Geschrieben am 1. September 2024 von für Crimemag, CrimeMag September 2024

Sonja Hartl zur Biografie des FBI-Chefs J. Edgar Hoover

Die Macht der Bürokratie

800 Seiten, akribisch recherchiert, spannend erzählt – Beverly Gages „G-Man – J. Edgar Hoover and the Making of the American Century“ ist eine mitreißende, kluge Studie über den Mann, der die US-amerikanische Politik des 20. Jahrhunderts geprägt hat. – Von Sonja Hartl.

Beverly Gage: G-Man: J. Edgar Hoover and the Making of the American Century. Viking, New York 2022. 837 Seiten, mit Abb., 45 USD; britische Ausgabe: 864 Seiten; Paperback US, 896 Seiten, 25 USD. – Verlagsinformationen.

„The Man Who Stayed Too Long“ titelte die New York Times 1971 über J. Edgar Hoover. Damals war er über 40 Jahre FBI-Direktor. Und es sind diese letzten Jahre seiner Amtszeit, die sein öffentliches Bild als schurkiger Manipulator bis heute prägen: Er war derjenige, der COINTELPRO zu verantworten hatte – vor allem wegen der skandalösen Abhör- und Beeinflussungsmaßnahmen gegen die Black Panther verrufen. Das „Counter Intelligence Program“ gab es aber schon vorher: In den 1950er Jahren war es zur Spionageabwehr gedacht und sollte anfangs die Kommunistische Partei in den USA manipulieren und stören. Schon hier zeigen sich die Grundzüge dieses Programms: Überwachung, Infiltration und vor allem Diskreditierung. Mit der gezielten Verbreitung von Gerüchten und Lügen mittels anonymer Briefe, Telefonanrufe und schlichtweg falscher Aussagen sollte Chaos und Misstrauen in der Kommunistische Partei gesät werden, so dass sie sich selbst von innen heraus zerstört. Bis 1971 nutzte Hoover COINTELPRO für verschiedene Gruppierungen. Im Rückblick wurde allerdings oft der Anschein erweckt, COINTELPRO sei Hoovers Geheimnis gewesen. Das ist falsch. Über all die Jahre waren in die verschiedenen Besetzungen von Kongress, Attorney General und das Weiße Haus darüber informiert.

Akribische Recherche

Die Historikerin Beverly Gage schildert die verschiedenen COINTELPRO-Aktionen in ihrem über 800 Seiten langen Buch über J. Edgar Hoover. Detailliert und akribisch recherchiert erzählt sie sein Leben. Von der Geburt 1895 in Washington D.C. bis zu seinem Tod 1972. Ihr Buch ist weit mehr als eine Biographie – es ist eine faszinierende Abhandlung über die Geschichte der USA in diesen Jahrzehnten, die so manche Annahmen revidiert. Entscheidend ist: Es geht ihr zu keinem Zeitpunkt darum, J. Edgar Hoover in irgendeiner Weise zu rehabilitieren. Sie zeigt lediglich, dass einfache Zuschreibungen in der Regel ins Nichts führen.

Ein Beispiel: In den 1960er Jahren orchestrierte J. Edgar Hoover seine mittlerweile berüchtigte Kampagne gegen Martin Luther King und bezeichnete ihn – eines der berühmtesten Zitate von Hoover – als „the most notorious liar in the country“. Aus Hoovers Sicht war er das: King hatte behauptet, das FBI würde vornehmlich Agenten im Süden einsetzen, die auch dort geboren sind und deshalb die rassistischen Ansichten der dortigen Menschen teilen. Tatsächlich war ein Großteil der Agenten im Norden geboren. Hoover hat King darauf aufmerksam gemacht, er ignorierte es. Hoover hat King auch darauf aufmerksam gemacht, dass zwei seiner engsten Berater mit der Kommunistischen Partei in Verbindung stehen. King entschied – auch aus gerechtfertigten Misstrauen gegenüber Hoover –, das zu ignorieren. (Erst auf Druck Johnsons trennte er sich von einem der Männer). Dazu kamen Abhörbänder, auf denen zu hören ist, wie King an „Sex-Orgien“ (nach Einschätzung des FBI) teilgenommen hat.

Das alles ändert aber nichts daran, dass Hoover ein Rassist war. Und dass er zwar heute für seine Äußerung verdammt wird. Damals aber einer Umfrage zufolge Zustimmungswerte von 80 Prozent hatte. Hier ist wiederum Vorsicht geboten: Wer dort befragt wurde, ist nicht bekannt. Sehr wahrscheinlich waren es überwiegend Weiße. Abgesehen davon aber verweist dieser hohe Wert auf einen konservativen Kern in den USA, der heute im Rückblick auf die 1960er Jahren gerne übersehen wird.

