Geschrieben am 2. August 2024 von für Crimemag, Litmag, News, Special Thomas Wörtche, Thomas Wörtche

Alf Mayer: Salut für Thomas Wörtche – Not your normal Krimikritiker

Sich vom Dünkel der anderen nie beirren lassen

Eine Annäherung an die Arbeit von Thomas Wörtche – von Alf Mayer

Ohne TW könnten Sie das hier gar nicht lesen, gäbe es CrimeMag/ CulturMag nicht oder wie immer Sie uns nennen wollen (alles erlaubt). Zehntausend Beiträge umfasst unser Archiv inzwischen, der älteste Eintrag von Thomas Wörtche ist mit »Bodo Strauss und der ganz normale Wahnsinn« überschrieben und vom 14.01. 2001 datiert. Damals hieß das Online-Magazin du jour für Literaturbesprechungen noch »titel«. 2007-2008 machte man einen Relaunch und das Magazin wurde für den Grimme-Online-Award nominiert. Das hatte zur Folge, dass Leute, die vorher nie mitgearbeitet hatten, alles bestimmen wollten. »Da sind wir dann dort weg und haben CulturMag gegründet«, fasst Jan Karsten eine lange Geschichte kurz. Er traute sich, TW anzurufen und ihn zu fragen, ob er Lust hätte, ein Onlinemagazin für Kriminalliteratur herauszugeben. Es war der richtige Moment. TW hatte sich nach dem »metro«-Jahren gerade wieder mehr nach Berlin orientiert – siehe auch mein Interview mit Verleger Lucien Leitess und die ergänzenden Beiträge zur bahnbrechenden Krimireihe »metro« im Unionsverlag Zürich. Heute kennen wir ihn als Herausgeber von Kriminalliteratur bei Suhrkamp – ein neuer Meilenstein. Auch dazu habe ich ein Interview geführt.

Die Türöffner-Funktion der von TW herausgegeben »metro«-Reihe für eine moderne, internationale und eben nicht nur anglozentrisch aufgestellte Kriminalliteratur ist gar nicht hoch genug zu schätzen. Der globale Aspekt dabei genauso wichtig wie das literarisch Außergewöhnliche, »nennen wir’s mal out of formula … eine gezielt schubladenfreie Veranstaltung von Anfang an … alle subgenrehaften Limits abgeschafft« hieß das bei TW im Originalton. (Siehe auch sein Text über »The making of metro« in diesem Special.) Ein Markenzeichen der metro-Reihe waren von Beginn an die zusätzlichen Informationen zu Autor und Werk im Anhang, vier bis sechs, manchmal bis zu zwölf Seiten, von TW besorgt – und vom Start der Reihe im Frühjahr 2000 an auch im Web zu finden, damals ein durchaus innovatives Angebot. Der Merker vorne auf der Impressumsseite war obligatorisch:

Hinweis:
Auf Internet
Aktuelle Informationen,
Dokumente, Materialien
www.unionsverlag.ch

Solchen Mehrwert bietet heute durchgängig nur noch der Polar Verlag. Wundert es, dass TW in der Gründungsphase dessen Mentor war und in der zweimonatlich erscheinenden Hauszeitschrift »Polar Gazette« eine Kolumne schrieb? (Gesammelt erschienen 2015 im Band »Penser Polar«, in diesem Special finden Sie daraus den TW-Text zu seinen Krimi-Leseanfängen.)

