Wer liest, sammelt Sätze. Manchmal bewußt. Manchmal ist ein einziges Wort ausschlaggebend: hartnäckig taucht es immer wieder auf. Fliege, zum Beispiel. Oder Mitternacht. Oder Asphalt. In ganz unterschiedlichen Büchern und Zusammenhängen, bei ganz unterschiedlichen Schriftstellern. Solche Fliegensätze oder Mitternachtssätze oder Asphaltsätze finden, immer elf an der Zahl, in der Serie ‚Spielwort‘ ihren Platz. Ein Spaß, ein Zeitvertreib. Und eine andere Art, auf Bücher zu deuten.

Spielwort: Beine
Elf Zitate zusammengelesen von Ingrid Mylo
Nun, die Wahrheit war die, daß kaum ein Bein wie das andere war.
– Heinrich Steinfest: Amsterdamer Novelle
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Andere Frauen haben Beine wie Spielzeuge, meine sind wie fremdländische Monster: jedes Mal bin ich erstaunt.
– Marina Zwetajewa: Ich sehe alles auf meine Art
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Ihre Beine, bleich und an mehreren Stellen mit alten blauen Flecken gesprenkelt, paßten zu den Dielenbrettern.
– Danielle McLaughlin: Die Kunst des Fallens
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Moira Morrison rätselte, welche Farbe die Beine eigentlich unter Wasser hätten.
– Katherine Mansfield: Ehe, ganz modern
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Oft wurden Essensreste aus dem Abfluß hochgeschwemmt, wenn ich gerade duschte, und ich rieb mir versehentlich die Beine damit ein, wenn ich mich einseifen wollte.
– Emeli Bergman: Die andere Seite des Tages
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Diese Mumie – mich schaudert’s wenn ich mir vorstelle wie es bei der zwischen den Beinen aussieht sie besprengt sich ja über und über mit Parfüm aber von unten her stinkt sie
– Simone de Beauvoir: Monolog
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Die Kellnerin, jeweils ein Bein auf dem Stuhl, zieht sich hinter der Theke die Gesundheitsschuhe an.
– Peter Handke: Die Zeit und die Räume
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Das bereitete ihr so lange Vergnügen, bis sie plötzlich nur mehr seine Beine in dünnen, geflickten Samthosen in die Luft ragen sah.
– Ilse Aichinger: Das Fenster-Theater
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Er versuchte sich vorzustellen, was er sein Leben lang alles getrunken hatte – mit einem Bein stand er bereits im Grab.
– Sacha Naspini: Nives
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Sobald ich aber im Studio bin, bin ich ein Metzger, der kein Problem damit hat, ohne zu zögern einem lieb gewonnenen Text die Beine abzuhacken.
– Nick Cave zu Séan O’Hagan: Glaube, Hoffnung und Gemetzel
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Bitte halten Sie meine Beine! Bitte halten Sie meine Beine! Bitte halten Sie meine Beine! bitte halten Sie meine Beine!
– Anais Nin: Geburt

Spielwort: Kuß
Elf Zitate zusammengelesen von Ingrid Mylo
Der Kuß hatte seinen Ursprung, nahm sie an, darin, daß ihre Hände vom Spülen naß waren und sie ihren Mann nicht naßmachen wollte.
– Padgett Powell: Gib mir Süßes, sonst gibt’s Saures
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Er betrachtet sich im Rückspiegel, um zu sehen, ob der Abdruck dieses Kußes noch zu sehen ist.
– Georgi Gospodinov: Physik der Schwermut
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Er ist kaum zehn Jahre alt, noch in dem Alter, in dem man einen Kuß als Strafe empfindet.
– Joel Haahtela: Sehnsucht nach Elena
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Er wurde gelassener und war sogar auf Küsse gefaßt.
– Alice Munro: Zug
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Der Kuß und das mit ihm verbundene Versprechen war alles, was er hatte haben wollen und was ihm geblieben war.
–Jo Nesbø: Der Sohn
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Katherine nahm Dickies Kopf in beide Hände und gab ihm einen langen, langsamen Kuß, denn sie wußte, daß selbst er aufhören mußte zu sprechen, solange sich ihre Zunge in seinem Mund befand.
– Edward St Aubyn: Der beste Roman des Jahres
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„Der Kuß, den ich dir gegeben habe, hat der dir wenigstens gefallen?“
– Erri De Luca: Fische schließen nie die Augen
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Später, als das Mädchen versuchte, die Erinnerung an den Kuß und den damit verbundenen, mit nichts vergleichbaren, aber nicht unangenehmen Geruch zu beleben, kamen ihr am ehesten warmer Schweiß und Topfen mit Rosinen in den Sinn.
– Zsófia Bán: Das Museum der Dinge
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Ich dachte daran, daß Stellas Küsse nach einer fremden Sonne geschmeckt hatten, die meines Cousins hingegen nur nach Bazooka-Kaugummi.
– Ela Angerer: Bis ich 21 war
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Wir tauschten Küsse, wie eingeschworene Feinde Kriegsgefangene tauschen.
– Steve Tesich: Abspann
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Falls sie mit einem Kuß gerechnet hatte, wurde sie enttäuscht.
– Arnaldur Indridason: Nacht Über Reykjavik