Unkontrollierte Macht der Bürokratie

Hoovers Rassismus bestimmte stets sein Handeln. Er war Mitglied einer rassistischen Studentenvereinigung, er teilte die Werte des „alten Süden“. Aber Hoover verabscheute auch Menschen und Bundesstaaten, die sich nicht an Federal Laws halten. Deshalb hat er versucht, den Ku-Klux-Klan zu zerschlagen (COINTELPRO – White Hate). Und schickte FBI-Beamte in den Süden, um Lynchings zu untersuchen. Aufgrund der herrschenden gesetzlichen Regelungen und einem allgemeinen Misstrauen gegen Bundesbehörden konnten sie nur wenig machen. Aber Hoover brachte damit seine Überzeugungen in Einklang: Er sorgte für das Einhalten von Gesetzen – wurde aber sicher nicht zum Bürgerrechtler. Denn auf die Idee, die Befugnisse des FBI zu erweitern, ist er in diesem Fall – anders als bei vielen vorherigen Malen – nicht gekommen.

Das ist ein weiteres hervorstechendes Merkmal von Hoover: Er erkannte und nutzte die Macht der Bürokratie. Ein Beispiel: Im Zuge des Prozesses gegen die kommunistische Spion Judith Coplon wurde gerichtlich angeordnet, dass das FBI sämtliche Akten vollumfänglich offenlegen sollte. Daraufhin änderte Hoover das Ablagesystem. Abhöranfragen wurden fortan persönlich und vertraulich an ihn gestellt. Alles, was das Bureau kompromittieren konnte, sollte als „administrative pages“ hinten an die Akte gehängt werden, so dass man diesen Anhang leicht entfernen konnte, sobald die Offenlegung angeordnet wird.

„G-Man“ steckt voller solcher Manöver, die sehr deutlich zeigen, wie viel Macht jemand ausüben kann, wenn er das System beherrscht – und in Hoovers Fall sogar selbst geschaffen hat. Durch ihn wurde das FBI zu einer professionellen Behörde: Er förderte forensische Methoden, führen Karteien und Verzeichnisse ein – und war stets sorgsam darauf bedacht, dass das FBI in gutem Licht dasteht. Sukzessive hat er aber nicht nur seine Befugnisse ausgeweitet, sondern war auch stets darauf bedacht, dass die Behörde unter so wenig Aufsicht und Kontrolle wie möglich steht.

Gesetze und Regeln müssen eingehalten werden!

Bürokratische Winkelzüge nutzte Hoover immer wieder. Als es zur Gründung des ihm verhassten CIA kam, rief er sofort alle FBI-Agenten aus dem Ausland zurück und forderte sie auf, sämtliche Informationen zu vernichten. Jahrelange Arbeit wurde dabei zerstört – und als das außerhalb des FBI bekannt wurde, berief sich Hoover auf eine Verwaltungsvorschrift. (Noch so ein faszinierendes Detail dieses Buchs: Die vielen Auslandsaktivitäten des FBI.)

Vorschriften und Regeln waren ihm wichtig. Im Rückblick wurde es oft dargestellt, als hätte er willentlich gegen Gesetze verstoßen. Tatsächlich aber hat er viele Hindernisse früh erkannt. Einig war er sich mit Franklin D. Roosevelt, dass von kommunistischen Spionen eine große Gefahr ausging. Und Hoover fragte sich, wie man gegen sie vorgehen kann, wenn sie noch nichts gemacht haben – und sogar Bürger der USA waren. Roosevelts Lösung: Militärtribunale, die man als Vorläufer von Guantanamo sehen kann. Übrigens war es auch Roosevelt, der Hoover erstmals autorisiert hat, Abhöranlagen in privaten Haushalten zu installieren – als eine Art Inlandsgeheimdienst.

Hinterlassene Dokumentenspuren

Dass Hoover ein überzeugter Bürokrat war, zeigt sich noch auf andere Weise: Trotz seiner Besessenheit von Geheimhaltung hinterließ er enorm viele Dokumente und Papiere. „G-Man“ ist das erste Buch über Hoover, das bisher klassifizierte Quellen nutzen konnte – und alleine die kurze Nachbemerkung zu diesen „Primary Sources“ ist faszinierend. Beverly Gage konnte Unterlagen zu der Operation SOLO (Infiltrierung der Kommunistischen Partei), dem Venona-Projekt (Entschlüssung von Geheimnachrichten der UdSSR), Hoovers „office logs and appointment books“ sowie „Official and Confidential File“ einsehen. Dank unzähliger Anträge aufgrund des Freedom of Information Acts wurde Dokumente freigegeben, im National Archive finden sich seit kurzem unzählige Dokumente aus dem John F. Kennedy Assassination Records Collection Act – darunter auch Akten vom Church Committee, „which have only begun to be examined by historians“. Durch diese neuen Quellen gibt es viele neue Informationen zu COINTELPRO. Und wer weiß, was wir in den kommenden Jahren noch alles erfahren werden!

