Geschrieben am 3. Juli 2024 von für Crimemag, CrimeMag Juli 2024, News

Ulrich Noller: Gnade und Kriminalliteratur. Nachdenken über ein Genre

Lucas Cranach der Ältere (1472 – 1553): Allegorie auf Gesetz und Gnade – Germanisches Nationalmuseum Nürnberg @ wiki-commons

Narrativ der Gnade

Die Krimikultur als Erzählform der gnadenlosen Gesellschaft

von Ulrich Noller

Mit freundlicher Genehmigung von Autor und Verlag – entnommen aus dem jetzt im Juni erschienenen Band:

Konrad Heiland (Hg.): Gesellschaft ohne Gnade. Psychoanalytische, philosophische und soziologische Perspektiven. Buchreihe: Forum Psychosozial. Psychosozial-Verlag, Gießen 2024. 255 Seiten, Broschur, 32,90 Euro. – Verlagsinformationen hier.

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Um es direkt auf den Punkt zu bringen: Der Krimi war und ist schon einmal für mich persönlich, ganz subjektiv: eine Gnade. Das begann 1989, und zwar mit dem Roman Königin Zabos Sündenbock von Daniel Pennac. Ich war damals ein ziellos verirrter Literaturstudent, der leidenschaftlich gern las, dabei aber verzweifelte, weil er in der Literatur, speziell in der zeitgenössischen deutschsprachigen Literatur, nicht das fand, was er suchte – das Leben.

Kriminalliteratur hatte ich schon als Teenager gelesen; alles, was sich in Großmutters schmaler Bibliothek und auf örtlichen Flohmärkten fand. Allerdings war mir das, vermutlich durch die Schule, schnell wieder »ausgetrieben« worden, die Mär vom Schund, den man nicht lesen sollte, hatte verfangen. Dann, mit Anfang 20, entdeckte ich eine kurze Rezension eben zu jenem Roman Pennacs, besorgte ihn mir, las ihn durch, an einem Stück, wie man so sagt – und es ging die Sonne auf. So wahr, so echt, so bunt, so packend, so großartig kann Literatur sein! Da war ich im Netz gefangen, und bin dieser Spinne bis heute – meistens gern – auch verfangen.

Als Gnade empfinde und interpretiere ich das deshalb, weil es völlig unerwartet in einer aussichtslos anmutenden Situation geschah, aus, ja genau, heiterem Himmel. Und das scheint mir, psychologisch, ein entscheidendes Moment der Gnade: die Räume, das Leben, die Freiheiten, die sie unverhofft öffnet. Nach dem Gnadenakt. Der Begnadigte bekommt eine zweite Chance, ihm stehen nun noch einmal alle Wege und alle Möglichkeiten offen. Und dieser Moment der Gnade birgt eine erstaunliche Koinzidenz: zwischen Genre/Krimi und Leben/Gesellschaft. Denn genau das »macht« der Krimi, wenn er denn ein guter und gelungener ist: Er arbeitet mit der unverhofften Überraschung, die – optimalerweise nach langem Spannungsaufbau – neue Optionen eröffnet. Insofern ist er, wenn man so will: ein Narrativ der Gnade.

Wie Pennac das in seinem Roman Königin Zabos Sündenbock umsetzt, ist eine Gnade im dreifachen Sinne: Benjamin Malaussène, der tapsige Held aus dem Pariser Viertel Belleville, liegt mit einem Kopfschuss mehr oder minder hirntot auf der Intensivstation eines Krankenhauses; korruptes Krankenhauspersonal »raubt« ihm auch noch einige lukrativ verwertbare Organe. Malaussène hat keinerlei Überlebenschance – allerdings ist er ja derjenige, der die Geschichte retrospektiv erzählt. Und auflöst. Also muss er ja überlebt haben, wie kann das erklärbar sein? Begnadet ist dieser im besten Sinne postmoderne Ansatz samt seiner Auflösung literarisch, erzähltechnisch und dramaturgisch. Hinzu kommt noch die vierte Gnade, nämlich die – schier unglaubliche – prallbunte Welt, an der Pennac uns Leser:innen über seinen Anti-/Helden derweil teilhaben lässt: Das ist, das war für mich meine Welt, das Leben, das ich in der Literatur vermisst hatte, welch eine Gnade, da voll und ganz eintauchen, das Lesen wiederfinden zu dürfen!

(Falls Sie nachlesen wollen: Seit einer heute noch lieferbaren Neuauflage aus dem Jahr 2003 firmiert der Roman unter dem Titel Sündenbock im Bücherdschungel. Ich lege die Hand dafür ins Feuer, dass Pennac auch Sie verführen wird, deshalb empfehle ich die Lektüre der ganzen Reihe von Beginn an, Sündenbock im Bücherdschungel ist der dritte Band – davor erschienen schon Paradies der Ungeheuer und Wenn nette alte Damen schießen.)

Gnade und Gnadenlosigkeit als zentrale Faktoren

Pennac war die erste Gnade, mit der mein zweites Lese-Leben anfing, und damit auch mein beruflicher Werdegang als Kulturjournalist, der sich mit der Krimikultur beschäftigt. »Krimikultur« übrigens deshalb, weil man nicht isoliert über Kriminal-Literatur-Filme-Serien sprechen kann, im Genre herrscht ständige Dynamik und wechselseitige Inspiration/ Beeinflussung. Seitdem habe ich viele solcher Gnadenbeweise erhalten, deshalb bin ich ja auch drangeblieben, immer wieder fasziniert; trotz aller Masse, die die Klasse in immer neuen Wellen zu verbergen trachtet. Und die man erstmal entdecken muss. Hatte ich den Namen Sisyphos schon erwähnt?

