Wer liest, sammelt Sätze. Manchmal bewußt. Manchmal ist ein einziges Wort ausschlaggebend: hartnäckig taucht es immer wieder auf. Fliege, zum Beispiel. Oder Mitternacht. Oder Asphalt. In ganz unterschiedlichen Büchern und Zusammenhängen, bei ganz unterschiedlichen Schriftstellern. Solche Fliegensätze oder Mitternachtssätze oder Asphaltsätze finden, immer elf an der Zahl, in der Serie ‚Spielwort‘ ihren Platz. Ein Spaß, ein Zeitvertreib. Und eine andere Art, auf Bücher zu deuten.

Spielwort: Fenster
Elf Zitate zusammengelesen von Ingrid Mylo
Sie sah aus dem Fenster und dachte, schon wieder ein Tag, den man irgendwie herumbringen muß.
– Zsófia Bán: Wir rennen in die Revolution
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Und etwas später beim Essen starrte sie eins der beschlagenen Fenster an, als würde es den Blick auf eine strahlende Zukunft bieten.
– Richard Yates: Eine strahlende Zukunft
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Alle Häuser taten, als wären die Fenster blind.
– Birgit Vanderbeke: abgehängt
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Brüning seufzt, beugt sich vor und öffnet das Fenster, um den Geruch des Alleinseins zu vertreiben.
– John von Düffel: Der Junge von
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Lange Zeit habe ich die Welt durch ein Fenster auf dem Niveau des Gehsteigs gesehen.
– Georgi Gospodinov: Physik der Schwermut
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Vom Fenster aus konnte man Schiffen winken.
– Erich Kästner: Sachliche Romanze
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Ich seh an ihr vorbei in das Gerät, als sei es ein Fenster auf den Innenhof und als helfe mir dieses Schauen beim Zuhören oder Nachdenken, aber natürlich hätte es dafür schon wirklich ein Fenster sein müssen.
– Roman Ehrlich: Über die Positionen im Raum
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Wie schön es war, aus dem Fenster zu schauen. Merkwürdig, daß ich das ganz vergessen hatte.
– Jonathan Lee: Wer ist Mr Satoshi?
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Vielleicht hing auch der Tod nur mit den Fenstern zusammen, die in windigen Nächten offenstanden.
– Joel Haahtela: Der Schmetterlingssammler
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Ich öffne das Fenster, und ich schaue auf die Sterne, die im Fenster hängen und denselben Fluchtreflex auslösen wie früher.
– Wolfgang Herrndorf: In Plüschgewittern
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Es ist Zeit, vielleicht, die Fenster zu vergittern.
– Padgett Powell: Immer den Wachturm entlang
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Spielwort: Kugel
Elf Zitate zusammengelesen von Ingrid Mylo
Es schien egal zu sein, wohin die Kugeln flogen, Hauptsache, die Waffen machten ordentlich Lärm.
– Terry Pratchett: Der Computer Mark Eins
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Es ist tatsächlich sehr unangenehm, in dem Bewußtsein dahinzumarschieren, daß man sich jeden Augenblick eine Kugel einfangen kann.
– Ryszard Kapuscinski: Der Fußballkrieg
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Wußtest du, daß für jeden Menschen auf der Welt zwei Kugeln existieren?, fragte Leo.
– Jennifer Clement: Gun Love
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Sie rannte weg – hat sie wirklich geglaubt, ich würde ihren schönen weißen Bauch mit Kugeln füllen?
– Deborah Levy: Schöne Mutanten
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Ich hatte gehört, die Kugeln könnten weh tun, aber sie fühlten sich nur wie Hagelkörner an.
– Leslie Jamison: Die Klarheit
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Auf drei nahmen alle ihre Kugeln in den Mund und bissen auf das, was sich als Ziegenköttel erwies.
– Nicole Krauss: Freiheit
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Der auf Pfählen angelegte Steg führte ihn zum Fuß eines Signalmastes mit drei schwarzen Kugeln, die er zählte, ohne sich dessen bewußt zu werden.
– Georges Simenon: Maigret und Pjetr der Lette
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An manchen Tagen lag ich im Bett und malte mir aus, wie sich die Kugel langsam durch mein Gehirn bewegte.
– Donald Antrim: An einem Freitag im April
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Diese Kugel, die sein Hirn zerstörte, war folglich moralisch eine gute, wertvolle und notwendige Kugel.
– Manuel Vilas: Was bleibt, ist die Freude
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Niemand wird behaupten, Kugeln hätten einen freien Willen und würden hier und da einen anderen Weg wählen als den, der sich allein aus den Gesetzen der Physik ergibt: der Ballistik und Atmosphäre, nicht zuletzt der diversen Störfaktoren.
