Geschrieben am 1. Oktober 2024 von für Crimemag, CrimeMag Oktober 2024

Ingrid Mylo: 3 x 11 Spielworte (33) – Hände II, Lachen, Spuren

Ingrid Mylo: 3×11 Spielworte (33)

Wer liest, sammelt Sätze. Manchmal bewußt. Manchmal ist ein einziges Wort ausschlaggebend: hartnäckig taucht es immer wieder auf. Fliege, zum Beispiel. Oder Mitternacht. Oder Asphalt. In ganz unterschiedlichen Büchern und Zusammenhängen, bei ganz unterschiedlichen Schriftstellern. Solche Fliegensätze oder Mitternachtssätze oder Asphaltsätze finden, immer elf an der Zahl, in der Serie 3 x 11 Spielworte ihren Platz. Ein Spaß, ein Zeitvertreib. Und eine andere Art, auf Bücher zu deuten.

Spielwort: Hände II

Elf Zitate zusammengelesen von Ingrid Mylo


            „An den Händen eines Mannes läßt sich mehr erkennen als an seinem Diskurs.“ – „Aber Eure Hände sind winzig, Monsieur“, sagte Lucien.
 – Christopher Moore: Sacré Bleu

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            Am Eingang der Toilette erbrach ich mich in meine Hand, konnte aber nicht alles auffangen; von meinen Fingern tropfte braune Flüssigkeit auf den Boden.
– Mieko Kawakami: All die Liebenden der Nacht

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            Während ich ihre Hand nehme, überlege ich, ob ich nicht irgendwann im Laufe der nächsten dreihundertvierundvierzig Kilometer mit ihr schlafen werde.
– Audur Ava Ólafsdóttir: Weiß ich, wann es Liebe ist

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            Sie würde mich umarmen, sagt sie, aber sie hat keine Hand frei.
– Tatiana Tibuleac: Der Garten aus Glas

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            Erst in diesem Moment, als das weiße Dreieck in seinen Augen verblaßte, fiel Poirier, die Hände immer noch tief in den Hosentaschen, auf, daß er es nicht geschafft hatte, um ihre Hand anzuhalten.
– Roxanne Bouchard: Der dunkle Sog des Meeres

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            Er hatte dunkle, zusammengewachsene Augenbrauen, doch Alice blickte nur auf seine Hände, die groß und haarig waren, und für einen Moment war sie lediglich vom Grauen darüber erfüllt, daß diese Hände sie berühren würden.
– Tove Ditlevsen: SDas eigensinnige Leben

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            „Mit der hab ich diesen Film gesehen, ‚Romanze in Dur‘, oder wie der heißt, letzte Reihe. Und rate mal, wo meine Hände waren?“
– Ralf Rothmann: Im Frühling sterben

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            Wenn man einen Genozid überlebt hat, ist es einem egal, wie die Hände riechen.
– Grégoire Delacourt: Die wärmste aller Farben

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            Jeder stirbt, hatte er gesagt und auf seine Hände geblickt, die allmählich ihre Kraft verloren.
– Patti Smith: Im Jahr des Affen

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            Das war nicht mehr die Hand, die unter der Decke meinen Schenkel gesucht und gestreichelt hatte, was seit jeher mit einem sanften Klaps endete.
– Jaap Robben: Kontur eines Lebens

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            Was immer du mit deinen Händen gemacht hast, sagte sie schließlich – gehen mußt du trotzdem.
– Louise Erdrich: Schatten fangen

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Spielwort: Lachen

Elf Zitate zusammengelesen von Ingrid Mylo


            Nur schon der Gedanke daran, ihm geplant zufällig zu begegnen, brachte Kirsten seit Tagen zum Lachen.
– Sybill Schreiber: Fenster Fliegen

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            Mitten im Lachen erinnerte sie sich an die Häßlichkeit ihres Gebisses und schloß rasch den Mund.
– A. F. Th. van der Heijden: Fallende Eltern

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            Und etwas zu sehen, mit dem man nicht gerechnet hat, ist der Ursprung des Lachens.
– Markus Orths: Picknick im Dunkeln

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            Ihr Lachen hat eine absurde Kraft, es scheint, als würde eine Kompaßnadel in ihrem Kopf auf etwas zeigen, das sie rasch in Besitz nehmen muß, weil es ebenso rasch wieder verschwinden könnte.
– Hugo Hamilton: Echos der Vergangenheit

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            Plötzlich mitten im Lachen höre ich in meinem Lachen das Lachen Supervielles, und zwar aus meinem Inneren heraus, wie durch die Schädelknochen hindurch, oder noch tiefer drinnen, und sonderbar akzentuiert, höre ich also das Lachen von Jules Supervielle, das vollständig an die Stelle meines eigenen Lachens getreten ist.
– Henri Michaux: Turbulenz im Unendlichen

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            Wenn der Herr der Welt lachte, mußten dann nicht ganze Erdteile in sein Lachen einfallen, gleichgültig, ob auf Knien oder hochaufgerichtet und aus vollen Lungen?
– Christoph Ransmayr: Cox oder Der Lauf der Zeit

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            Da fiel mir ein Vers des großen Dichters Parujr Sewak ein, „Der Frühling kam, doch es schneite“, und mir blieb das Lachen im Hals stecken.
– Grégoire Delacourt: Die wärmste aller Farben

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            Erklär ihm das Lachen derer, die töten.
– Wolf Wondratschek: Gesang

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            Und dann ging es so ernsthaft weiter, daß beide lachen mußten, und das Lachen zog, wie so oft, wenn Menschen nackt sind, einen noch ernsthafteren Versuch nach sich.
– Hilary Leichter: Luftschlösser