Der vorerst letzte Gnadenbeweis, den das Lektüreschicksal oder die Göttin der Bücher mir gewährte, war 2023 der Roman Zeit der Schuld von Deepti Kapoor: eine junge Schriftstellerin aus Indien, die in Lissabon lebt und deren Roman, Beginn einer Trilogie, nach dem Erscheinen im englischen Sprachraum mit dem Mafia-Klassiker schlechthin verglichen wurde, nämlich mit Godfather Mario Puzos meisterhafter Saga Der Pate. Dieser Vergleich, so viel direkt vorab, erfolgt zu Recht – allerdings bietet Kapoor mit ihrem Roman noch viel mehr und, naturgemäß, einen sehr viel zeitgenössischeren Ansatz als das große Vorbild aller, die vom Organisierten Verbrechen erzählen: Der Roman führt in die Nuller und Zehner Jahre, vor allem in Delhi. Er konzentriert sich auf drei junge Menschen und ihre Geschichte, einer der drei ist der Prinz eines »Clans« der organisierten Kriminalität; drumherum werden Dutzende weitere Perspektiven und Geschichten entfaltet, die das Land und die Gesellschaft im Brennglas und als Panoptikum gleichermaßen zeichnen und zeigen. Zeit der Schuld ist ein Geschenk, eine Gnade also, in vielfacher Hinsicht, ästhetisch, dramaturgisch, sprachlich, thematisch, mit einem faszinierenden Ensemble an Charakteren und herausragend inszeniert.

Ein exzellenter zeitgenössischer Roman, gestaltet mit allen Mitteln der Kunst. Also: Mit denen des Romans, nicht »nur« des Genres. Ist das nun noch ein »Krimi«? Gute Frage. Aber die Antwort ist eigentlich klar: Natürlich, warum nicht? Die Dinge haben sich halt geändert: Krimi ist »Roman« geworden, und wir schauen jetzt nicht mehr nur auf westliche Zentren, sondern auch in den Globalen Süden. Dort sind – wie überall sonst – übrigens zuletzt auch vermehrt junge Frauen auf der Bildfläche erschienen, um ihren Teil beizutragen, um ihre Stimmen hörbar zu machen, ein immenser Gewinn für alle, wie dieser grandiose Roman pars pro toto belegt, keine Frage. Kapoor konzentriert die Welt und öffnet dabei Welten gleichermaßen. Im Kern jedoch geht es um einen klassischen Topos aller Mafia-Narrative in zeitgenössischer Ausprägung: Die Frage der Legalisierung der einst absolut gesetzlosen Millionengeschäfte mit Drogenvertrieb, Menschenhandel etc. pp. Und hier kommt es zu einer Koinzidenz mit den legalen ökonomischen (und politischen) Strukturen – in Form von Neoliberalismus. Genauer gesagt: In Form eines absolut gnadenlosen Neoliberalismus, der auf nichts Rücksicht nimmt außer auf den eigenen Vorteil und der dabei zwanglos im wahrsten Sinn des Wortes über Leichen geht.

Die eine Gnadenlosigkeit – und die andere: Gnade und Ungnade sind in diesem Narrativ zwei entscheidende Faktoren auf vielschichtige Weise und auf vielen Ebenen, im Grunde ist die Gnade strukturierendes Element und Triebfeder gleichermaßen. Die Frage der Gnade wird verhandelt in dieser Geschichte – und zugleich erzählt sie von denen, die in solch einer Welt Gnade verüben oder erfahren. In der Hinsicht ist Kapoor auf ihre Weise übrigens dann doch sehr nahe dran an Puzo und dem Paten – und überhaupt an allen großen Mafia-Narrativen.

Unbedingt zu erwähnen wäre noch der herausragende, aber teils auch verstörende Roman Tage der Toten aus dem Jahr 2005, ebenfalls erster Teil einer Trilogie, in dem der amerikanische (Kriminal-)Schriftsteller Don Winslow sich auf Basis von Fakten, die er jahrelang recherchiert hat, mit dem sogenannten »Krieg gegen die Drogen« und dem furchterregend gnadenlosen Wirken der lateinamerikanischen Drogenkartelle auseinandersetzt. Gnade ist hier – nicht vorgesehen. Beziehungsweise: Es gibt nur eine einzige Gnade. Die, nicht dabei gewesen sein zu müssen, auf welcher Seite auch immer, sondern stattdessen die Roman-Chronik im sicheren Mitteleuropa in Ruhe auf dem heimischen Sofa lesen zu können, und das auch noch gut übersetzt. Jedenfalls wäre die Funktion der Gnade in solch turbo-kapitalistischen Mafia-Narrativen, von denen es noch einige mehr gibt, in der Literatur und in Film/Fernsehen/Streaming, eigentlich eine eigene Untersuchung wert.

Figurationen der Gnade

Warum eigentlich »Krimi«? Gute Frage. Eine Antwort zur Begriffsklärung: Statt von »Krimi« von »Kriminalliteratur« oder von »Kriminalfilmen« zu sprechen, würde doch etwas ernsthafter und seriöser klingen, nicht so salopp und alltagssprachlich. Warum also bleibe ich trotzdem bei dem Begriff »Krimi«? Weil diese Bezeichnung eine Definitionsproblematik auf den Punkt bringt und zugleich in nur fünf Buchstaben das ganze Phänomen fixiert: Es gibt nicht isoliert die Kriminalliteratur oder den Kriminalfilm, und schon beim Streaming, neuerdings einem zentralen Medium der Krimikultur, werden die Begriffsproblematiken evident – das »Kriminalstreaming«? Wie also soll man all das unter einen Hut bekommen, ohne das Wort »Krimi« zu benutzen?

Deshalb spreche ich von einer »Krimikultur«. Oder eben – von »Krimi«: Die verschiedenen Medien und Ausspielwege des Krimis beziehen sich aufeinander und beeinflussen sich wechselseitig, mit großer Dynamik, man kann das Eine nicht betrachten, ohne das Andere zu verstehen, sonst erfasst man allenfalls einen Teil des Ganzen. Diese Krimikultur ist fluide, und sie entzieht sich, das kommt entscheidend hinzu, einer exakten Definition – die eine verbindliche Definition dafür, was genau »Krimi« eigentlich ist, gibt es bis jetzt noch nicht. Deshalb bleibe ich beim »Krimi«, denn bei diesem Begriff weiß jede:r sofort, was gemeint ist, Definitionsproblematiken hin oder her. Zugleich, zugegeben, geht mir der Begriff »Krimi« selbst auch ein wenig auf die Nerven; es gibt nur keinen besseren (außer Krimikultur vielleicht, aber das ist ja eher ein Sammelbegriff).

