Geschrieben am 1. Februar 2023 von für Crimemag, CrimeMag Februar 2023

Ohren, Handschuhe, Tod: Ingrid Mylos 3 x 11 Spielworte (16)

Wer liest, sammelt Sätze. Manchmal bewußt. Manchmal ist ein einziges Wort ausschlaggebend: hartnäckig taucht es immer wieder auf. Fliege, zum Beispiel. Oder Mitternacht. Oder Asphalt. In ganz unterschiedlichen Büchern und Zusammenhängen, bei ganz unterschiedlichen Schriftstellern. Solche Fliegensätze oder Mitternachtssätze oder Asphaltsätze finden, immer elf an der Zahl, in der Serie ‚Spielwort‘ ihren Platz. Ein Spaß, ein Zeitvertreib. Und eine andere Art, auf Bücher zu deuten.

Spielwort: Ohren

Elf Zitate zusammengelesen von Ingrid Mylo


            Nun aber begriff er den eklatanten Unterschied zwischen einem Ohr, das allein dazu bestimmt war, bedeutsame Dinge zu vernehmen, und einem gewöhnlichen Ohr, das sich um so etwas nicht scherte.
– Yoko Ogawa: Der Herr der kleinen Vögel

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            (…), und ich halte Ines fest und flüstere ihr etwas ins Ohr, solange ich noch flüstern kann und solange sie noch ein Ohr hat.
– Wolfgang Herrndorf: In Plüschgewittern

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            Jeden Moment erwarte ich, schnipp, schnapp, daß das Ohr davonfliegt und ein warmes Rinnsal Blut meinen Rücken hinunterkriecht.
– Georgi Gospodinov: Vor dem Hotel „Bulgaria“

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            Er hatte fast gar keinen Akzent, aber ihm fehlte ein halbes Ohr.
– Håkan Nesser: Himmel über London

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            Das halbe Ohr arbeitet oft so viel feiner.
– Margriet de Moor: Mélodie d’amour

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            Sie steckte die Spritze in mein Ohr, und die bernsteinfarbene Flüssigkeit Schoß hinein wie eine Herde Zebras, während das, was aus meinem Ohr wieder herausfloß, von dem Megaphon aufgefangen wurde.
– Haruki Murakami: Pinball 1973

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            Das zumindest war zuverlässig wahr: Der Chauffeur hatte ein Ohr.
– Julian Barnes: Der Lärm der Zeit

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            Bonnie sah sein großes weißes Ohr an, für sie sah es aus wie eine schöne Muschel, und wenn sie ihr Ohr an seins legte, würde sie das Rauschen seines langen Lebens hören.
– Karin Fossum: Höllenrose

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            Dann forderte er mich auf, seine Ohren anzufassen, als ob sein Kopf ein Lenkrad wäre.
– Kamel Daoud: Der Fall Meursault – Eine Gegendarstellung

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            Aller Wahrscheinlichkeit nach erzählte er jetzt wieder, was es mit der Zigarette hinter dem Ohr auf sich hatte, seit er mit dem Rauchen aufgehört hatte.
– Jo Nesbø: Blood on Snow – Der Auftrag

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            Ich muß schon sagen, wenn sich Dunkelheit auf die Erde senkt und große Dunkelheit über die Menschen, werde ich an euch beide denken: zwei Mädchen mit guten Ohren.
– Grace Paley: Faith im Baum

Spielwort: Tod

Elf Zitate zusammengelesen von Ingrid Mylo


            (…), und der Tod ist mir so vertraut wie ein Muttermal, das ich seit meiner Geburt trage.
– Jung Young Moon: Vaseline-Buddha

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            Wirklich schön, mit so einem jungen Mann, mit dem man nichts zu schaffen hat, einen so durch und durch traurigen Blick ob der Existenz des Todes zu wechseln.
– Margriet de Moor: Mélodie d’amour

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            Es fällt manchmal leichter, bestimmte Dinge Fremden zu erzählen – vor allem, wenn das Ende naht; in den Herzen von Passanten wirft der Tod keinen Schatten.
– Yiyun Li: Schöner als die Einsamkeit

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            Sie wußten, daß auch sie selbst einmal sterben würden, aber das machte ihnen nichts aus, weil sie für sich mit einem normalen Tod rechneten.
– William Saroyan: Tracys Tiger

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            Semmelweis wußte nicht, wie der Tod vom Leichenschauhaus zur Entbindungsstation gelangte, aber er hatte eine Idee, wie er das verhindern konnte.
– Alanna Coleen: Die stille Macht der Mikroben

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            Tag für Tag überwinden wir den Tod, und er selbst überwindet uns nur ein einziges Mal. So gesehen ist das Leben eine Weise, den Tod mit dem höchstmöglichen Ergebnis zu schlagen.
– Varujan Vosganian: Das Spiel der hundert Blätter

