Wer liest, sammelt Sätze. Manchmal bewußt. Manchmal ist ein einziges Wort ausschlaggebend: hartnäckig taucht es immer wieder auf. Fliege, zum Beispiel. Oder Mitternacht. Oder Asphalt. In ganz unterschiedlichen Büchern und Zusammenhängen, bei ganz unterschiedlichen Schriftstellern. Solche Fliegensätze oder Mitternachtssätze oder Asphaltsätze finden, immer elf an der Zahl, in der Serie ‚Spielwort‘ ihren Platz. Ein Spaß, ein Zeitvertreib. Und eine andere Art, auf Bücher zu deuten.

Spielwort: Spiegel II
Elf Zitate zusammengelesen von Ingrid Mylo
Es hatte auch Dutzende Spiegel gegeben, doch die waren versteckt worden, damit die Männer nicht sehen konnten, was aus ihnen geworden war.
– Colum McCann: Transatlantik
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„Wenn Sie morgen wieder nüchtern sind“, fuhr er fort, „dann betrachten Sie sich sorgfältig im Spiegel.
– Steve Tesich: Abspann
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Dieser Spiegel behauptete, ich hätte rechtsseitig im Kreuz einen beträchtlichen Klumpen.
– Rivka Galchen: Amerikanische Erfindungen
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Dann sah ich in den Spiegel über der Kommode und tat so, als würde ich mir in den Kopf schießen.
– Don DeLillo: Null K
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Vor dem Spiegel in meinem Hotelzimmer hatte ich den Eindruck, die Erdkugel würde für einen Augenblick angehalten.
– Andreas von Flotow: Tage zwischen Gestern und Heute
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Und ich fragte mich für einen Augenblick, ob Männer auch das Gesicht verziehen, wenn sie sich nackt im Spiegel sehen.
– Lily Brett: Eine Entdeckung
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Ich für meinen Teil schaue einfach nicht mehr in den Spiegel. Das ist billiger als kosmetische Operationen.
– Richard Ford: Frank
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Nein, sie erinnerte sich nicht, in einen Spiegel geschaut zu haben, es mußte ihr hin und wieder gestattet worden sein, aber was hätte sie davon gehabt?
– Yiyun Li: Schöner als die Einsamkeit
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Am längsten hielt sich Anna vor einem Spiegel auf, der an der Wand hing, die Beschichtung war kaputtgegangen, so daß er nichts mehr zurückwarf, und dieses Nichts ließ Anna nicht los, (…)
– Zsófia Bán: Als nur die Tiere lebten
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Doch hin und wieder werden Spiegel etwas mehr – der Sitz eines mir bekannten Körpers wird am Ende den Geist enthüllen.
– Siri Hustvedt: Acht Tage im Korsett
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Spiegel helfen überhaupt nicht.
– Margaret Atwood: Eine Parabel

Spielwort: Bedeutung
Elf Zitate zusammengelesen von Ingrid Mylo
Manchmal behauptete sie, der Mond würde ihre Stimmungen beeinflussen, oder sie schrieb Zufällen besondere Bedeutung zu.
– Jeffrey Eugenides: Klagende
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Bedeutungen, die bisweilen gesammelt sein können im Kot, den eine Taube der Luft übergibt, worauf sich Bedeutungen über Windschutzscheiben und Tischplatten und manchmal auf kahlen, arglosen Männerköpfen verbreiten.
– Idra Novey: Wie man aus dieser Welt verschwindet
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Das Fernsehen verleiht den Dingen erst die Bedeutung, ob sie wichtig sind oder nicht.
– Marilynne Robinson: Zuhause
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Die drei Männer sprachen darüber, was Gene an diesem Vormittag getan hatte, als wäre es von Bedeutung, ob er seine Haferflocken mit oder ohne Pfirsichmarmelade gegessen, die Zeitung gelesen oder sie nur hereingeholt hatte.
– Katherine Dion: Die Angehörigen
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„Wenn Sie tagein, tagaus mit jemandem zusammenleben, gewinnen die trivialsten Dinge größte Bedeutung.“
– Bernad MacLaverty: Ende der Saison
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Erst viel später sah ich ein, wie unerträglich dieses Bedürfnis war, jeden Augenblick zu erhöhen, in alles Bedeutung hineinzulesen.
– Jessica Au: Kalt genug für Schnee
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Andererseits finde ich bald heraus, daß die Richtung ohnehin keine Bedeutung hat, weil ich, kaum daß der Autobus verschwunden ist, sofort die Orientierung verliere.
– Ryszard Kapuscinski: Am Feuer erfrieren
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Es fühlte sich an wie bei einem Chanting, wenn man ein Wort so oft wiederholt, bis es seine Bedeutung verliert.
– Lora Williams: Die Odyssee
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Dabei verknüpfte er bereits gelernte Wörter zu Arrangements, die einen Klang erzeugtender jegliche Bedeutung überstieg.
– Yoko Ogawat: Augenblicke in Bernstein
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Er konnte seine prickelnde Ahnung, daß die riesigen Wesen für ihn und sein Leben irgendwie von Bedeutung wären, nicht in Worte fassen; da war nur noch dieses Kribbeln, das an Übelkeit grenzte, und die Gewißheit, daß er nicht bleiben könnte, wo er jetzt war.
– Carys Davies: West
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Vielleicht füllte auch meine Phantasie die Lücken der Geschichte, denn falls die Vernunft das Organ der Wahrheit ist, ist die Phantasie jenes der Bedeutung.
– Ulrike Draesner: Eine Frau wird älter