Nochmal. Warum eigentlich »Krimi«? Als zweite Antwort eine These: In unserer Gesellschaft hat die Gnadenlosigkeit zugenommen – während der Bezug zum Begriff der Gnade weitgehend verlorengegangen ist, so Voraussetzung dieses Sammelbands, ist im Klappentext entsprechend formuliert. Beides, so meine Annahme und Erfahrung, spiegelt und konzentriert sich im Krimi auf besondere und auf exemplarische Weise: Der Krimi ist die Erzählform des Kapitalismus, und er ist eine höchst kapitalistische Erzählform; er transportiert die Gnadenlosigkeit der gnadenlosen Gesellschaft, wie zuvor beschrieben, sozusagen äußerlich und innerlich. Will heißen: In der Art, wie er reüssiert, wie er beschrieben und rezipiert wird, wie er sich am Markt nach Marktgesetzen etabliert, wie er sich auch immer wieder neu erfindet – wie er sich verkauft. Aber eben auch inhaltlich: Im Krimi/in der Krimikultur ist der Bezug zur Gnade gerade nicht verloren gegangen, denn sie ist, auf viele verschiedene Weisen, ein Dreh- und Angelpunkt des Krimi-Narrativs (das, wie gesagt, das Narrativ des kapitalistischen Zeitalters ist). Nur eben nicht so ganz unmittelbar als »Gnade« im Wortsinn, das wäre auch zu altbacken für ein Medium, das jederzeit unter Innovationszwang und Aktualitätsdruck steht. Vielmehr haben sich die Strukturen der Gnade in die Strukturen der Krimikultur eingeschrieben und fungieren dort mit großem Selbstverständnis als ordnende, gleichwohl aber auch sprechende Momente. So verdichten sich bestimmte Figurationen der Gnade, die zugleich auch Topoi der Krimikultur sind.

Die Auftragskillerin zum Beispiel, die ihren Auftrag nicht ausführt, weil die Zielperson ein Kind bei sich hat, was wiederum eine Kette an Ereignissen evoziert, denen sie möglicherweise letztlich selbst zum Opfer fällt. Oder der Polizist, der Ungerechtigkeit walten lassen muss, um Gerechtigkeit zu ermöglichen, wodurch er selbst die Gesetze, die er schützen soll, bricht, um sie zu wahren, sodass die Frage von »Gut« und »Böse« zum existenziellen Gang auf schmalstem Grad wird. Und sowieso natürlich das Ereignis des Mordes an sich, immer wieder mal atemberaubend in Szene gesetzt mit den Mitteln der Krimi-Kunst. Dann zumindest, wenn dieser Moment nicht nur ein Treiber oder ein Aufhänger ist, sondern für sich steht, für einen Augenblick eisiger Stille, in dem seine ganze Gnadenlosigkeit fühlbar wird. Hier geht es um Leben und Tod, ums Äußerste also, um die Existenz und ihre größte Zumutung. Das Machtgefälle. Die Unerbittlichkeit. Die Frage: Gnade – oder nicht? Ein Moment der Unendlichkeit, der auch mich als sehr erfahrenen Krimikonsumenten immer wieder frappiert, weil er so etwas wie eine Essenz illustriert und spürbar macht. Und: Eine doppelte Demonstration, denn hier wird nicht bloß der Zusammenhang zwischen Gnade und Macht, sondern auch der zwischen Gnade und Ungnade »spielerisch« auf den existenziellsten Punkt gebracht. Zwei entscheidende Aspekte, wenn man über die Funktion der Gnade in einer gnadenlosen Gesellschaft nachdenkt, zwei essenzielle Begriffspaare: Ohne Macht und ohne Ungnade ist keine Gnade denkbar; Ungnade und Macht machen Gnade ja erst möglich.

Warum eigentlich »Krimi«, zum Dritten: Weil Sie sonst den wahnwitzigen Roman Echo der Gewalt (2023) der ghanaisch-US-amerikanischen Schriftstellerin Yasmin Angoe verpassen, die das beschriebene Auftragskiller-Dilemma auf ihre ganz eigene und sehr, sehr zeitgenössische Weise neu erzählt. Oder die fantastische Fernsehserie KDD-Kriminaldauerdienst von Orkun Ertener, die von Gnade und Ungnade so begnadet empathisch, dabei doch unerbittlich analytisch erzählt wie keine andere. Oder auch die neue Renée Ballard-Reihe von US-Altmeister Michael Connelly, astreine Polizeiromane und immer auch Erkundungen in Sachen Gnade. Und, und, und … Ganz unterschiedlich erzählte Krimistoffe vom übrigens auch stilistisch ausgesprochen diversen Kontinent der Krimikultur, hier genannt pars pro toto, weil sie genau diese Szenen polieren, in denen die Frage der Gnade/Ungnade zum Momentum gerinnt.

Der Krimi als Kritik der gnadenlosen Gesellschaft

Gnade und Krimi, Gnade im Krimi – keinesfalls darf ich da darauf verzichten, Ihnen den US-amerikanischen Meister der strukturellen Gnadenlosigkeit vorzustellen, den Schriftsteller Harlan Coben – und seinen Roman Kein Sterbenswort (2002), einer meiner all time classics: Im Zentrum steht der schwerst traumatisierte Dr. David Beck, der im Armenviertel einer Großstadt als beliebter Arzt für alle arbeitet, privat aber mehr vor sich hinvegetiert, als dass er leben würde – seitdem acht Jahre zuvor, an ihrem Hochzeitstag, seine Frau einem Serienkiller zum Opfer fiel, und zwar genau an der Stelle am See, an der die beiden ihren ersten Kuss geteilt hatten. Die Story beginnt damit, dass Beck eine E-Mail mit der Aufnahme einer Überwachungskamera irgendwo auf der Welt zugeschickt bekommt: Auf diesem Videoschnipsel ist, wenn auch nur schemenhaft, seine Frau zu erkennen. Wie kann das sein, was steckt dahinter? Das erzählt dieser Thriller, der im Prinzip auch ein verkappter Liebesroman ist, mit einem Feuerwerk an atemberaubenden Wendungen – bis zum Happy End? Das wäre zumindest eine verdiente Gnade, auch für uns Leser:innen, nach dieser wilden Hatz.