»Keine Ahnung von Kunst und wenig vom Geschäft. Filmkritik 1963-1968« überschrieb der große Uwe Nettelbeck seine gesammelten Filmbesprechungen. TW als Kritiker könnte das ganz sicher nicht behaupten, bei allem Understatement, zu dem er  neigt – dem Anschein zum Trotz, den kleinere Lichter gerne von ihm haben. Wie kein einzig anderer Kritiker in diesen Landen hat er sich als Herausgeber und Vermittler mit Verlagsarbeit alle Finger blutig gemacht. Rund 250 bis 300 erschienene Titel, konservativ geschätzt, sind ihm zu verdanken. Gleichzeitig ist er als promovierter Literaturwissenschaftler aktiv. Mit »Phantastik und Unschlüssigkeit: zum strukturellen Kriterium eines Genres; Untersuchungen an Texten von Hanns Heinz Ewers und Gustav Meyrink. Studien zur phantastischen Literatur« erlangte er 1987 an der Uni Konstanz den Doktorgrad (Andrea Noack, war damals Kommilitonin – siehe ihren Text hier nebenan), in jedem Vortrag nagelt er den wackligsten Literaturdiskurs immer noch locker an die Wand. Und was den Kritiker angeht, ist er wie der erfahrenste Architekt & Handwerksmeister in einem, sein Auge für Konstruktion und Ausführung, Mängel, Tricks, Billigware oder innovative Werkstoffe und Entwürfe unbestechlich. Seine Neugier unermüdlich. Und er kann gar nicht anders, als kritisch zu sein. Für seinen kalten Blick ist er gefürchtet. Mein Enthusiasmus, sind wir uns einig, bildet den Gegenpol. Jedenfalls verstehen wir uns. Oft sogar ohne viel Worte. Unsere Redaktionsarbeit ist schlankes Mail-Pingpong. Auf den Punkt. Ultra-pragmatisch. Eine Freude. Immer wieder.

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Immer schon – und bis heute – ist TW nie nur das eine geblieben, das er gerade hauptsächlich war. Vielleicht hätte er ja alle zwei Jahre eine so gediegene, überaus informierte, verschwenderisch illustrierte Monografie herausgeben können wie »Keller« (Band 18. Die großen Klassiker. Literatur der Welt in Bildern, Texten, Daten. Andreas & Andreas, Salzburg 1982). Eine Karriere im akademischen Lehr- und Publizitätsbetrieb? Oder hauptberuflich mehr food porn? Leider blieb »Zwischen Shrimps und Schaschlik. Restaurantführer Berlin« (ars vivendi verlag 1994) ein Solitär. Im gleichen Jahr gab er auch die Anthologie »Neonschatten. Geschichten aus der bösen Stadt« heraus (Bastei-Lübbe, 1994).

Die Liebe Nummer Eins aber, so seltsam TWs Anfänge auf diesem Feld gewesen sein mögen, war, blieb & ist DIE KRIMINALLITERATUR. Wer sich in den 1970er und 1980er mit so etwas sozialisierte, lebte ja im Schlaraffenland. So gut wie jedes Jahr erschien ein neuer Eric Ambler, Ross Thomas, Derek Raymond, Jerome Charyn, J.G. Ballard, Ed McBain, Joseph Wambaugh, William Marshall, Adam Hall, Patricia Highsmith, Elmore Leonard, Simenon, James Lee Burke, Charles Willeford, Peter O’Donnell, Robert Campbell …

Die Entscheidung war »nur«, sich auch zu diesem Genre zu bekennen. Da hatte man augenblicklich das Brandmal »Trivial-Interesse« auf der Stirn. Wolfram Schütte, stellvertretend für viele Literaturkenner und Feuilletonisten, damals: »Ich lese keine Kriminalromane.« Noch im Mai 2010 führte Lothar Müller im Feuilleton der Süddeutschen unter der Überschrift »Der Main wird kälter. Der Umzug des Verlags nach Berlin ist das Symptom einer Krise – nicht der »Suhrkamp-Kultur«, sondern des Geschäftsmodell »Suhrkamp Verlag« das angekündigte Pilot-Programm von sechs Kriminalromanen als Beleg für den anstehenden Niedergang des Verlags an. Zitat: »Wer die sechs Pilot-Bände auch nur von ferne betrachtet, kann dieser Reihe den Wunsch, aus dem sie entstanden ist, an der Nasenspitze ablesen: ein Taschenbuchprogramm aufzulegen, das dort zündet, wo Umsatz gemacht wird, auch in den Buchabteilungen der großen Kaufhäuser und an den Tankstellen. Die grelle Reihe signalisiert die Sehnsucht nach Erlösen jenseits der traditionellen Suhrkamp-Insel-Taschenbuch-welt, jenseits der eigenen Backlist. Einer der Titel spielt noch in Frankfurt und heißt »Kalter Main«. Aber auch die Spree kann sehr kalt sein, manchmal sogar kälter als der Main.“ – Dies, nachdem im Januar 2009 Die Zeit bereits das »Unternehmen Mimikry. Der Suhrkamp Verlag schleicht sich auf den Krimimarkt“ argwöhnisch beäugt hatte. (Siehe dazu auch mein Interview mit Winfried Hörning, dem Leiter des Suhrkamp-Taschenbuchprogramms, in diesem Special.)

