Geschrieben am 1. Juni 2024 von für Crimemag, CrimeMag Juni 2024

Ingrid Mylo: 3×11 Spielworte (30) – Messer, Leben II, Engel

Wer liest, sammelt Sätze. Manchmal bewußt. Manchmal ist ein einziges Wort ausschlaggebend: hartnäckig taucht es immer wieder auf. Fliege, zum Beispiel. Oder Mitternacht. Oder Asphalt. In ganz unterschiedlichen Büchern und Zusammenhängen, bei ganz unterschiedlichen Schriftstellern. Solche Fliegensätze oder Mitternachtssätze oder Asphaltsätze finden, immer elf an der Zahl, in der Serie 3 x 11 Spielworte ihren Platz. Ein Spaß, ein Zeitvertreib. Und eine andere Art, auf Bücher zu deuten.

Spielwort: Messer

Elf Zitate zusammengelesen von Ingrid Mylo


            „Nimm dir das Messer vom Tisch, du wirst es noch brauchen“, fährt James B. fort, in einem Ton, als sei er direkt von der Bibel entsprungen.
– Adam Johnson: Nonc & Geronimo

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            Das Messer weiter zu benutzen war wichtig, um das Gefühl aufrechtzuerhalten, daß sein Freund noch immer bei ihm war.
– Cynan Jones: Alles, was ich am Strand gefunden habe

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            Dann rammte er das Messer an der Stelle in die Wand, wo sich der Hals seiner Schattengestalt befinden mußte.
– Varujan Vosganian: Das Spiel der hundert Blätter

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            Die Stelle, wo das Messer eingedrungen war, ließ keine Hoffnung zu.
– Erri De Luca: Der Tag vor dem Glück

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            Laurens’ Mutter behauptete, die Messer seien so scharf, daß wir uns schon allein beim Hinschauen die Augen an ihnen schneiden könnten.
– Lize Spit: Und es schmilzt

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            Ich halte das Messer hoch und lasse es durch die Luft wirbeln, damit der Feuerschein darauf fällt und sie erschrickt.
– Ottessa Moshfegh: McGlue

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            Zuerst dachte ich, ich sollte aus Scham das Messer in mein Herz rammen, sah dann aber ein, daß mein Herz der einzige Zeuge war, der mich bis zu seinem Ende warnen würde.
– David Albahari: Das Tierreich

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            Ich erinnere mich an ein Sprichwort, das jemand in die Rinde eines alten Baumes geritzt hatte: ob das Messer in die Melone fällt oder die Melone ins Messer, die Melone zieht den Kürzeren.
– Alexandra Kleeman: Ein Märchen

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            „Jauchzet, frohlocket, auf, preiset die Tage“, jubelten die Sängerknaben, als ich das Messer wieder zur Hand nahm.
– Antonio Fian: Das Polykrates-Syndrom

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            Plötzlich sahen die Messer nicht mehr so gefährlich aus.
– Jonas T. Bengtsson: Kugelfisch

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            Und wie hätte er ihr erklären sollen, was das Wort bedeutete, wenn kein Messer da war, auf das er hätte zeigen können?
– Michael Köhlmeier: Das Mädchen mit dem Fingerhut

Spielwort: Leben II

Elf Zitate zusammengelesen von Ingrid Mylo


            Wir sind alle aufmerksame Zeugen unseres eigenen Lebens, nicht wahr? Wir schauen zu, wie es passiert.
– James Sallis: Sarah Jane

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            Nun ja, wenn man das Leben mit irgendetwas vergleichen will, dann müßte man es so sehen, als würde man mit fünfzig Meilen je Stunde durch die Untergrundbahn geschleudert – und am Ende ohne eine einzige Haarklammer in der Frisur ankommen!
– Virginia Woolf: Der Fleck an der Wand

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            Mein Leben, sagt er trotzig und denkt, wie kommt sie dazu, mich zur Rechenschaft zu ziehen, ebenso könnte ich nach ihrem Leben fragen, wahrscheinlich ist sie Schullehrerin geworden oder Schriftstellerin, sie redet so merkwürdig, ja, das wird es sein.
– Marie Luise Kaschnitz: Ein Mann, eines Tages

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            Wenn sie, die davon lebte, die Netze der Fischer zu flicken, doch nur wüßte, warum sie so am Leben hing!
– Selma Lagerlöf: Der Roman einer Fischersfrau

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            Sie meinte, zu ehrlich gesprochen zu haben, und in dieser Ehrlichkeit sah sie den Grund dafür, daß ihr Leben so furchtbar öde war.
– Ding Li: Tagebuch einer Selbstmörderin

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            Im Grunde weiß jeder, daß vor allem das, was nicht passiert ist, unser Leben prägt; diese Tatsache sollte man weder beschönigen noch bestreiten, denn ohne Enttäuschungen gäbe es keinen Anlaß zum Tagträumen mehr.
– Claire-Louise Bennett: Teich

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            War sie wirklich einfältig genug, um vom Leben die Enthüllung eines Geheimnisses zu erwarten, wo es nur endlose Wiederholungen bringt?
– Marguerite Yourcenar: Der erste Abend

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Bestimmt wußte sie am Ende ihres Lebens nicht, was sie anziehen sollte.
– Manuel Vilas: Was bleibt, ist die Freude

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            Wenn es ein einzelnes Gefühl gibt, das mein Leben definiert hat, dann ist es das Gefühl – eher eine Wahrnehmung als ein Gedanke – , daß nur einsame Zimmer sicher sind.
– Donald Antrim: An einem Freitag im April

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            Immer hatte ich mich vom Leben rückwärts anspringen lassen, und beim einzigen Mal, als ich ihm direkt in die Augen sah, hatte es mir eine Ohrfeige gegeben.
– A. F. Th. van der Heijden: Fallende Eltern

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            Mein Leben findet wenn und bis und gestern und morgen und vor einer Minute und nächstes Jahr und dann und wieder und immer und nie statt.
– Samantha Harvey: Das Jahr ohne Schlaf

Spielwort: Engel

Elf Zitate zusammengelesen von Ingrid Mylo

            Wie schön wäre es, einen Engel zu treffen, dachte ich, doch dann fiel mir gleich wieder ein, daß ich das ja schon hatte.