Coben ist kein begnadeter Schriftsteller, der mit Stil und Sprache glänzt, aber ein sehr versierter Erzähler, und das ist auch genau richtig so, denn bei seinen Geschichten kommt es weniger auf den literarischen Glanz an, denn aufs Prinzip und die Struktur. Der Roman enthält – wie alle Geschichten Cobens – viele Momente, die um das Begriffspaar Gnade/Ungnade oszillieren. Entscheidend ist aber, wie Ungnade und Gnade gleichermaßen in der Struktur verborgen sind. Die Möglichkeiten, Überraschungen, Wendungen, die sich aus gesellschaftlichen Strukturen ergeben, sind für ihn letztlich weitaus wichtiger als Themen, Charaktere oder Milieus. Gemeint sind dabei einerseits die gesellschaftlichen Strukturen des späten Kapitalismus mit seiner lebensweltlichen Unübersichtlichkeit, in deren Diversität sich alle möglichen Geheimnisse verbergen, und andererseits die Struktur des Spannungsmanagements, die Geschichten zu präsentieren, bis das Verborgene ans Licht kommt. Oder auch nicht. Was ans Licht kommt und was nicht, und wie Dinge offenbar werden oder nicht, das ist nicht zuletzt auch eine Frage der Gnade. Interessant ist das, denke ich, mit Blick auf die Funktion der Gnade in einer gnadenlosen Gesellschaft auch deshalb, weil eine Machtverschiebung stattfindet, und Gnade ist ja immer auch eine Frage der Macht: weg von mächtigen Akteuren, hin eben zu machtvollen Strukturen.

Aber es gibt noch einen weiteren Gnadenaspekt, der beim Blick auf das Werk Cobens auffällt: 2018 hat der Autor mit dem Streamingdienst Netflix einen »multimillion overall deal« über 14 seiner Stoffe als Serien abgeschlossen. Netflix ist ja global aufgestellt, entsprechend erschienen und erscheinen Adaptionen aus verschiedenen Ländern rund um die Welt, aus Polen etwa, Frankreich, Spanien, England. Alle diese Produktionen hangeln um das Coben-Prinzip, es geht also immer um anderes oder alternatives Leben einer Protagonistin, eines Protagonisten, zu der:dem in irgendeiner Form eine Verbindung im gegenwärtigen besteht, die letztlich rekonstruiert werden muss. Oder umgekehrt. Die Umsetzung in verschiedenen Ländern mit unterschiedlichen Film- und Fernsehkulturen hat den hübschen Nebeneffekt, dass man interessiert vergleichen kann. Es entsteht also so etwas wie ein internationaler bzw. globaler Krimi-Diskursraum. Das Prinzip ist bei aller Unterschiedlichkeit stets das Gleiche: die Macht der Struktur, die Gnade der Auflösung, also: die der Erkenntnis.

Gnadenlos ist bei alldem aber vor allem auch das Phänomen an sich: (Krimi-) Akteure wie Coben spielen gnadenlos auf der Klaviatur des gnadenlosen Kapitalismus, der unsere gnadenlose Gesellschaft strukturiert. Seine Stoffe, die dieses Coben-Erzählprinzip variieren, sind im Grunde genommen alles in allem eine Reihe. Und die Reihe bzw. die Serie ist wiederum ein typisches Merkmal der Krimikultur bzw. des Krimis als Narrativ des Zeitalters des Kapitalismus. Das ökonomische Maximalprinzip, das besagt, dass man mit dem geringsten Aufwand den maximalen Ertrag erzielen sollte. In »Krimi« ausgedrückt: Die Arbeit eines Arsenals an Figuren, das einmal erfunden wurde, möglichst oft abschöpfen. Oder auch, wie bei Coben: Ein Erzählprinzip möglichst oft nutzen. Und an der Stelle ist man schon mittendrin in typischen Genrekonditionen, die bedient oder auch variiert werden: Diese Formen und diese Topoi sind da, wie die Maschinen einer Produktionsstraße, man kann sie nutzen, produzieren, verkaufen und den Gewinn abschöpfen. Die Kultur setzt der Gnadenlosigkeit der Zeiten und der Gesellschaft, die sie umgibt, die Logik ihrer eigenen Unerbittlichkeit entgegen.

Der Noir und die Kultur der Gnadenlosigkeit

Dass Krimis in Reihen oder in Serien erzählt werden, ist international und weit verbreitet. Interessant ist auch zu beobachten, wie sich durch die Schichten der Entstehung und Distribution, die so entstehen, Inhalte verändern, anpassen und variieren. Ein Beispiel dafür ist die berühmte Kommissar Beck-Reihe des schwedischen Autorenduos Maj Sjöwall und Per Wahlöö, die zwischen 1965 und 1975 in der Ur-Form erschien. Die überzeugten Marxisten Sjöwall und Wahlöö wählten das Krimi-Genre für ihre Romane, weil sie glaubten, mit diesem Medium möglichst viele Menschen zu erreichen, um sie von den Errungenschaften des Sozialismus als weniger gnadenlose Gesellschaftsform zu überzeugen. Inwieweit das geklappt hat, ist natürlich nicht messbar; zu einer entsprechenden Transformation haben die Beck-Krimis bekanntlich nicht geführt. Möglicherweise haben die beiden allerdings, ohne es zu ahnen, einen noch viel größeren Erfolg mit deutlich weitreichenderer Wirkung geschaffen – nämlich den der Kapitalisierung des kritischen (Krimi-)Blicks auf die Gesellschaft.