Spielwort: Schildkröten
Elf Zitate zusammengelesen von Ingrid Mylo
An einem der längsten Tage des Jahres // träumte ich von einer Talkshow im Fernsehen, // deren Gäste ausschließlich Schildkröten waren.
– Michael Krüger: Im Wald, im Holzhaus
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Am nächsten Tag brachte ein Kind eine Schildkröte, die während des Frühstücks auf Annas Scho saß. Sie mochte das Gefühl ihrer Beine.
– Andrew O’Hagan: Leuchten über Blackpool
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Auf YouTube ist ein Video zu sehen, in dem eine solche Schildkröte jemandem einen Finger abbeißt, und der Mann, dem der Finger gehörte, ist völlig perplex.
– David Sedaris: Leviathan
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Im Frühjahr 1916, als das Schlachten an der Somme so schlimm wurde, daß von jeder Armee auch die Toten der anderen geborgen wurden, beschäftigten Alice und ich uns mit der Sexualität der Schildkröten.
– Jane Gardam: Robinsons Tochter
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Der Abstand zwischen Bewegung und Ruhe ist im Falle einer Schildkröte so kurz, daß man die Erdrotation mit einbeziehen muß,will man ihn messen.
– Lars Saaby Christensen: Magnet
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Ich habe nach viel zu viel Absinth aus Versehen die Schildkröte meiner Tochter zertreten.
– Leslie Jamison: Die Klarheit
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Um zehn Uhr am Morgen sitzt Michael Douglas im kurzärmeligen weißen Hemd mit kleinen roten Schildkröten darauf vor dem Bildschirm.
– Gabriele Herpell: „Man kann dasAlter nur mit Humor nehmen“ (SZ Magazin 33 / 20. August 2021)
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Unter einem Baum lag ein kaputtes aufblasbares Planschbecken in Form einer Schildkröte, gefüllt mit Matsch und moderndem Laub.
– Jennifer Clement: Gun Love
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Jedesmal, wenn ich mich ihr näherte, lief die Schildkröte davon.
– Sebastiao Salgado: Mein Land, unsere Erde
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Er stand auf Schildkröten, also nicht auf diesen gewöhnlichen, eher so Sportschildkröten, und war zu kurzsichtig für den tieferen Himmel.
– Ralf Rothmann: Theorie des Regens
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Zu seiner Show gehörte, auf einen Tisch zu steigen und Schildkötenwitze zu erzählen, die kein Ende und keine Pointe hatten.
– Elfie Semotan über ihren Mann Martin Kippenberger (in: Sven Michaelsen ‚Das drucken Sie aber nicht!‘)

Die bisherigen Spielworte im Überblick:
ménage à trois (1): Bahnhöfe, Fliegen, Lippenstift
ménage à trois (2): Stühle, Socken, Sterne
ménage à trois (3): Telefon, Zähne, Scherben
ménage à trois (4): Zwiebeln, Friedhöfe, Zigaretten
ménage à trois (5): Handtaschen, Kaffee, Stille
ménage à trois (6): Listen, Schnee, Gedanken
ménage à trois (7): Kerzen, Toiletten, Worte
ménage à trois (8): Unterwäsche, Bücher, Suppe
ménage à trois (9): Steine, Schritte, Sonnenuntergänge
ménage à trois (10): Masken, Gespenster, Koffer
ménage à trois (11): Briefe, Fische, Gesten
ménage à trois (12): Listen II, Katzen, Schatten
ménage à trois (13): Spinnen, Universum, Narben
ménage à trois (14): Mäntel, Hunde, Uhren
ménage à trois (15): Knöpfe, Leben, Glas
ménage à trois (16): Ohren, Handschuhe, Tod
ménage à trois (17): Finger, Wasser, Fernsehen
ménage à trois (18): Bett, Geheimnis, Wörter
ménage à trois (19): Augen, Mitternacht, Taschenlampe
ménage à trois (20): Beine – Kuß – Schnecken
Vier Blicke auf Ingrid Mylos Gedichtband Überall, wo wir Schatten warfen.
Ingrid Mylo bei uns auf CulturMag.
Anfang des Jahres von ihr erschienen: Katherine Mansfield / Ingrid Mylo: Alles, was ich schreibe – alles, was ich bin, Texte einer Unbeugsamen (Marix Verlag). Besprechung von Alf Mayer hier.
Gerade von ihr in der Edition Azur bei Volland & Quist erschienen: Die Entfernung der Sterne – hier bei uns besprochen.