– Patti Smith: M Train

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            Der Engel, in reines, herrliches Licht gehüllt, soll aus Neugier eine einzige Weintraube von dem gut gefüllten Bankett probiert haben und auf der Stelle umgefallen sein. Tot.

– Alexandra Kleemann: Hylomorphis

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            „Tja, das eröffnet uns wohl eine ganz neue Sicht auf Engel“, bemerkte ich zu meinem Eau-de-Cologne-getränkten Sitznachbarn, „oder aber eine sehr alte Sicht, wenn man ihre nicht unbedrohliche Darstellung im Alten Testament berücksichtigt.“

– Kerry Howley: Geworfen

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            Meine Mutter starb ein paar Jahre, nachdem sie das mit dem Engel gesagt hatte, aber das klingt tragischer, als es ist.

– Lena Gorelik: Mehr schwarz als lila

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            Im Augenblick des Sterbens sieht man lieber einen Engel als überhaupt nichts.

– Margaret Atwood: Wiedergänger

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            Wenn man in Amerika Teufel sieht, sperren sie dich ein, aber wer Engel sieht, wird ins Frühstücksfernsehen eingeladen.

– David Sedaris: Wer’s findet, dem gehört’s

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            Er war den größten Teil seines Lebens Fischer, damit war erst Schluß, als er einen Engel sah.

– Peter Hoeg: Der Susan-Effekt

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            Wenig später fragte ich ihn, was er mache; aber eigentlich war ich überzeugt, ein Mensch mit solchen Händen könne nichts anderes tun als Engel mastubieren.

– Félix J. Palma: Der tapfere Anästhesist

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            Er sah noch einmal hinauf zu dem Engel wie zu einem Freund und dachte: Du könntest mich töten.

– Angelika Overath: Unschärfen der Liebe

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            Als Kind träumte ich von Engeln mit narbigen Gesichtern, die mich haufenweise mit Scheiße zudecken.

– Etgar Keret: Julia

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            Jetzt beugten sich die finsteren Engel der Trennung über mich, und mit plötzlicher Wucht erkannte ich die Spannweite von allem.

– Arno Geiger: Selbstportät mit Flußpferd

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Die bisherigen Spielworte im Überblick:
ménage à trois (1): Bahnhöfe, Fliegen, Lippenstift
ménage à trois (2): Stühle, Socken, Sterne
ménage à trois (3): Telefon, Zähne, Scherben
ménage à trois (4): Zwiebeln, Friedhöfe, Zigaretten
ménage à trois (5): Handtaschen, Kaffee, Stille
ménage à trois (6): Listen, Schnee, Gedanken
ménage à trois (7): Kerzen, Toiletten, Worte
ménage à trois (8): Unterwäsche, Bücher, Suppe
ménage à trois (9): Steine, Schritte, Sonnenuntergänge
ménage à trois (10): Masken, Gespenster, Koffer
ménage à trois (11): Briefe, Fische, Gesten
ménage à trois (12): Listen II, Katzen, Schatten
ménage à trois (13): Spinnen, Universum, Narben
ménage à trois (14): Mäntel, Hunde, Uhren
ménage à trois (15): Knöpfe, Leben, Glas
ménage à trois (16): Ohren, Handschuhe, Tod
ménage à trois (17): Finger, Wasser, Fernsehen
ménage à trois (18): Bett, Geheimnis, Wörter
ménage à trois (19): Augen, Mitternacht, Taschenlampe
ménage à trois (20): Beine, Kuß, Schnecken
ménage à trois (21): Spiegel, Bedeutung, Schildkröten 
ménage à trois (22): Inseln, Herz, Würmer
ménage à trois (23): Löcher, Liebe, Brücken
ménage à trois (24): Fenster, Kugel, Füße
ménage à trois (25): Fingernägel, Bienen, Dinge
ménage à trois (26): Ameisen, Brillen, Zukunft
ménage à trois (27): Bier, Eulen, Wünsche
ménage à trois (28): Arme, Moment, Bleistift
ménage à trois (29): Fliegen II, Brunnen, Gedächtnis

Vier Blicke auf Ingrid Mylos Gedichtband Überall, wo wir Schatten warfen.
Ingrid Mylo bei uns auf CulturMag.
Siehe auch: Katherine Mansfield / Ingrid Mylo: Alles, was ich schreibe – alles, was ich bin, Texte einer Unbeugsamen (Marix Verlag). Besprechung von Alf Mayer hier.

In 2023 von ihr in der Edition Azur bei Volland & Quist erschienen: Die Entfernung der Sterne – hier bei uns besprochen.

Hinweis: Im Rahmen von KASSELBUCH 2024, am Samstag, 4. Mai, 14 Uhr,
unterhält sich der Verleger Lothar Wekel vom Verlagshaus Römerweg mit derDichterin, Übersetzerin und Herausgeberin Ingrid Mylo über das Werk von Katherine Mansfield.  

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