Denn das Prinzip bzw. die Struktur der typisch schwedischen/skandinavischen Krimi-Reihe, die im Kern in der narrativen Schöpfung Sjöwalls und Wahlöös verankert ist, wurde insbesondere seit den 1990er Jahren tausendfach bedient und variiert, zunächst in der Kriminalliteratur, später auch im Fernsehen, im Kino, in den Streaming-Universen – mit weltweiter Verbreitung. Was als Brücke zum Sozialismus gedacht war, erfuhr also eine kapitalistische Expansion, die bis heute andauert und nicht bloß für Milliardenumsätze gesorgt hat und weiter sorgt, sondern auch Hunderte Krimischaffende, die sich in den gnadenlosen Gesellschaften durchschlagen müssen, ernährt. Dabei wurde zwar die »sozialistische« Botschaft durchaus geschliffen, ist aber keineswegs verloren gegangen. Vielmehr hat sie die Perspektive mal mehr, mal weniger radikaler Gesellschaftskritik eingenommen, die zum Selbstverständnis solcher »Nordic Noirs« gehört. Die Frage der Gnade wird im Rahmen dieser Serien und Reihen in vielfacher Weise thematisiert und durchgespielt, krimiüblich, wie zuvor beschrieben. Gnadenlos ist dieses spezielle Subgenre immer aber unbedingt eben mit Blick auf die Kritik an der gnadenlosen Gesellschaft, das ist essenziell und gehört zur DNA der skandinavischen Krimikultur, für deren weltweiten Erfolg sicher auch der Schriftsteller Henning Mankell mit seinem »Helden« Kurt Wallander ein wichtiger Multiplikator war.

Bislang erfolgreichstes Beispiel ist die Millennium-Trilogie, die der Journalist und Schriftsteller Stieg Larsson erfand; weltweit wurden, je nach Angaben, zwischen 80 und 100 Mio. Exemplare allein der ersten drei Romane verkauft, hinzu kommen zig Millionen Zuschauer:innen der diversen Kino-, Fernseh- und Streaming-Adaptionen. Larsson konnte diesen Welterfolg nicht mehr miterleben, er starb unerwartet 2005. Die Reihe wurde nach einer »Trauerpause« von anderen Schriftsteller:innen fortgesetzt, die die Erben beauftragten. 2022 erschien der mittlerweile siebte Teil Verderben, geschrieben von der Schriftstellerin Karin Smirnoff, die sich gezielt wieder stärker auf den gesellschaftskritischen und, nun ja, postsozialistischen Kern auch dieser Reihe fokussierte, wie sie auch in Interviews zum Erscheinen betonte. »Literarisch« ist die Millennium-Reihe (im Gegensatz zu manch anderem Nordic Noir) alles andere als herausragend, daran ändert auch der verschlimmbessernde Versuch Smirnoffs nichts, die ja keine genuine »Krimischriftstellerin« ist, sondern aus der sogenannten Literatur-Literatur für dieses Projekt in den Genrebereich wechselte. Auf der Ebene des Plots funktioniert der Stoff allerdings wirklich exzellent, und zwar ohne jede Gnade, die Untiefen des Dunklen der Gesellschaft werden ebenso radikal ausgeschöpft wie die Kipppunkte von Thrill und Spannung damit korrespondieren; ich hoffe, dass die garantiert folgende Streaming-Serie das auch ästhetisch adäquater umsetzen wird.

Krimis aus industrieller Massenfertigung? Durchaus. Welche Rolle spielen da noch die Kreativität, die Kunst, die Krimikultur? Kreativität, Kunst und Kultur sind hier einen Pakt mit dem Kapitalismus und seinen Strukturen eingegangen. Ihre spezifischen Mittel sind eine Grundlage – und sie »leben« als Momente, Topoi oder auch über Protagonisten und Charaktere durchaus auch noch im Sinne der Kultur. Anders gesagt: Vom großen Ganzen der Millennium-Saga wird wohl eher nicht viel bleiben – aber bspw. die Figur der kampfesmutigen, unbeirrbaren Hackerin Lisbeth Salander hat sich in die Ewigkeit der kulturellen Codes eingeschrieben, sie ist ikonisch geworden. Als eine prototypische Figur der Gnade/Ungnade in diesen, unseren Krimi-Zeiten: Sie spiegelt das Begriffspaar in ihrer eigenen Zerrissenheit, auch körperlich, durch den Missbrauch den sie erfahren hat; zugleich hat sie ihre Konsequenzen gezogen, sie ist autonom, sie ist gerüstet, zu allem bereit: Sie hat sich selbst ermächtigt, die Antwort auf die Gnade/Ungnade-Frage liegt in ihrer eigenen Hand. Religion und Recht braucht es dafür nicht, im Gegenteil, die Gnade ist ein individuelles Vermögen. Salander befindet sich schon jetzt in »guter« Gesellschaft in der kommenden Ahnengalerie des Genres, denn auch das ist ein Topos der Krimikultur, hier in aktualisierter, zugespitzter und weiblicher Variante. Die Gnade wird desinstitutionalisiert, sie entspringt der verborgenen Mitte der gnadenlosen Gesellschaft.

Damit verweist diese Figur übrigens inmitten des Krimi-Kommerzes des Nordic Noir, der nicht umsonst diese Bezeichnung trägt, auf einen Kern der Krimikultur, der seine Spuren in den verschiedensten Bereichen hinterlässt, in denen heute mit unterschiedlichsten Mitteln auf diversen Wegen vom Verbrechen und der Gesellschaft erzählt wird: auf den Noir als dunkle Begleitlektüre der gnadenlosen Gesellschaft. Eine Erzählform, die genauso wenig exakt definierbar ist wie das Genre oder auch die Gattung »Krimi« selbst. Das Dunkle ist entscheidend, die Hoffnungslosigkeit, das Verdorbene, die Aussichtslosigkeit, die Gewalt. Dass es keine Gnade gibt in dieser Gesellschaft, ist bei diesen Narrativen die Arbeitsgrundlage. Eigentlich. Denn mit den Mitteln der Krimikultur ist im Verlauf des Geschehens möglicherweise die eine oder andere Form von Gnade dann doch denkbar, wenn auch meist eher im Kleinen, vor häufig desillusionierendem Schluss. Und das ist der Punkt: Dass es in dieser Gesellschaft die Gnade eines glücklichen Lebens geben könnte, ist nicht mehr als eine Illusion.

