Wer liest, sammelt Sätze. Manchmal bewußt. Manchmal ist ein einziges Wort ausschlaggebend: hartnäckig taucht es immer wieder auf. Fliege, zum Beispiel. Oder Mitternacht. Oder Asphalt. In ganz unterschiedlichen Büchern und Zusammenhängen, bei ganz unterschiedlichen Schriftstellern. Solche Fliegensätze oder Mitternachtssätze oder Asphaltsätze finden, immer elf an der Zahl, in der Serie ‚Spielwort‘ ihren Platz. Ein Spaß, ein Zeitvertreib. Und eine andere Art, auf Bücher zu deuten.
Spielwort: Briefe

Elf Zitate zusammengelesen von Ingrid Mylo
Im Briefkasten lagen ein paar Briefe wie Eier in einem Nest.
– Josh Weil: Das neue Tal
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Ich schrieb einen Brief an meine Frau und überlegte dann, ob ich ihn abschicken oder zerreißen oder ein paar Tage warten und ihn dann neu schreiben und abschicken oder zerreißen sollte.
– Don DeLillo: Der Omega-Punkt
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Die unbeantworteten Briefe türmen sich übereinander wie Zirrostratuswolken, die schlechtes Wetter verheißen.
– Tomas Tranströmer: Answers to Letters
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Alles geschieht mittels Briefen, sodaß er nie dein neues Vorstadthaus zu Gesicht bekommt und du nie die Radkappe siehst, in der seine Familie das Wasser kocht.
– David Sedaris: Eine Freundin aus dem Ghetto
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Ich fragte mich, was sie mit so konzentriertem, fast besorgtem Ausdruck las. Wer schickte ihr diesen Brief?
– Joel Haahtela: Die Liebenden von Helsinki
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Auf meinem Schreibtisch lagen Briefe von zwei professionellen Betrügern, die die gegen sie erhobenen Vorwürfe abstritten.
– Ethan Coen: Falltür ins Paradies
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Waren die Briefe tatsächlich per Post geschickt worden oder wurden sie einfach unter der Tür durchgeschoben?
– Adam Ross: Wie es weitergeht
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Nur eine Sache will ich dir zur Last legen: du hättest auf den Brief antworten sollen, den du ein halbes Jahr später bekommen hast, hättest du das getan, müßten wir uns nicht auf diese Art wiedertreffen.
– Håkan Nesser: Himmel über London
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Wahrscheinlich schläft sie jetzt gerade oder beantwortet Briefe.
– Scott Bradfield: Die Leute, die sie vorübergehen sahen
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In seiner Tasche steckte ein Brief für seine Frau, doch die Tinte war verlaufen und die Schrift nicht mehr zu entziffern.
– Joel Haahtela: Sehnsucht nach Elena
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„Was glaubst du, was wohl in dem Brief stand, der nicht angekommen ist?“
– Lars Saabye Christensen: Der Sommer, in dem meine Mutter zum Mond fliegen wollte

Spielwort: Fische
Elf Zitate zusammengelesen von Ingrid Mylo
Warum, weiß ich nicht, aber noch heute habe ich Angst, plötzlich Fische im Gras liegen zu sehen.
– Ela Angerer: Bis ich 21 war
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– aber abgesehen davon, daß er jede Menge Fisch zu kochen pflegte, hat er doch lieber ziemlich oft schallend losgelacht.
– Grace Paley: Der Geschichtenhörer
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Der Fisch sieht nicht verlockend aus, und sie bezweifelt, daß er warm ist.
– Anita Shreve: Das Echo der verlorenen Dinge
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Dieser Fisch war einfach der blaue sprachlose Fisch aus der Werbung, ein Maskottchen, das für die Produkte aus dem Kombinat Hochseefischerei salutierte.
– Durs Grünbein: Die Jahre im Zoo
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…, oder die Gedanken, die mir plötzlich in den Sinn kommen, wenn ich im Restaurant vor mir auf dem Teller den Körper eines toten Fischs liegen sehe.
– Jung Young Moon: Vaseline-Buddha
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Bei mir daheim esse ich nur dann Fisch, wenn außer mir niemand im Haus ist – wegen des starken Geruchs.
– Lydia Davis: Alleine Fisch essen
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„Hier riecht es doch nicht nach Fisch“, sagte er.
– Haruki Murakami: Pinball 1973
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Er lächelt, steckt den Fisch in meine Tasche, sagt: „Für dich, für dich. Ich mag dich doch.“
– Jan Costin Wagner: Nachtfahrt
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Auf den Fotos sieht man nicht, daß der Fisch verkocht war.
– Grégoire Delacourt: Wir sahen nur das Glück
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„Die Hand, die du gibst, darf kein toter Fisch sein“, sagte er immer.
– Paul Harding: Verlust
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Unlogischerweise kommen Fische in meinem Denken nicht vor.
– Lily Brett: Ein Ziel

