Geschrieben am 1. Oktober 2023 von für Crimemag, CrimeMag Oktober 2023

Löcher, Liebe, Brücken – Mylos 3 x 11 Spielworte (23)

Wer liest, sammelt Sätze. Manchmal bewußt. Manchmal ist ein einziges Wort ausschlaggebend: hartnäckig taucht es immer wieder auf. Fliege, zum Beispiel. Oder Mitternacht. Oder Asphalt. In ganz unterschiedlichen Büchern und Zusammenhängen, bei ganz unterschiedlichen Schriftstellern. Solche Fliegensätze oder Mitternachtssätze oder Asphaltsätze finden, immer elf an der Zahl, in der Serie ‚Spielwort‘ ihren Platz. Ein Spaß, ein Zeitvertreib. Und eine andere Art, auf Bücher zu deuten.

Spielwort: Löcher

Elf Zitate zusammengelesen von Ingrid Mylo


„Wir sind fünf und wohnen in einem Loch“, sagte der Sanitäter.  Loch, Loch, Loch, sagte das Echo.
– Magda Szabó: Der Bote

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Es war, als säße er in einem Loch, und das Loch war so tief, daß er nicht hören konnte, was man sagte.
– Chris Power: Ein einsamer Mann

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Solange nicht etliche Löcher in den Socken gestopft würden, war keine rettung in Sicht.
– Emilia Pardo Bazán: Die Feministin

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Inzwischen habe ich mich so sehr an Löcher und andere Mängel gewöhnt, daß ich gegen gelegentlich hervorgerufene Beleidigungen und besorgte Kommentare vollkommen unempfindlich geworden bin, und selbst das Unwohlsein und Mitleid meiner Freunde macht mir nichts mehr aus.
– Claire-Louise Bennett: Teich

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Den runden Löchern in der Zwischenwand aus gewelltem Heraklith, die auf dem Hof das Männer- vom Frauenbassin trennten, wich ich aus.
– Jan Skrácel: Kleine Rezension über die Sauna

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Und während ich so, als hätte ich alle Zeit der Welt, alle Details der Sandale in mir aufnahm, sah ich, wie in Paultjes Wollsocke ein längliches Loch entstand.
– A. F. Th. von der Heijden: Fallende Eltern

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Er kann mir gar nichts ansehen, er starrt nämlich in den Boden hinein, fast komme ich auf die Idee, hinterher nachzuschauen, ob da zwei Löcher sind.
– Michael Köhlmeier: Frankie

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Sie stellte sich vor, in diese Löcher zu kriechen, darin könnten Zwerge wohnen, auf kleinen Bänken sitzen und von drinnen nach draußen gucken und nie rauskommen.
– Sybill Schreiber: Die Kerze, die kannst du wie sonst keine

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Eine (1) Gunst des Alterns: Zuneigung zu fassen zu den Löchern der Holzwürmer
– Peter Handke: Innere Dialoge an den Rändern

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„Das tut das Leben nämlich“, hatte Rudi verkündet. „Vor deinen Augen schafft es Löcher, die du dann mit Dingen stopfen mußt.“
– Rose Tremain: Der weite Weg nach Hause

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„Da, die Sonne“, sagte Mauro und zeigte auf ein weißes Loch im Himmel.
– Fernanda Trías: Rosa Schleim

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Spielwort: Liebe

Elf Zitate zusammengelesen von Ingrid Mylo

                  Ich bin vom Eisernen Vorhang zu den schwarzen Jalousien des Schlafzimmers eines Mannes aus dem Westen gewandert und habe gelernt, Liebe allein spaltet kein Atom.

– Deborah Levy: Schöne Mutanten

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                  „Jedenfalls ist Liebe so wichtig wie essen“, sagte die Großmutter. – „Sie ernährt aber nicht.“

– Gabriel García Márquez: Beständiger Tod über die Liebe hinaus

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                  Im Grunde gesteht man Liebe ja nie ein, alle Welt weiß das.

– Fred Vargas: Im Schatten des Palazzo Farnese

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                  Weil Liebe zu machen, bedeutet, in die Nacht der Spezies zurückzukehren, die eine schreckliche Nacht war.

– Manuel Vilas: Was bleibt, ist die Freude

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                  Auf Größe in der Liebe hatt er nie gehofft, man mußte sich mit dem zufriedengeben, was einem blieb und was möglich war.

– Lena Andersson: Der gewöhnliche Mensch

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                  So sehr lieben (so lückenlos), daß der Liebende die Liebe selber gar nicht mehr spürt und erfährt und lebt: auch eine Art Leiden

– Peter Handke: Die Zeit und die Räume

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                  Er hört, wie sich die beiden küssen, und während er einschläft, träumt er von Liebe.

– Hugo Hamilton: Echos der Vergangenheit

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                  „Ich habe zwar von der Liebe keine Ahnung, aber wenn man die beiden sieht, kann man sich schon vorstellen, daß alles seinen Sinn hat.“

– Peter Seethaler: Das Café ohne Namen

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                  Albert Cohen hatte unrecht: es ist nicht das Rauschen der Wasserspülung, das die Liebe tötet.