Der Krimi als Wort zum Sonntag

Kultur ist bekanntlich immer auch Kommunikation – das gilt für die Krimikultur heute im Prinzip in globalem Maßstab. Im deutschsprachigen Raum haben wir das Glück, dass es Übersetzungen von Kriminalliteratur aus der ganzen Welt gibt, insbesondere kleinere Verlage zeigen da ein großes Interesse und viel Geschick; ein Beispiel ist der litradukt Verlag aus Trier mit den exzellenten Polizeiromanen von Gary Victor aus Haiti. Literatur spielt bei dieser globalen Kommunikation allerdings eine weniger bedeutende Rolle als Kriminalfilme und Serien, und hier sind die Streamingdienste, allen voran Netflix, gleichermaßen Motor und Türöffner einer ganz neuen Art sowohl von Distribution wie auch Wahrnehmung. Auf diesem Weg werden auch aktuelle deutsche bzw. deutschsprachige Serien weltweit sichtbar, wie zuletzt Liebes Kind, übrigens die Adaption eines Romans der Schriftstellerin Romy Hausmann, mit mindestens 25 Mio. Aufrufen allein in den ersten Tagen der Veröffentlichung im September 2023.

»Eine Gnade!«, möchte man auch deshalb ausrufen, wenn man bedenkt, dass über viele Jahre die ZDF-Serie Derrick (produziert 1974–1998) das weltweit mit Abstand meistgesehene deutsche Krimi-Format war und entsprechend auch über Jahre und Jahrzehnte das Bild Deutschlands in über 100 (!) Ländern prägte. In Deutschland wird die Serie nicht mehr gezeigt, seitdem öffentlich wurde, dass sowohl Hauptdarsteller Horst Tappert wie auch Ideengeber Herbert Reinecker während der Zeit des Nationalsozialismus massiv mit der Waffen-SS verstrickt waren. Provinzielle Biederkeit und die unbedingte Wiederherstellung der staatlichen Ordnung waren die Kernelemente der Serie. Das kam ja, so gesehen, möglicherweise nicht von Ungefähr, und das repräsentierte auch ein (bundes-)deutsches Selbstverständnis der Zeit: Die »Gnade«, die diese Art von Krimikultur gewährt, liegt in der Ausblendung nicht bloß der Vergangenheit, sondern auch von alldem, was diese gesellschaftliche Ordnung, die auf dieser Ausblendung beruht, infrage stellt oder gar gefährdet. Wirtschaftswunder-Neo-Biederkeit im Schatten der Vergangenheit. Erstaunlich – auch so etwas ist im Rahmen der vielfältigen Krimikultur mit großem Erfolg möglich; auch daran zeigt sich die immense Kraft, über die dieses Narrativ des Krimis in der gnadenlosen Gesellschaft verfügt.

Derrick ist mittlerweile glücklicherweise selbst Schnee von gestern. Serien wie Liebes Kind sind Achtungserfolge. Im Großen wird das Bild einer deutschen Krimikultur international vor allem von der Serie Babylon Berlin geprägt, die auf den Gereon Rath-Kriminalromanen von Volker Kutscher beruht und mittlerweile in über 140 Länder verkauft wurde. Eine Serie, die die deutsche Vergangenheit nicht ausblendet, sondern thematisiert; zugleich ein herausragendes Beispiel des Megatrends zum zeitgeschichtlichen Krimi. Hier kann man ebenfalls wieder das Wechselspiel der Medien beschreiben, das ich zu erfassen versuche, wenn ich zusammenfassend von einer Krimikultur spreche: Zeitgeschichtliche Krimis tauchten zunächst in der deutschsprachigen Kriminalliteratur auf, wurden durch Verfilmungen, vor allem durch Babylon Berlin, auf eine andere Erfolgsebene gehoben, was dann wiederum anderen zur Inspiration für zeitgeschichtliche Kriminalliteratur diente, und zwar nicht mehr nur im Rahmen der deutschsprachigen Literatur, sondern im Prinzip weltweit. Hinzu kommen Hörbücher, Hörspiele, Comics, Theaterstücke: eine umfassende Verwertungs- und Weiterentwicklungsmaschinerie. Die Marktmechanismen funktionieren auch hier gnadenlos, die Narrative sind darauf abgestimmt, schöpfen aber, wie gehabt, gleichermaßen auch Kunst und Kultur – und Erkenntnis! – aus diesem Fluss der Verwertung.

Der Ort, an dem das Begriffspaar Gnade/Ungnade dabei verhandelt wird, scheint mir alles entscheidend: die Metropole Berlin, die so vieles verheißen kann und doch so viele zerstört. Das betrifft sowohl die politischen Verhältnisse, die im Lauf des Geschehens immer tiefer hineingreifen in die Zeit des Nationalsozialismus, wie auch die gesellschaftlichen Verhältnisse, also die Bedingungen, an denen die Armen zugrunde gehen, die Meisten zumindest. Trigger des Ganzen, auch der ganzen Welle des zeitgeschichtlichen Krimi-Narrativs überhaupt, ist allerdings das Bild der Goldenen Zwanziger in Berlin und die Projektion des Tanzes auf dem Vulkan, der erstmal alle Verheißungen für alle bereitzuhalten scheint. Die Dynamik, die das entfaltet, die Gnade, die es zu verheißen scheint, ist aber nur deshalb so eminent, weil die Ungnade jederzeit schon dräut: am Horizont des Laufs der Dinge sowieso, aber auch in den Details, in den Untiefen der Zeitläufte, die sich dahin entwickeln. Berlin also, die gnadenlose Metropole, und das ist eine Blaupause, die weit über Babylon Berlin hinausträgt. Bis in die Gegenwart, also auch in die erzählte Gegenwart hinein, etwa bei den grandiosen Großstadtthrillern von Johannes Groschupf, bei dem die gnadenlose Gesellschaft auf der Bühne der Metropole zum Destillat der Gegenwart gerinnt.