Kriminalliteratur also, selbst wenn sie von Suhrkamp kommt, noch 2010 für die Süddeutsche immer noch etwas für die Tankstelle oder fürs Verscherbel-Kaufhaus, das wohl gleich neben dem Laufhaus und jedenfalls gaaanz weit vom Literaturhaus liegt.

Ob zu unsern Lebzeiten solche Dünkel doch noch irgendwann fallen? Thomas Wörtche jedenfalls hat sich davon nie – wirklich nie – beirren lassen. Er hat die Kriminalliteratur in die Feuilletons getragen, in die Literaturhäuser, die Buchhandlungen, zu Lesungen und Kongressen. Ich entsinne mich an eine Krimi-Tagung im Literarischen Colloquium in Berlin (am Wannsee?, Seegrundstück) ganz frühe 1990er, vielleicht deutsche Zweistaatlichkeit. Jedenfalls etwas Deutsch-Deutsches, hoch-interessierte DDR-Autorinnen und Autoren, im Zimmer neben mir probte ein Paar die ganze Nacht lang Wiedervereinigung. Ich sprach auf Einladung von Thomas zum Thema »Subversiver Humor im Kriminalroman«, begann mit einem schmutzigen Zitat von Danil Charms. Das war aber nicht unsere erste Begegnung.

Ich weiß von damals, wie wichtig für Thomas die »Semana Negra« in Gijón war. Wie er bei den Begegnungen mit Autoren aus aller Welt dort auftankte. Er warf sich hauptberuflich – sein ganzes Berufsleben immer frei, manchmal eben auch vogelfrei, manchmal Werkvertrag – auf die Mission, der Kriminalliteratur zu mehr Ansehen zu verhelfen. Das tut er jetzt seit gut 40 Jahren. Aus allen Rohren. Mit aller Kraft. Und allem Spaß.

Damals, im Jahr 1990/91 zusammen mit dem DDR-Autor Manfred Drews, geschah das mit »Underground. Das internationale Krimi-Magazin« (siehe dazu auch Lutz Göllner in dieser Ausgabe). »Erlauben Sie uns, Ihnen ein neues Magazin vorzustellen, das jetzt im Buchhandel erhältlich ist«, erhielt ich im Dezember 1990 vom »Absatzleiter Reiher Verlag Berlin« ein Besprechungsexemplar.

Das Editorial proklamierte: »Underground ist das Magazin für Crime fiction, black novel, novela negra, roman noir, Kriminalliteratur, und wie auch sonst in aller Welt unser Genre bezeichnet werden mag. Nicht nur als literarische Veranstaltung, sondern in der ganzen Bandbreite seiner Bezüge, Traditionen, Ausdrucksmöglichkeiten von Film, Hörspiel, Video, Comic, Musik, Spielen und natürlich Literatur… Underground beobachtet weltweit die Szene und berichtet über Hintergründe… Underground ist das internationale Magazin für Kriminalliteratur und das gleich viermal im Jahr.«

Im nun mehr dritten Jahr dürfte kein Zweifel mehr herrschen, schrieb TW in der ersten Nummer: »Die SEMANA NEGRA im asturischen Gijón hat sich weltweit als das wichtigste Festival zur Populären Kultur etablieren können. Davon zeugen nicht nur die rund eine Million Besucher, die sich in diesem Jahr auf knapp fünf Tage verteilten (im Vergleich: die Frankfurter Buchmesse bringt es auf knapp 250.000) oder das weltweite Medieninteresse (von der Village Voice bis zum mexikanischen Fernsehen) … – Gijón ist und bleibt weiterhin die relevante Ideen- und Kontaktbörse von Autoren aus aller Welt, die wie auch immer, mit Crime Fiction zu tun haben.« Daneben ein Foto von Ross Thomas, cool mit Sonnenbrille … Natürlich fixt so etwas auf ziemlich lange Zeit an. Keine Frage.

Underground-Band 4 zählte im Impressum bereits Büros in Barcelona, Mexiko, Moskau, New York Wien, Brüssel und Paris auf und freute sich im Editorial: »Die Anziehungskraft von underground ist ungeheuer. Die Herausgeber werden der Springflut von Manuskripten, Illustrationen und Anfragen um Mitarbeit kaum noch Herr.« Irgendetwas aber versiegte doch. Nummer 5 ward nie gesehen. Trotzdem. Natürlich. Anker hoch. Und auf zu neuen Ufern.