– Heinrich Steinfest: Amsterdamer Novelle
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„Das Wort“, sagte der Ausbilder, „ist die tödlichste aller Kugeln, wenn ihr es schafft, mitten in den Kopf zu treffen.“
– Fred Vargas: Der verbotene Ort
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Spielwort: Füße
Elf Zitate zusamengelesen von Ingrid Mylo
Wo man hinschaut, sitzen die Leute, in Schmerzen stillhaltend, die geschwollenen Füße aus den Schuhen quellend, in aller Öffentlichkeit
– Peter Handke: Die Zeit und die Räume
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Wenn man zu denen sagt daß sie in Scheiße waten dann behaupten sie sofort man selbst habe schmutzige Füße.
– Simone de Beauvoir: Monolog
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„Jod mag hilfreich sein, Junge, aber schneller heilt es, wenn du dir auf die Füße pißt.“
– Ralf Rothmann: Im Frühling sterben
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Sie packte ihren Mann an den Füßen und zog ihn auf den Kies, wo er in Sicherheit war.
– Sacha Naspini: Nives
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Wenn er nach unten sah, wirkten die Füße unfaßbar weit entfernt.
– Chris Power: Ein einsamer Mann
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Warte, sagte er da, und zog in Eile einen Socken über den erschrockenen Fuß.
– Judith Kuckart: Der Bibliothekar
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Es war ein seltsamer Anblick, wie dieser fassungslose Alte dasaß und seine umwickelten Füße betrachtete.
– Georges Simenon: Maigret und der Treidler der ‚Providence‘
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Wenn er mir auf den Fuß tritt, merke ich es nur noch am Geräusch der splitternden Knochen.
– Dorothy Parker: Der Walzer
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Mit einer stilisierten, ruckartigen Bewegung, die etwas Chaplineskes hat, zieht ihr Gefährte den linken Fuß weit nach hinten und tritt sie leicht in den Hintern, ein so sorgfältig ersonnener Akt, daß sie mitten beim Gähnen lachen muß.
– Don DeLillo: Spieler
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Ich sah ihre bloßen Füße auf dem Teppich und dachte an meine Mutter, die immer hinter mir sauber gemacht hatte, wenn ich als Kind einen „Gallenanfall“ hatte – wie sie das nannte.
– Helen Garner: Das Zimmer
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Solange ich beim Gehen mit den Füßen Steinchen hochschleudere, ist alles in Ordnung.
– Marina Zwetajewa: „Ich sehe alles auf meine Art“
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Die bisherigen Spielworte im Überblick:
ménage à trois (1): Bahnhöfe, Fliegen, Lippenstift
ménage à trois (2): Stühle, Socken, Sterne
ménage à trois (3): Telefon, Zähne, Scherben
ménage à trois (4): Zwiebeln, Friedhöfe, Zigaretten
ménage à trois (5): Handtaschen, Kaffee, Stille
ménage à trois (6): Listen, Schnee, Gedanken
ménage à trois (7): Kerzen, Toiletten, Worte
ménage à trois (8): Unterwäsche, Bücher, Suppe
ménage à trois (9): Steine, Schritte, Sonnenuntergänge
ménage à trois (10): Masken, Gespenster, Koffer
ménage à trois (11): Briefe, Fische, Gesten
ménage à trois (12): Listen II, Katzen, Schatten
ménage à trois (13): Spinnen, Universum, Narben
ménage à trois (14): Mäntel, Hunde, Uhren
ménage à trois (15): Knöpfe, Leben, Glas
ménage à trois (16): Ohren, Handschuhe, Tod
ménage à trois (17): Finger, Wasser, Fernsehen
ménage à trois (18): Bett, Geheimnis, Wörter
ménage à trois (19): Augen, Mitternacht, Taschenlampe
ménage à trois (20): Beine, Kuß, Schnecken
ménage à trois (21): Spiegel, Bedeutung, Schildkröten
ménage à trois (22): Inseln, Herz, Würmer
ménage à trois (23): Löcher, Liebe, Brücken
Vier Blicke auf Ingrid Mylos Gedichtband Überall, wo wir Schatten warfen.
Ingrid Mylo bei uns auf CulturMag.
Anfang des Jahres von ihr erschienen: Katherine Mansfield / Ingrid Mylo: Alles, was ich schreibe – alles, was ich bin, Texte einer Unbeugsamen (Marix Verlag). Besprechung von Alf Mayer hier.
In 2023 von ihr in der Edition Azur bei Volland & Quist erschienen: Die Entfernung der Sterne – hier bei uns besprochen.