Wer liest, sammelt Sätze. Manchmal bewußt. Manchmal ist ein einziges Wort ausschlaggebend: hartnäckig taucht es immer wieder auf. Fliege, zum Beispiel. Oder Mitternacht. Oder Asphalt. In ganz unterschiedlichen Büchern und Zusammenhängen, bei ganz unterschiedlichen Schriftstellern. Solche Fliegensätze oder Mitternachtssätze oder Asphaltsätze finden, immer elf an der Zahl, in der Serie ‚Spielwort‘ ihren Platz. Ein Spaß, ein Zeitvertreib. Und eine andere Art, auf Bücher zu deuten.

Spielwort: Kerzen
Elf Zitate zusammengelesen von Ingrid Mylo
Sie zündete die Kerzen an und trat einen Schritt zurück, neigte den Kopf zur Seite und musterte das Ergebnis.
– Karin Fossum: Eine undankbare Frau
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Wahrhaftig, selbst an dem hellblauen Stearin und an den Kerzen kann man sich erfreuen!
– Iwan Bunin: Ohne Titel
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Es kann nur noch Tage oder Stunden dauern, bis die Temperatur auf diesem Planeten bei minus 273 Grad angekommen ist, da helfen Kerzen jetzt auch nicht weiter.
– Wolfgang Herrndorf: Arbeit und Struktur
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Er hat es geschafft, daß ich dahinschmelze wie eine Kerze, keinen Löffel kann ich mehr halten, so zittern mir die Hände.
– Iwan Bunin: Ein gutes Leben
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Eine Kerze in einer Kaffeedose kann deine Probleme nicht lösen.
– Chuck Klosterman: Nachteulen
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Nein, ich will nicht in einem Raum voller Kerzen von Satanisten rituell gedemütigt werden.
– Scott Bradfield: Die Leute, die sie vorübergehen sahen
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Darauf die Nonne: „Meine Güte, was die heutzutage alles auf die Kerzen schmieren.“
– David Sedaris: Kommt ein Mann in einen Barwagen
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Nein, wir waren nie länger zusammen, als es dauerte, daß eine Kerze herunterbrennt.
– Håkan Nesser: Himmel über London
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Da die Kerze schon einmal gebrannt hatte, war der Docht sehr gerade und hart, und sein Ende bröselte ein wenig, als mein Finger drankam.
– Nicholson Baker: Eine Schachtel Streichhölzer
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Nachdem die Jugendlichen angefangen hatten, dort auch nachts zu sitzen, Hand in Hand in einem Kreis brennender Kerzen, sah sich der Sheriff gezwungen, eine Warnung herauszugeben.
– Lars Saabye Christensen: Der Sommer, in dem meine Mutter zum Mond fliegen wollte
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Ich zog die Kette einer nackten Glühbirne über dem Waschbecken:“Heute abend keine Kerzen mehr.“
– Charles D’Ambrosio: Der Drehbuchautor
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Spielwort: Toiletten
Elf Zitate zusammengelesen von Ingrid Mylo
Zu den Mahlzeiten trank ich Tee, was mich zu einer anderen, in Japan großartigen Sache bringt – den Toiletten.
– David Sedaris: Nr. 2 zum Mitnehmen
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Und das Schönste war, daß die Toilette bltzsauber und sogar mit einem kleinen Strauß Iris geschmückt war – aus Plastik, aber der gute Wille zählt.
– Douglas Coupland: Eleanor Rigby
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Ich bin ja keine von diesen Leuten mit Putzfimmel, von denen man hört, aber eine Pflanze, die aus der Toilette wächst, das ist zuviel.
– Scott Bradfield: Die Leute, die sie vorübergehen sahen
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Eine von der Arbeit klagte darüber, daß ihr Mann auf der Toilette so schlecht ziele, und eine andere sagte, ihr Mann setze sich hin, und zwar schon immer, und das hatte mich beeindruckt.
Nicholson Baker: Eine Schachtel Streichhölzer
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Warum ist es nicht möglich, eine Toilette zu konstruieren, auf der man pissen kann, ohne klatschnasse Schuhe zu bekommen?
– Lars Saabye Christensen: Der Sommer, in dem meine Mutter zum Mond fliegen wollte
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1950 hatte ich einmal eine Nacht in dieser Toilette verbracht. Man hatte ein Feldbett neben dem Becken aufgestellt und ein Schild an die Tür gehängt, auf das gekritzelt war, die Toilette sei außer Betrieb, was allerdings einen steten Strom französischer Touristen nicht daran hinderte, die ganze Nacht hindurch empört an die Tür zu hämmern.