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Ich hatte meinen eigenen Stromstoß 1986 in New York erhalten, wo ich bei einer Reise die Lektorin Ruth Cavin, den Publizisten Michael Seidman und den Buchhändler und Verleger Otto Penzler traf. Der, deutschstämmig, nahm sich einen halben Tag Zeit und malte mir den Krimihorizont in glühendsten Farben, empfahl mir unter anderem den dann 1987 erschienenen Roman »Alice in La-La Land« von Robert Campbell, der ihm unter der Nase weggekauft worden sei. Zurück in Frankfurt bestärkte mich das, mehr über Kriminalromane zu schreiben. In Cohn-Bendits »Pflasterstrand«, im »mid« (dem »Medien-Informationsdienst«) und dann seit Juni 1986 bis heute jeden Monat im Stadtmagazin »strandgut«. Meine Krimikolumne taufte ich, an Hammett angelehnt und an die Red Harvest Filmproduktion meines Münchner Freundes Wolf-Eckart Bühler, «Blutige Ernte«. Meine Vergangenheit als eigentlich Hoferbe im Allgäu und die Kindheit mit einem cholerischen Vater auch mit drin. Der kathartische Umgang mit Gewalt denke ich war es, der mich bei der Kriminalliteratur mehr anzog als alle pfeiferauchenden Detektive. Na ja, und ebendort auch die Spiegelung/ Verarbeitung unserer gewalttätigen Gegenwart und jüngeren Geschichte.

Vielleicht hat so etwas TW und mich zueinander gebracht. Kommunizierende Röhren, die prä-internet nichts voneinander wussten, hatte er doch zu etwa selben Zeit im Nürnberger Stadtmagazin »plärrer« eine Krimikolumne begonnen, ihr den Namen «Leichenberg« verpasst.

Wir kannten uns schon ein, zwei Buchmessen, als ich 1989 für das von ihm und Martin Compart herausgegebene erste «Jahrbuch der Kriminal-Literatur« den mit 35 Seiten zweitlängsten Artikel lieferte – nach dem 44-seitigen »Plädoyer für einen Sieger. Warum die Kriminalliteratur keine Verteidigung braucht«. Autor: Thomas Wörtche. Meine Recherche, die Lebensgeschichte des Exilanten Karl Anders, der für die BBC-Deutschland von den Nürnberger Prozessen berichtete und Hammett, Chandler und Ambler als »Krähen«-Bücher nach Deutschland brachte und sich (wie TW bis heute unermüdlich) für Kriminalliteratur einsetzte, war denke ich die Grundlage dessen, dass wir uns bis heute geradezu blind verstehen. Und vertrauen.

Biographisch lange auf verschiedenen Fregatten  und Weltmeeren unterwegs, fanden wir auf dem Dreimaster »CulturMag« zueinander – und stehen seit 2017 gemeinsam auf der Brücke von »CrimeMag«. Er ist der Dienstältere, ich gleiche das mit Metteursarbeit ab.

Juni 2014: Bei KrimisMachen 2 in der Frankfurter Nationalbibliothek zusammen mit Ann Anders über ihren Vater, den „Krähen-Meister“, der Chandler und Hammett ins Nachkriegs-Deutschland brachte

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»An jedem Samstag werden wir Sie in Zukunft mit Krimi-Empfehlungen oder -Warnungen versorgen. Heute bespricht Thomas Wörtche »Hollywood Station« von Joseph Wambaugh«, hieß es erstmals am 22. Februar 2008. Wöchentlich erschien hinfort unter seiner Federführung das CrimeMag. Eine kleine Schaluppe, verglichen mit dem heutigen Flottenverband. Aber bald schon legendär: die oberschrägen Kolumnen von Carlos (aka Carlo Schäfer) und der immer respektlose TW-Blick auf Branchenentwicklungen und allerlei Krimi-Hype.