Berlin ist in Sachen deutschsprachiger Krimikultur allerdings nur eine Ausnahme, die die Regel bestätigt. Denn was den deutschsprachigen Krimi vor allem anderen ausmacht, ist seine Regionalität – und damit teils verbunden auch wieder die schon beschriebene Provinzialität. Gut, es gibt auch andere Metropolen, von Hamburg über München bis Wien, und es gibt mittlerweile zwei, drei Handvoll exzellenter Krimischaffender in Wort und Bild, die auf internationalem Niveau operieren. Aber im Großen und Ganzen ist deutschsprachiger Krimi von regionalem sowie regional verortetem Erzählen geprägt, auch der sogenannte »Regio-Krimi« lässt hier freundlich grüßen. Dass dem so ist, hat entscheidend mit dem zentralen Krimiformat des deutschsprachigen Raums zu tun, dem sonntäglichen Tatort (seit der Wende ergänzt um das ehemalige DDR-Pendent, den Polizeiruf 110) – eine Erfindung, die die deutschsprachige Krimikultur massiv prägte und die zugleich ein einzigartiges Phänomen ist, nicht zuletzt auch Ausdruck eines spezifisch deutschsprachigen Beitrags zur internationalen Kultur des Krimi-Narrativs.

Geschaffen wurde der Tatort 1970 vom WDR, in Kooperation mit anderen ARD-Sendern, bislang (Stand: November 2023) wurden 1.250 Folgen der Reihe ausgestrahlt. Dass der Tatort so regional verankert ist, wie es der Fall ist, hat damit zu tun, dass die regional verortete ARD ein Konkurrenzprodukt zum überaus erfolgreichen Kommissar im ZDF finden musste. Dabei machte man, wenn man so will, die Not zur Tugend und erfand eine Krimireihe, deren Teile abwechselnd von den verschiedenen Landessendern beigesteuert wurden. So erhielt die Region Einzug in die Krimikultur – und damit auch die regionale Perspektive auf ihre Themen. Was seinerzeit niemand ahnen konnte, war die Wirkung, die diese Reihe erzeugen sollte, vergleichbar mit der Entwicklung beim Nordic Noir: In einem Prozess der wechselseitigen Beeinflussung und Befruchtung zwischen Fernsehen und Literatur, immer mit dem Blick in die Region, entstand eine Kultur, deren Erzeugnisse immer wieder genau damit aufs Neue erfolgreich waren, dass sie in der Region angesiedelt waren und von der Region erzählten.

Und diese Welle rollt weiter – nur dass sie mittlerweile über ganz Europa hinwegschwappt, denn sowohl in der Literatur wie auch im Fernsehen sind derzeit Stoffe gefragt, die die Strukturen des regionalen Krimi-Erzählens in Deutschland auf europäische Länder übertragen; sie werden internationaler, bleiben aber zugleich »regional«, bevorzugt in Gegenden, in denen viele Menschen Urlaub machen. Meist sind das – nur wenige Ausnahmen bestätigen die Regel – sogenannte »Feel good«-Geschichten. Gesellschaftliche Probleme, man ist ja nicht unmodern, werden dabei durchaus angerissen, aber in Watte gepackt, und sie werden immer zum allseitigen Wohlgefallen aufgelöst. Der subversive Charakter, der in einer Urform des regionalen Erzählens durchaus vorhanden war, wird von Verwertung zu Verwertung der Topoi weicher gespült, bis nur noch Spurenelemente davon vorhanden sind. Diese Art von Kriminalerzählungen sind per se gnädige, kommode Narrative – und durch diese Auflösung zum Wohlgefallen gewähren sie, wenn man so will, sogar eine Gnade plus. Letztlich zeigt sich hier eine ähnliche provinzielle Biederkeit wie zuvor bei Derrick beschrieben: Dasselbe in Grün und mit Landschaft oder Kulisse, über die der Blick beim Schauen oder Lesen gnädig streifen kann.

Derweil steht der Tatort (inkl. des Polizeiruf 110) trotz der Einflüsse, die er hat, stabil für sich – in seiner immensen Diversität. Ja, die Sonntagabendkrimis erzählen durchaus auch regionale Geschichten; ebenso sehr, vielleicht sogar deutlicher, sind sie allerdings in den Städten und Metropolen des deutschsprachigen Raums verortet. Sie repräsentieren die Gesellschaft in ihrer komplexen, teils widersprüchlichen Gesamtheit, und sie transportieren dabei alle denkbaren Themen dieser Gesellschaft. Und zwar im Prinzip auf alle möglichen Arten und Weisen, wie ein Krimi erzählt werden kann innerhalb eines solchen Formats. Interessant ist dabei mittlerweile vor allem, was jenseits des Eigentlichen passiert, also über den Film hinaus, der an sich ein Fixum ist, das die Woche strukturiert: Um die 10 Mio. Menschen schauen in der Regel zu. Das meint die Kommunikation um den Sonntagabendkrimi herum, also einerseits das Reden über den Krimi und andererseits das Reden über die Themen, die er bedient. Dieser Krimi ist Grund und Quell von Diskurs und Debatte; diese Debatte betrifft sowohl die Art, Themen im Rahmen des Krimis zu präsentieren, wie auch die Themen per se. Es geht also gleichermaßen um die Konditionen des Diskurses wie auch um den Diskurs an sich – Gnade/Ungnade werden im Rahmen dieses Diskurses verhandelt. Der Krimi also als ein Transportmittel, der die Frage der Gnade in der gnadenlosen Gesellschaft zurück ins Zentrum transportiert, zumindest für einen Moment. Schauen Sie mal auf X/ehemals Twitter, während der Krimi läuft; dann sind sie in Sachen Gnade/Ungnade (in der Beurteilung und Kritik) auf dem Stand. Und abgesehen davon: Es kommt ja nicht von ungefähr, dass etwa der Literaturwissenschaftler Denis Gräf, Fachmann für Mediensemiotik, den Sonntagabendkrimi als »profanisierten Gottesdienst« beschreibt und versteht, früher diskutierten wir die Predigt des Pfarrers, heute halt den Tatort.

