bisherigen Spielworte im Überblick:
ménage à trois (1): Bahnhöfe, Fliegen, Lippenstift
ménage à trois (2): Stühle, Socken, Sterne
ménage à trois (3): Telefon, Zähne, Scherben
ménage à trois (4): Zwiebeln, Friedhöfe, Zigaretten
ménage à trois (5): Handtaschen, Kaffee, Stille

Vier Blicke auf Ingrid Mylos neuesten Gedichtband „Überall, wo wir Schatten warfen
Ingrid Mylo bei uns auf CulturMag.

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