Im September 2011 lud TW mich ein, doch mal fürs CrimeMag zu schreiben, gern extended, was ich seit 1986 im Frankfurter «strandgut» unter dem Kolumnentitel »Blutige Ernte« veröffentlichte. Mein Einstieg war ein großer Text über Charles Bowden und sein nie bei uns übersetztes Buch »Murder City. Ciudad Juárez and the Global Economy’s New Killing Ground« über die damals tödlichste Stadt der Welt. Zur vorgeschlagenen Überschrift »Bring mir den Kopf von Alfredo Garcia« zuckte er mit keiner Wimper. «strandgut» war ein Printmagazin, in dem ich jede Freiheit hatte, kein Text aber never ever über eineinhalb Magazinseiten hinausging. Die neue Freiheit wusste ich zu schätzen. Ein Nachruf auf Elmore Leonard wurde zum Dreiteiler, letztlich zur Vorstufe für »King of Cool«, ein Buch zusammen mit Frank Göhre. Das Porträt des Thriller-Autors Stephen Hunter wurde zweiteilig, wuchs sich zu einer achteiligen (und unvollendeten) »Kulturgeschichte des Scharfschützen« aus. Wo sonst hätte ich so etwas machen können, Wörtche stets zungenschnalzend meine Exzesse goutierend. Wir hatten Spaß, unsere Leserschaft hoffentlich ein wenig Erkenntniszugewinn.

Ein Blick auf die Drinks bei Ross Thomas und den »Alkohol im Kriminalroman« wuchs sich zu neun Folgen aus, das Thema buchstäblich ein Fass ohne Boden. Endlich konnte ich den Thrillerautor Adam Hall umfassend würdigen und mit »Schweres Wasser – Leichte Mädchen … Die Mister-Dynamit-Romane von C.H. Guenter« über die Romanserie MISTER DYNAMIT mit dem BND-Agenten Bob Urban »Eine etwas andere Kulturgeschichte der Bundesrepublik« aufblättern. Thomas lud mich mit dem Thema ins Brecht-Haus Berlin ein, das brachte mich in Kontakt mit dem (damals) Chefhistoriker des BND, mit Bodo V. Hechelhammer, ein MISTER DYNAMIT-Fan wie ich, und es gelang mir, ihn als Autor bei uns anzuwerben. So lernte er dann – ziemlich cool im Geburtstags-Beitrag hier nebenan beschrieben – auch Thomas Wörtche kennen, der sich ihm (als Co-Herausgeber) mit dem unvergesslichen Satz vorstellte: »Ich bin Dein Chef.«

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CrimeMag erschien damals monatlich zur Mitte des Monats, verschob sich aber auch gerne mal. Als deadline-gestählter Tageszeitungs- und dann Magazinjournalist erhob ich öfter Einspruch, das brachte mir das Angebot, doch in die Redaktion einzusteigen. Chef vom Dienst hatte mir bereits als gut bezahlter Feuerwehrjob beim Werber-Blatt »Horizont« und bei der IG Metall gefallen. Ehrenamtlich im Reich der Freiheit hatte ich es noch nicht  probiert.  Nun, ich mache es bis heute – und auch für diese Ausgabe. TW wollte sich damals aus der Tagesarbeit zurückziehen, es war die Zeit, als es bei Suhrkamp ernst wurde, eine Kriminalliteratur-Reihe herauszugeben.

Zoë Beck und ich bildeten die neue Redaktion. Wir lernten by doing und not so doing, dass Romane schreiben und Redaktionsarbeit nicht unbedingt dauerkompatibel sind. No harm done. TW kam zurück, wenn auch mit eingeschränkter Arbeitskapazität. Die von uns beiden sehr geschätzte Sonja Hartl stieg mit ein und wir verlegten das Erscheinungsdatum auf Anfang des Monats. – Seit nun September 2019 habe ich eisern durchgehalten, dass unser Magazin immer zum Monatsersten erscheint.

Wann und wie ich Thomas Wörtche kennengelernt habe, weiß ich nicht mehr. Wie Frank Nowatzki so schön in meinem Interview (hier nebenan in diesem TW-Special) sagt: „Wer in den 1980ern dabei war und sich noch erinnern kann, kann nicht wirklich dabei gewesen sein.“ Mir ist der fette Tequila-Wurm noch in Erinnerung, den Martin Compart in Zeitlupe bei einem feuchten Treffen aus der leeren Flasche saugte … Für die erste Begegnung mit Thomas würde ich die Frankfurter Buchmesse vermuten – und bald dann, rituell, gemeinsames carnivores Schwelgen in einem Westend-Fleischtempel. Ahh, das beef Wellington… Seit 1978, als ich nach Frankfurt zog, bin ich jedes Jahr auf der Messe. Ist mein Wallfahrtstermin. Und schlicht eine Gelegenheit, an englischsprachige Bücher zu kommen, die erst in Jahren oder nie oder sündhaft teuer in der Beschaffung zu uns finden. Ich bin ja nicht mit Literaturagenten und Scouts vernetzt. Dafür haben wir dich, lieber Thomas.