Gnade, Erlösung, Ende, Schluss

Was mich zuletzt besonders erfreut hat: Die belgische Serie Im Auge des Wolfes (Netflix), zwei Staffeln, offenes Ende, to be continued also. Beeindruckend, wie hier aus dem Vollen der postmigrantischen Gesellschaft geschöpft wird. Und wie gnadenlos zeitgemäß die Macher:innen das Prinzip »Kill your darlings« anwenden, also Identifikationsfiguren über die Klinge springen lassen, um den Thrill ganz oben zu halten. Dann der Roman Wie sterben geht (2023) von Andreas Pflüger, eine astreine Agentengeschichte mit furiosem Showdown und, wenn man so will, multiplem Ende. Ja, Spionageromane und die Frage der Gnade, das wäre auch mal eine eigene Betrachtung wert. Und dann natürlich die dritte Staffel der österreichisch-deutschen Produktion Der Pass (Wow Streaming), riecht sehr nach finalem Finale, aber wer weiß das schon? Unfassbar, wie hier Licht und Landschaft, Ton und Atmosphäre, Darstellung und Ausstrahlung das Kommando über die Krimi-Strukturen übernommen haben, das ist wirklich Krimikultur im Sinne von Krimikunst, faszinierend. Und es geht immer weiter … weitere Highlights werden folgen, daran kann kein Zweifel bestehen, das liegt in der Natur der Sache.

Also: Krimi, so scheint es, spiegelt die Frage der Gnade/Ungnade in der gnadenlosen Gesellschaft auf allen möglichen Ebenen, inhaltlich, strukturell, kommunikativ, diskursiv und psychologisch. Dieser Augenblick, der ein Vorher und Nachher trennt, der Spannung schafft und auflöst, der den Kipppunkt von Hell und Dunkel markiert – der auch eine Erlösung bewirkt? Dann wäre jetzt der Moment, darauf hinzuweisen, dass einer der Vorzüge einer Kriminalgeschichte die Tatsache ist, dass sie in der Regel über ein regelrechtes Ende verfügt. Auch dieser – in einer Gesellschaft des Jederzeit und Überall – möglicherweise besonders bedeutende Moment der Gnade, diese Erlösung, ist strukturell integriert. Na ja, meist zumindest, denn die Krimikultur ist längst so kreativ und innovativ, dass in innovativen Exponaten der klassische »Schluss« in alle möglichen Richtungen geschickt unterlaufen wird. Oder unterlaufen und bedient gleichermaßen. Die Spannung (und damit ja auch ein Aspekt der Gnade) speist sich bei diesen Geschichten nicht aus der Auflösung, sondern aus dem Wie und dem Dazwischen.

Einen wunderbaren Schluss hat übrigens der Roman Feuer für Jeanne von Jean-Bernard Pouy, dem großen (und sehr politischen) Magier der Krimikultur. Sein Roman aus dem Jahr 1989 erzählt von einer Serie von Anschlägen, die Frankreich erschüttert. Ein Wohnwagen von Touristen wird, samt seiner Bewohner, eine Klippe hinabgestürzt; beim Konzert einer Punkband wirft jemand eine Handgranate auf die Bühne. Solche Dinge. Alle Anschläge richten sich gegen Menschen aus England. Oder gegen englische Einrichtungen. Was ist das System, das dahintersteckt? Die Polizei rätselt. Wir Leser:innen wissen mehr, schließlich braucht es Suspense, also Wissensvorsprung. Und hier liegt ein sehr moderner »literarischer« Krimi vor, alles andere als ein klassischer Whodunit, bei dem das Rätsel das entscheidende Element wäre: ein Rachefeldzug, eine Gang aus der Banlieue, ein Mädchen, das (von Engländern) vergewaltigt wurde. Einem schlauen Polizisten fällt auf, dass der Feldzug von Jeanne, des schlauen Mädchens und seiner Gang aus dem sozialen Abseits, exakt die Route nimmt, die Jeanne d’Arc einst wählte. Wenn diese Hypothese zutrifft, sind die nächste Tat, der nächste Ort erwartbar.

Ein Großaufgebot der Polizei wartet also dort, alle möglichen Spezialisten für alle denkbaren Szenarien sind verfügbar. Der Moment rückt näher, die Erwartung pulsiert, die Spannung flirrt – als genau in der Sekunde, in der ein Zugriff im Sinne der staatlichen Macht erfolgen sollte, ein Meteorit auf die Erde kracht, der alles erlöst und alle Fragen obsolet werden lässt. Dann also doch noch ein Szenario, mit dem auch die Schlauesten nicht gerechnet hätten. Und eine ungeheuerliche »Auflösung«! Was für ein Ende ist denn das, bitte? Keine Gnade für niemanden, eine große Gnade für alle.

Biografische Notiz

Ulrich Noller ist freier Autor und Journalist, vorwiegend für den WDR in Köln, mit diversen Buch- und Hörspielveröffentlichungen. Er studierte Germanistik, Philosophie und Theater-, Film- und Fernsehwissenschaften. Beim WDR ist er Experte für Literatur, Film, Fernsehen und Philosophie und gestaltet u.a. seit 2012 die montägliche Kolumne »Wie war der Tatort, Herr Noller?« bei WDR 5. Er ist Mitglied der Jurys der Krimibestenliste und des Deutschen Krimi Preises.

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