Beverly Gage jedenfalls nutzt diesen Materialreichtum für eine nuancierte, spannende Darstellung, in der sie auch die vielen verwerflichen Dinge benennt, die Hoover getan hat. Oftmals mit Wissen des Weißen Hauses und des Attorney Generals. Insbesondere in den 1960er Jahren wird zudem deutlich, dass Hoover seinem eigenen Idealbild des überparteilichen öffentlichen Bediensteten nicht mehr entspricht. Sein Handeln wird von seinen reaktionären Überzeugungen bestimmt. Zu lange führt er alles auf den Kommunismus zurück. Er ist überzeugt, Kommunisten stecken hinter der Bürgerrechtsbewegung, hinter den linken studentischen Aktivitäten, hinter den gewaltvollen Auseinandersetzungen, die in US-amerikanischen Städte ausbrechen. Die Möglichkeit, dass z.B. die Ergebnisse des Kerner-Reports zu Detroit 1967 stimmen könnten, zieht er gar nicht in Betracht. Ab Mitte der 1960er Jahre wägt er zudem sehr genau ab, welche Methoden gegen Schwarze Bürgerrechtsaktivist*innen möglich sind – und welche gegen Weiße College-Student*innen, die möglicherweise Eltern mit Verbindungen haben.

Dazu lässt er sich insbesondere von Lyndon B. Johnson davon überzeugen, das FBI für politische Zwecke einzusetzen. So überwachte es bspw. den Parteitag der Demokraten, auf dem Johnson zum Präsidentschaftskandidaten gekürt wurde. Hoovers Handlungen schürten das Misstrauen gegen die Bundesregierung, das es heute noch gibt – obwohl er doch einst sein Amt mit dem Ziel angetreten hat, dass die amerikanische Bevölkerung erkennt, die Bundesregierung sei eine Kraft für das Gute.

Eine Fundgrube – und eine herausragende historische Studie

„G-Man“ steckt voller überraschender und hochspannender Einzelheiten, die das Bild von Hoover nicht vereinfachen, sondern verkomplizieren. Er war ein eitler Mann, der FBI-Agenten dazu nutze, sein Buch zu verkaufen. Früh erkannte er, welchen Wert Öffentlichkeitsarbeit hat – für ihn persönlich, aber auch die Behöre. Er prägte das Bild von FBI-Agenten, das bis heute fortbesteht: ein weißer Mann, in der Regel Jurist, im dunklen Anzug. Diese Idealvorstellung wurde in Hollywoodfilmen und Serien bis heute perpetuiert.

Acht Präsidenten hat J. Edgar Hoover gedient – vier Demokraten, vier Republikanern. Er war beim FBI während des Red Scare zwischen den Weltkriegen, während der McCarthy-Hatz, dem Lavender Scare, dem Aufkommen der Bürgerrechtsbewegung, Kennedys Ermordung. Manchen Präsidenten war er eng verbunden – zu anderen pflegte er eine von Animositäten geprägte Distanz. Noch so ein bemerkenswertes Detail: Ausgerechnet mit Richard Nixon kam er nicht zurecht. Die Männer verband eine jahrzehntelange Freundschaft, sie waren sich in sehr vielen Dingen einig. Aber schon bald war Nixon davon genervt, dass Hoover auf schriftliche Anweisungen bestand – alleine schon um zu vermeiden, dass er derjenige ist, der für Nixon den Kopf hinhalten muss.

Hoover war ein Mann, der zu viel Macht erlangt hat – und sie zu oft missbraucht hat. Und zu lesen, wie er in diese einzigartige Position gekommen ist, sie ausbaute, missbrauchte und immer wieder verteidigte, ist höchstfaszinierend und aufschlussreich.

Beverly Gage: G-Man – J. Edgar Hoover and the Making of an American Century. Viking 2022. 837 Seiten.

Siehe auch hier nebenan in dieser Ausgabe: Alf Mayer schaut den Film J. EDGAR von Clint Eastwood – d. Red.

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