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            Bernhard dagegen nörgelte dauernd, sie solle nicht soviel Zicken machen und endlich die Bluse ausziehen, der Tod sei für die Toten.
– Helmut Krausser: Neues vom Norbert

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            Als ich klein war, glaubte ich, der Tod war das, wohin die Körper von den tiefen, verborgenen Teilen der Menschen, die man „Seelen“ nennt, geschickt wurden, um wie Mäntel gewechselt zu werden.
– Eli Gottlieb: Best Boy

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            Der alte Henry James hielt den Tod für ein „bedeutsames“ Ereignis. Ich bin mir sicher, das ist er nicht.
– Richard Ford: Frank

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            Der Tod bleibt einfach ein bißchen da, während du darauf wartest, daß es Nacht wird, und dann darauf wartest, daß es Morgen wird.
– Lucia Berlin: Einen Augenblick noch

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            Darum müssen wir weiter schreiben, erzählen, Verse und Flüche murmeln und so für eine Weile den Tod auf Abstand halten.
– Jón Kalman Stefánsson: Fische haben keine Beine

Spielwort: Handschuhe

Elf Zitate zusammengelesen von Ingrid Mylo

            Johanna trennt die Finger eines Handschuhs ab, um sie anschließend mit einem Wollfaden wieder anzunähen. Das nennt man Fingerretten, sagt sie lachend.

– Gonçalo M. Tavares: Die Versehrten

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            Strategien? dachte sie, während sie sich die abwaschbaren Handschuhe überstreifte.

– Håkan Nesser: Himmel über London

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            Der Mann legte die Handschuhe auf eine Werkbank. Sie sahen aus wie gebrauchte Kondome.

– Jo Nesbø: Der Sohn

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            Ich streifte Handschuhe über und untersuchte das verwüstete und gespenstisch blasse Fleisch.

– Kathy Reichs: Totengeld

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            Ich empfand es als ausgesprochen erotisch, daß sie Handschuhe trug; immer wieder sah ich vor mir, wie sie sich damit über die entblößte Brust strich.

– Paul Theroux: Der Fremde im Palazzo D’Oro

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            Wenn man sie in ihrem Blumenbeet sah, die Gartenhandschuhe über den Bund ihrer Hose hängend, als versuchte sich jemand von innen daran hochzuziehen, mußte man sich einfach wünschen, sie wäre die eigene Mutter.

– David Sedaris: Meeresschildkröten

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            „Stört es dich, nur vier Finger zu haben?“ – „Ja, wenn ich Handschuhe anziehe.“

– Haruki Murakami: Wenn der Wind singt

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            Er sieht, wie zwei der albernen Ärzte im Operationssaal versuchen, sich gegenseitig mit einem Latexhandschuh ins Gesicht zu schlagen.

– Roman Ehrlich: Die Intelligenz der Pflanzen (Naturtreue) Erster Teil

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            Als sie ihren Handschuh fallen läßt, bücke ich mich danach und berühre beim Aufstehen ihre Hand. Der Mann an ihrer Seite redet weiter. Er weiß nicht, daß er sie gerade verloren hat.

– Joel Haahtela: Sehnsucht nach Elena

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            Dann sagt er, daß deine Hand schwitzt und einen See in seiner Tasche hinterläßt, und reicht dir seine Handschuhe.

– Katherine Heiny: Wie man den falschen Eindruck vermittelt

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            „Er war wieder hier“, sagte Britt. „Wir glauben, daß er zurückkommt, er hat nämlich seine Handschuhe vergessen.“

– Karin Fossum: Eine undankbare Frau

Die bisherigen Spielworte im Überblick:
ménage à trois (1): Bahnhöfe, Fliegen, Lippenstift
ménage à trois (2): Stühle, Socken, Sterne
ménage à trois (3): Telefon, Zähne, Scherben
ménage à trois (4): Zwiebeln, Friedhöfe, Zigaretten
ménage à trois (5): Handtaschen, Kaffee, Stille
ménage à trois (6): Listen, Schnee, Gedanken
ménage à trois (7): Kerzen, Toiletten, Worte
ménage à trois (8): Unterwäsche, Bücher, Suppe
ménage à trois (9): Steine, Schritte, Sonnenuntergänge
ménage à trois (10): Masken, Gespenster, Koffer
ménage à trois (11): Briefe, Fische, Gesten
ménage à trois (12): Listen II, Katzen, Schatten
ménage à trois (13): Spinnen, Universum, Narben
ménage à trois (14): Mäntel, Hunde, Uhren
ménage à trois (15): Knöpfe, Leben, Glas

Vier Blicke auf Ingrid Mylos neuesten Gedichtband Überall, wo wir Schatten warfen.
Ingrid Mylo bei uns auf CulturMag.
Gerade von ihr erschienen: Katherine Mansfield / Ingrid Mylo: Alles, was ich schreibe – alles, was ich bin, Texte einer Unbeugsamen (Marix Verlag). Besprechung von Alf Mayer hier.

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