– Frédéreic Beigbeder: Memoiren eines Sohnes aus schlechtem Haus

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                  Die Sache mit der Liebe konnte man also nicht selbst bestimmen, sie kam und ging wie ein Keuchhusten.

– Tove Ditlevsen: Abend

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                  Unterm Strich wollte ich wohl nur sagen, daß die Liebe in der Tat einen teuflischen, göttlichen Zerfall des Selbst bedeutet, und daß ihre künstlerische Darstellung in den meisten Fällen gar nicht ungewöhnlich und haarsträubend genug sein kann.

– Claire-Louise Bennett: Teich

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Spielwort: Brücken

Elf Zitate zusammengelesen von Ingrid Mylo

                  Er kam über eine Brücke, dann über eine zweite, vielleicht war es dieselbe Brücke.

– Georges Simenon: Die Revolte des Canari

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                  Oben auf der Brücke gibt er sich die größte Mühe, nicht an die Frau aus New Orleans zu denken, die hier letzte Woche ihre Kinder hinuntergestoßen hat.

– Mark Henshaw: Der Schneekimono

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                  Wenn jemand sich lange auf einer Brücke herumtreibt, kann man sicher sein, daß er entweder heftig verliebt ist oder kurz davor, ins Wasser zu springen.

– Nicolas Barreau: Das Lächeln der Frauen

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                  Nun bin ich nicht so eitel, daß ich glaube, daß mir an jeder einspurigen Brücke ein neuer Liebhaber begegnet, doch man weiß ja nie.

– Audur Ava Ólafsdóttir: Ein Schmetterling im November

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                  Dann werfe ich eine Rose zu ihm hinab, spüre ein unbeschreibliches Glücksgefühl im Bauch, wie ein junges Mädchen, das seine erste Tasche von einer Brücke wirft…

– Kirsti A. Skomsvold: 33

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                  Ich habe von der Brücke aus die Mitte des Flusses gesucht, die tiefste Stelle des Wassers, und ich verharrte dort in Gedanken versunken, in dem Versuch, den Geist des Wassers zu sehen.

– Manuel Vilas: Was bleibt, ist die Freude

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                  Durch das Geländer der Brücke betrachtet, sah das Wasser so braun aus wie früher, als es noch tot war.

– Terézia Mora: Die Gepard-Frage

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                  Ein Junge aus der Parallelklasse – brav und still und niemals nachtragend – erzählte uns, sein Vater habe auf der Brücke eine Woche lang geschossen und sei mit einer Kaputten Hüfte heimgekehrt.

– Tatiana Tibaleac: Ein Garten aus Glas

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                  Warum ging ich Brücken immer noch von einem Ende zum anderen?

– Christoph Dolgan: Elf Nächte und ein Tag

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                  Es wäre nicht einfach eine Brücke, eine Methode, von einem Ufer zum anderen zu gelangen, es wäre ein Ort, der für die Liebe gebaut war, für geheime Treffen, für die Schönheit.

– Claire Fuller: Bittere Orangen

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                   Alles Gute passiert auf der anderen Seite der Brücke.

– Jane Gardam: Die Rettung

Die bisherigen Spielworte im Überblick:
ménage à trois (1): Bahnhöfe, Fliegen, Lippenstift
ménage à trois (2): Stühle, Socken, Sterne
ménage à trois (3): Telefon, Zähne, Scherben
ménage à trois (4): Zwiebeln, Friedhöfe, Zigaretten
ménage à trois (5): Handtaschen, Kaffee, Stille
ménage à trois (6): Listen, Schnee, Gedanken
ménage à trois (7): Kerzen, Toiletten, Worte
ménage à trois (8): Unterwäsche, Bücher, Suppe
ménage à trois (9): Steine, Schritte, Sonnenuntergänge
ménage à trois (10): Masken, Gespenster, Koffer
ménage à trois (11): Briefe, Fische, Gesten
ménage à trois (12): Listen II, Katzen, Schatten
ménage à trois (13): Spinnen, Universum, Narben
ménage à trois (14): Mäntel, Hunde, Uhren
ménage à trois (15): Knöpfe, Leben, Glas
ménage à trois (16): Ohren, Handschuhe, Tod
ménage à trois (17): Finger, Wasser, Fernsehen
ménage à trois (18): Bett, Geheimnis, Wörter
ménage à trois (19): Augen, Mitternacht, Taschenlampe
ménage à trois (20): Beine – Kuß – Schnecken
ménage à trois (21): Spiegel, Bedeutung, Schildkröten 
ménage à trois (22): Inseln, Herz, Würmer

Vier Blicke auf Ingrid Mylos Gedichtband Überall, wo wir Schatten warfen.
Ingrid Mylo bei uns auf CulturMag.
Anfang des Jahres von ihr erschienen: Katherine Mansfield / Ingrid Mylo: Alles, was ich schreibe – alles, was ich bin, Texte einer Unbeugsamen (Marix Verlag). Besprechung von Alf Mayer hier.

In 2023 von ihr in der Edition Azur bei Volland & Quist erschienen: Die Entfernung der Sterne – hier bei uns besprochen.

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