Und für so viel mehr.

Anderswo würde man dich »a national treasure nennen«, in Australien einen »character« (siehe David Whish-Wilson in dieser Ausgabe), aber auch eine Schärpe samt Halsbandorden würde dir prächtig stehen. Fühl dich also von dieser unserer Jubiläumsausgabe »70 Jahre TW« zum Ehrenoberlegionär des Arts et Lettre geschlagen. Dienstfregatte inklusive.

Cheers, wie du immer so schön sagst. Heute mach ich das auch mal

Alf

P.S. Der ideale Kriminalroman à la Thomas Wörtche
Im Jahr 2000, anlässlich der von ihm im Unionsverlag herausgegeben deutschen Ausgabe von »Manila Bay« (1986) – übersetzt von Anke Carolin Burger, die dafür den Christoph-Martin-Wieland-Übersetzerpreis erhielt und auch zu unseren Geburtstags-Stimmen gehört – hat Thomas einmal programmatisch seine Anforderungen an die Kriminalliteratur formuliert. Zitat:

»Den idealen Kriminalroman gibt es nicht. Weil der ideale Kriminalroman gleichzeitig das Genre revolutionieren (und die nicht genregebundene Literatur gleich ein bisschen mit) und alle seine bisherigen Errungenschaften bündeln müsste. Er müsste spannend und entspannend sein. Er müsste neue Erkenntnisse über Welt und Gesellschaft vermitteln und alles, was wir über die Conditio Humana wissen, nicht vergessen. Er müsste komisch und tragisch sein. Er müsste peniblen Detailrealismus pflegen und Halluzination von Dingen jenseits aller Realismen sein. Er müsste eine Moral haben und alte wie neue Konzepte von Moralität, von Legitimität und Legalität und deren Antithesen diskutieren. Er müsste einen gewissen Gerechtigkeitssinn befriedigen und nicht aus den Augen verlieren, dass es ungerecht zugeht auf der Welt.
Er soll Helden und Schurken allerlei Geschlechts beherbergen, doch die sollen keine eindeutigen Charaktere sein. Er soll Haupthandlungen und Nebenhandlungen verwirrend und doch glasklar miteinander verweben, falsche Spuren auslegen und die richtigen dennoch nicht durcheinander bringen. Er soll Rätsel über Rätsel aufwerfen, und er soll sie wieder auflösen. Aber nicht total, weil das unglaubwürdig wäre. Außerdem soll er schnell erzählen und doch episch. Er soll uns Weltgegenden zeigen, die wir nicht kennen. Aber wer sie kennt, soll sie auch wieder erkennen können.
All dieses und noch vieles mehr ist der ideale Kriminalroman. Den gibt es verständlicherweise – so – nicht.
Aber es gibt immerhin die Romane von William Marshall… «

So der Beginn seines Essays »William Marshall, Das Lachen, Ein Albtraum«, vollständig hier zu lesen. Zu dem heute fast schon wieder vergessenen, nichtsdestoweniger jedoch großen und innovativen Autor ebenfalls von ihm: »Zwischen nightmare und fun. Die heitere Absurdität in den Romanen William Marshalls«, dokumentiert bei kaliber.38. – Nach dem Urteil der Christoph-Martin-Wieland-Jury übrigens erschloss damals Anke Caroline Burger »mit ihrer zupackenden Übersetzung von Manila Bay dem Leser im deutschsprachigen Raum neue Erzählformen des Kriminalromans«.

PPS. The Price You Pay, so lautet der Orginaltitel von »Fuck You Very Much« von Aidan Truhen – ein Pseudonym von Nick Harkaway, der wiederum ein Sohn von John Le Carré – mit dessen Cover TW im Frühjahr 2018 all jene, die es natürlich auf solch einem Feld in einem solchen Arbeitsleben auch gibt, mit einer eindeutigen Geste bedachte … William Marshall hätte sich schiefgelacht.

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