Spielwort: Schnecken
Elf Zitate zusammengelesen von Ingrid Mylo
Selbst die Schnecken kamen unter ihrem Stein hervor und hatten etwas besonders Scheußliches mit der großen grünen Bedrohung vor.
– Terry Pratchett: Ub und die Kröte
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Ich hatte noch nie Schnecken gesehen, die sich beeilten – sie waren derart peinlich, daß ich eine Stunde über sie gelacht habe.
– Tatjana Tibuleac: Der Sommer, als Mutter grüne Augen hatte
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Leo tritt versehentlich auf eine Schnecke, und es sieht aus, als würde er den Schmerz des Tieres am eigenen Leib erleiden.
– Angelika Klüssendorf: Vierunddreißigster September
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„Keine Illusionen, Sohn“, erwiderte Don Roque. „Das Unglück ist wie eine Schnecke.“
– Gabriel García Márquez: In diesem Dorf gibt es keine Diebe
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[…] und letzte Nacht, die er ohne mich verbracht hat, war er wütend, weil er keine drei Schnecken wie von Dali auf seiner Wärmflasche gefunden hat.
– Deborah Levy: Schöne Mutanten
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[…] Ron Weasley, Harry Potters Freund, dessen Zauberstab kaputt ist, weshalb er eine Art Fluch ist über sich selbst ausspricht, der darin besteht, Schnecken zu spucken; er quillt förmlich über vor Schnecken, sie brechen aus ihm hervor, und deshalb gibt Hagrid ihm einen Eimer, über den er sich beugen kann, in dem die Schnecken gesammelt werden können.
– Christina Hesselholdt: Gefährten
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„Ich würde nicht gerne Schnecken essen.“ Ich stand auf. „Es wäre nicht richtig, sie aus ihrem Haus zu holen.“
– Claire Fuller: Unsere unendichen Tage
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Selbst wenn ich eine Woche keinen Menschen zu Gesicht bekam – der Kontakt mit einer Schnecke reichte, um die Einsamkeit zu vertreiben.
– Catherine Raven: Fuchs & ich
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„Aber trotzdem wüßte ich nicht, warum wir eine Schnecke an der Wand haben sollten.“
– Virginia Woolf: Der Fleck an der Wand
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Lass uns was anderes spielen, sagen sie, aber ihnen fällt nichts ein, und so katapultieren sie mithilfe von Haselnußzweigen lustlos einige Schnecken über die Gartenmauer, aber irgendwie tun ihnen die Schnecken leid.
– Samantha Harvey: Das Jahr ohne Schlaf
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Eine furchtbare Erfindung, die Schnecke.
– Karin Schneuwly: Die kleinsten Dinge

Die bisherigen Spielworte im Überblick:
ménage à trois (1): Bahnhöfe, Fliegen, Lippenstift
ménage à trois (2): Stühle, Socken, Sterne
ménage à trois (3): Telefon, Zähne, Scherben
ménage à trois (4): Zwiebeln, Friedhöfe, Zigaretten
ménage à trois (5): Handtaschen, Kaffee, Stille
ménage à trois (6): Listen, Schnee, Gedanken
ménage à trois (7): Kerzen, Toiletten, Worte
ménage à trois (8): Unterwäsche, Bücher, Suppe
ménage à trois (9): Steine, Schritte, Sonnenuntergänge
ménage à trois (10): Masken, Gespenster, Koffer
ménage à trois (11): Briefe, Fische, Gesten
ménage à trois (12): Listen II, Katzen, Schatten
ménage à trois (13): Spinnen, Universum, Narben
ménage à trois (14): Mäntel, Hunde, Uhren
ménage à trois (15): Knöpfe, Leben, Glas
ménage à trois (16): Ohren, Handschuhe, Tod
ménage à trois (17): Finger, Wasser, Fernsehen
ménage à trois (18): Bett, Geheimnis, Wörter
ménage à trois (19): Augen, Mitternacht, Taschenlampe
Vier Blicke auf Ingrid Mylos Gedichtband Überall, wo wir Schatten warfen.
Ingrid Mylo bei uns auf CulturMag.
Anfang des Jahres von ihr erschienen: Katherine Mansfield / Ingrid Mylo: Alles, was ich schreibe – alles, was ich bin, Texte einer Unbeugsamen (Marix Verlag). Besprechung von Alf Mayer hier.
Gerade von ihr in der Edition Azur bei Volland & Quist erschienen: Die Entfernung der Sterne – demnächst hier besprochen.