– Paul Bowles: Das Rif, mit Musikbegleitung
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Normalerweise haßt Ujine Mitleid. Doch hier, in der Einsamkeit der Bahnhofstoiletten, tut ihr das gut.
– J. M. G. Le Clézio: Die Geschichte vom Fuß
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Viele Menschen geben freimütig zu, daß sie auf der Toilette gute Ideen haben oder tiefschürfende Einsichten und Einblicke gewinnen.
– Morna E. Gregory: Stille Örtchen
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(…) – ihre Mutter hatte ihr verboten, die Schultoilette zu benutzen, weil sie fürchtete, sie könne sich dort eine nicht näher definierte Krankheit holen – (…)
– Margaret Atwood: Horror-Comics
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Als ich zwei Nächte später auf Toilette gehe, ergreift mich Schwindel, und ich falle um.
– Wolfgang Herrndorf: Arbeit und Struktur
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Ich sagte, ich müsse zur Toilette, doch das war bloß ein Ablenkungsmanöver, und kurze Zeit später war ich zur Tür hinaus und saß in einem Bus zum Western Hospital.
– Lisa O’Donnell: Bienensterben

Spielwort: Worte
Elf Zitate zusammengelesen von Ingrid Mylo
Oft habe ich etwas gesagt, und einmal ausgesprochen, üben Worte auch ihre Wirkung aus.
– Samantha Schweblin: Es passiert immer wieder in diesem Haus
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Kaum gibt man April eine Handvoll guter Worte, liegt sie wie ein Käfer auf dem Rücken und strampelt mit den Beinchen.
– Angelika Klüssendorf: Jahre später
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Oder vielleicht glaubte sie auch wie die alten Chinesen, daß auf Papier geschriebene Worte Talismane waren, die uns irgendwie vor Unglück schützten.
– Madeleine Thien: Sag nicht, wir hätten gar nichts
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Während ein Wort im Äußeren nur ein Wort ist, das zur Erde fällt und verschwindet, kann ein Wort im Inneren zu etwas Gigantischem anwachsen und sich dort viele Jahre halten.
– Karl Ove Knausgård: Brief an eine ungeborene Tochter
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„Aber die schönste Arbeit ist für mich, mit meinen Listen herumzumachen und zu gucken: wo paßt dieses Wort hin, wo paßt jenes hin?“
– Frank Schulz in einem Interview mit Frank Schäfer in ‚Homestories‘
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Er fragte sich, ob es dafür auch ein Wort in einer anderen Sprache gab: ein Wort für das Gefühl, ein Kotelett zu essen, während einem seine Mutter nackt auf einem Quilt gegenübersaß.
– Callan Wink: Lichtköstler
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Die Worte, die er spricht, flirren im Raum, in der Schwebe, lösen sich voneinander, verpuffen als Buchstaben.
– Jan Costin Wagner: Sakoni lernt, durch Wände zu gehen
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Es ist kaum anzunehmen, daß es in unserer Zeit möglich sein sollte, geschriebene Worte in Archiven zu begraben, so wie man Atommüll in tief in die Berge gebohrten Löchern begräbt.
– Henning Mankell: Die Mangopflanze
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Wenn bloß die Worte nicht alles unglaubwürdig machten, als Schwindel erscheinen ließen…
– Norman Manea: Oktober, acht Uhr
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Mein Leben hatte bis dahin keinerlei Bedeutung gehabt, ich hatte nichts, was ich hätte hinterlassen können, wie seltsam, das Wort zu suchen, das dir das Leben erklären soll, und es nicht zu finden.
– Varujan Vosganian: Jacob, Sohn des Zevedei
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Und du wehrst dich mit Worten gegen das Entschwinden deines Lebens, als könntest du aufhalten, was sich verlieren will.
– Urs Faes: Halt auf Verlangen
Die bisherigen Spielworte im Überblick:
ménage à trois (1): Bahnhöfe, Fliegen, Lippenstift
ménage à trois (2): Stühle, Socken, Sterne
ménage à trois (3): Telefon, Zähne, Scherben
ménage à trois (4): Zwiebeln, Friedhöfe, Zigaretten
ménage à trois (5): Handtaschen, Kaffee, Stille
ménage à trois (6): Listen, Schnee, Gedanken
Vier Blicke auf Ingrid Mylos neuesten Gedichtband Überall, wo wir Schatten warfen.
Ingrid Mylo bei uns auf CulturMag.