Spielwort: Gesten
Elf Zitate zusammengelesen von Ingrid Mylo
Eines Sonntagnachmittags hatte sie ihn zum Brunch zu sich nach Hause eingeladen – eine von den vielen großzügigen Gesten, die Thane in argwöhnischen Momenten inzwischen für Teil eines abgekarteten Spiels hielt.
– Adam Ross: Wie es weitergeht
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Abgesehen von unserer elementarsten Verständigung – (…) – bestanden unsere Gespräche weitgehend darin, daß ich durch Gesten etwas umschrieb, was ich nicht ausdrücken konnte, dann zu erraten versuchte, was auch immer sie an Gemeintem erriet, und mit entsprechenden Gesten darauf antwortete.
– Ben Lerner: Abschied von Atocha
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Er saß auf dem Bett, die Hand zu einer Geste erhoben, die ich nicht entschlüsseln konnte.
– Don DeLillo: Der Omega-Punkt
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Ich stürmte mit dramatischer Geste aus dem Zimmer und dachte: Habe ich gerade abgelehnt, meine Mutter zu heiraten?
– David Sedaris: Eine Freundin aus dem Ghetto
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Und auch sie machte eine weit ausholende Geste, als wollte sie einen Schatten wegwischen.
– Charles Chadwick: Die Frau, die zu viel fühlte
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Er breitete die Hände aus, kantige, schwielige, schmerzende Hände, und schloß sie wieder mit einer Geste, als wolle er eine unsichtbare Realität festhalten.
– Jon Dos Passos: Orient-Express
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– der politische Fehler der Neuen Linken (ca 1967) war, zu denken, man könne Gesten (Stile, Kleider, Gewohnheiten) erfinden, die die Leute wirklich entzweien würden.
– Susan Sontag: Ich schreibe, um herauszufinden, was ich denke
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Jedenfalls konnte er offensichtlich nicht mehr an sich halten und machte die von Jaulen begleitete Geste für Geschlechtssverkehr genau in das Gesicht von Rabbi Jacobson.
– Ethan Coen: Das alte Land
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Es war eine unglaublich alberne Geste, trotz der Umstände konnte ich das selbst registrieren, und das tat sie wahrscheinlich auch, denn ein kurzes Lächeln huschte über ihr verwundertes Gesicht.
– Håkan Nesser: Himmel über London
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Meine Gesten hingen mir noch an, lange nachdem ich sie vollführt hatte. Ich war sicher, Spuren in der Luft zu hinterlassen.
– Adrzej Stasiuk: Die Welt hinter Dukla
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Und wo eine ausgestreckte Hand keine Geste mehr ist, sondern ein Moment der Liebe, der bis in den Schlaf hinein dauert, bis zum Erwachen, bis in den Alltag.
– Kim Thúy: Der Klang der Fremde

Die bisherigen Spielworte im Überblick:
ménage à trois (1): Bahnhöfe, Fliegen, Lippenstift
ménage à trois (2): Stühle, Socken, Sterne
ménage à trois (3): Telefon, Zähne, Scherben
ménage à trois (4): Zwiebeln, Friedhöfe, Zigaretten
ménage à trois (5): Handtaschen, Kaffee, Stille
ménage à trois (6): Listen, Schnee, Gedanken
ménage à trois (7): Kerzen, Toiletten, Worte
ménage à trois (8): Unterwäsche, Bücher, Suppe
ménage à trois (9): Steine, Schritte, Sonnenuntergänge
ménage à trois (10): Masken, Gespenster, Koffer
Vier Blicke auf Ingrid Mylos neuesten Gedichtband Überall, wo wir Schatten warfen.
Ingrid Mylo bei uns auf CulturMag.