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            Dann lachte er sein seltsames, unmotiviertes Lachen, das wie ein weicher Ball über den Gartenweg kullerte.
– Tove Ditlevsen: Ein gutes Geschäft

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[…] und vielleicht hatte er sich mit diesem unmotivierten, aus allen Zusammenhängen gerissenen Lachen endgültig zu dem gemacht, was er in den Augen der drei sicherlich ohnehin war: ein vollkommener Idiot.
– Robert Seethaler: Das Café ohne Namen

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Spielwort: Spuren

Elf Zitate zusamengelesen von Ingrid Mylo



            Es war beruhigend zu wissen, daß Rita nicht vor elf nach Hause kommen würde und mir daher genug Zeit blieb, die Spuren zu verwischen, auch wenn es aller Wahrscheinlichkeit nach keine gab.
– Antonio Fian: Das Polykrates-Syndrom

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            Und am Morgen sehe ich die Spuren auf der Seite des Wagens: perfekte Kreise im Staub, wo das Leder gegen das Blech geprallt ist.
– Sara Baume: Die kleinsten, stillsten Dinge

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            „Wenn jemand absichtlich eine Spur hinterläßt, ist das meistens ein Hinweis auf Tod.“
– Mikaela Bley: Glücksmädchen

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            Bei den Toten muß man nicht allein deren Spuren verwischen, sondern auch die Spuren derjenigen, die in ihre Spuren traten.
– Varujan Vosganian: Jacob, Sohn des Zevedei

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            Er schrieb mit dem Stift aufs Papier, um festzuhalten, was gewesen war, was er noch wußte von den Spuren, die etwas verrieten, was schon verblaßt, kaum zu greifen war.
– Urs Faes: Halt auf Verlangen

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            Wenn ich jedoch an die Spuren dachte, die ich hinterlassen würde, wenn ich auszöge, wäre es, als hätte ich nie hier gewohnt.
– Antono Muñoz Molina: Gehen allein unter Menschen

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            Ich will nicht, daß die alten Ichs, die ich längst abgestreift habe, mir auf Schritt und Tritt hinterherlaufen und überall im frischen Neuschnee meines Lebens Spuren hinterlassen.
– Ali Smith: Sommer

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            Wenn du Spuren einer anderen Zeit entdeckst, wird es an einem unmerklichen Nachmittag sein.
– Georgi Gospodinov: Zeitzuflucht

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            Wohin würde die Spur mich führen, was erwartete mich auf der anderen Seite der Mauer?
– Daniel Galera: So enden wir

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            Als sie sich umdreht, ist es zu spät: die Wellen haben ihre Spuren fortgespült, seine Spuren verschlungen, die Spuren der Männer, des Schiffes.
– Katharina Hacker: Ariadne

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            Regen trommelt auf die Papier-Birken, die Tage fließen ineinander; sich den Kopf zermartern, wie man eine Spur hinterlassen könnte, ein irgendwie lesbares Leben.
– Robin Robertson: Wie man langsam verliert

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Die bisherigen Spielworte im Überblick:
ménage à trois (1): Bahnhöfe, Fliegen, Lippenstift
ménage à trois (2): Stühle, Socken, Sterne
ménage à trois (3): Telefon, Zähne, Scherben
ménage à trois (4): Zwiebeln, Friedhöfe, Zigaretten
ménage à trois (5): Handtaschen, Kaffee, Stille
ménage à trois (6): Listen, Schnee, Gedanken
ménage à trois (7): Kerzen, Toiletten, Worte
ménage à trois (8): Unterwäsche, Bücher, Suppe
ménage à trois (9): Steine, Schritte, Sonnenuntergänge
ménage à trois (10): Masken, Gespenster, Koffer
ménage à trois (11): Briefe, Fische, Gesten
ménage à trois (12): Listen II, Katzen, Schatten
ménage à trois (13): Spinnen, Universum, Narben
ménage à trois (14): Mäntel, Hunde, Uhren
ménage à trois (15): Knöpfe, Leben, Glas
ménage à trois (16): Ohren, Handschuhe, Tod
ménage à trois (17): Finger, Wasser, Fernsehen
ménage à trois (18): Bett, Geheimnis, Wörter
ménage à trois (19): Augen, Mitternacht, Taschenlampe
ménage à trois (20): Beine, Kuß, Schnecken
ménage à trois (21): Spiegel, Bedeutung, Schildkröten 
ménage à trois (22): Inseln, Herz, Würmer
ménage à trois (23): Löcher, Liebe, Brücken
ménage à trois (24): Fenster, Kugel, Füße
ménage à trois (25): Fingernägel, Bienen, Dinge
ménage à trois (26): Ameisen, Brillen, Zukunft
ménage à trois (27): Bier, Eulen, Wünsche
ménage à trois (28): Arme, Moment, Bleistift
ménage à trois (29): Fliegen II, Brunnen, Gedächtnis
ménage à trois (30): Messer, Leben II, Engel
ménage à trois (31): Sachen, Licht, Knochen
ménage à trois (32): Krähen, Muster, Katastrophe

Vier Blicke auf Ingrid Mylos Gedichtband Überall, wo wir Schatten warfen.
Ingrid Mylo bei uns auf CulturMag.
Siehe auch: Katherine Mansfield / Ingrid Mylo: Alles, was ich schreibe – alles, was ich bin, Texte einer Unbeugsamen (Marix Verlag). Besprechung von Alf Mayer hier.

In 2023 von ihr in der Edition Azur bei Volland & Quist erschienen: Die Entfernung der Sterne – hier bei uns besprochen.

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