Geschrieben am 1. Oktober 2024 von für Crimemag, CrimeMag Oktober 2024

HR Giger – Maler des kollektiv Unbewussten: Endlich eine Monografie

Die Pforten der Wahrnehmung – Wir leben in seinen Träumen und Räumen

Alf Mayer über die große Monografie des Schweizer Künstlers HR Giger

Hans Werner Holzwarth (Hg.): HR Giger. Werkmonografie. Mit einem Essay von Andreas J. Hirsch. Mehrsprachige Ausgabe (Deutsch, Englisch, Französisch). Verlag Taschen, Köln 2024. Hardcover in einer Box, Format 29 x 39.5 cm, Gewicht 6.20 kg. 506 Seiten, 175 Euro. Verlagsinformationen: taschen.com

Auch als Baby Sumo in einer limitierten Auflage von 1000 Exemplaren. Schlagkassette, Format 36.7 x 50 cm, Gewicht 13.23 kg. 400 Seiten, 1.250 Euro. Verlagsinformationen hier.

Körperlandschaften, Piranesis Kerker wie auf Körperhälften aus dem Schlachthaus projeziert, Schlünde, Röhren, Knochenhöhlen, geweitete Augen und Münder, fixierte Leiber, in unnatürliche Stellungen gebracht, obszöne Kopulationsapparate, Penetrationsvorrichtungen, Vulvamotive, Penisse, Hörner, Embryos seriell, Gebärmaschinen, Schlangen- und Totenköpfe, Phobien und Ängste, dunkelste Sexualität, ungeheure Dildos, Totenschädel, Deformationen, rätselhafte Frauen, schön wie altägyptische Herrscherinnen (immer wieder seine Muse Li), Karneval und Groteske, Mechanik und Anatomie, Eros und Thantos, Aufbruch zu Sabbath und Dämonentanz, Rituale und Votivbilder allesamt tief aus dem kollektiv Unbewussten. Hochästhetisch und auf Verführung und Magie geschminkt. In der Zukunft werden seine Bilder als Mythos gelesen werden. Das ist HR Giger. Er hat gemalt, was ihm Angst machte.

Waren Sie schon einmal in Gruyères? Von der Hauptstraße geht es dafür im Schweizer Kanton Freiburg in sanften Kurven die grünen Hügel hoch–  in eine andere Welt. Man muss draußen parken, betritt eine mittelalterliche Kleinstadt ohne Autos, eigentlich nur ein langgezogener Platz. 1150 oder 1213 sagt so manche eingemeißelte Jahreszahl über dem Türsturz. Es gibt nur wenige Schlafplätze für Touristen, zum Abendessen wird gerne Fondue serviert. Davon bekommen sicher auch die wohlgenährten Karthäuserkatzen etliches ab, die auf der Stadtmauer flanieren. Am Abend ist man hier oben der Welt da unten weit entrückt, man weilt in der Vergangenheit. Und, wer es weiß, auch weit in der Zukunft. Dazu genügt schon ein Blick in die HR Giger Bar, direkt neben dem HR Giger Museum. Der 2014 gestorbene Künstler hat das alles noch selbst eingerichtet.

Wir alle wohnen bei ihm, auch ohne in Gruyères zu sein. Oder er bei uns, je nachdem wie man es sieht, nämlich in unseren Träumen. Wie kaum ein anderer Künstler im 20. Jahrhundert hat er unserem kollektiven Unbewussten Bilder gegeben und Orte. Er hat sich uns eingebrannt.

Einzelne Bilder von ihm sind weit verbreitet, gehören zur populären, nicht ganz jugendfreien Ikonografie. Zu seinem zehnten Todesjahr gibt es nun eine 6,2 Kilogramm schwere XXL-Monographie, bestens ausgestattet, in hoher Qualität gedruckt und stabil gebunden – alles in Europa –, ein klassischer Fall für den Verlag Taschen in Köln. Das fulminante Werk, dessen Erstausgabe 2016 als monumentale Collectors Edition im Baby-Sumo-Format (36,7 x 50 cm) und in einer limitierten Auflage von 1.200 Exemplaren HR Giger leider nicht mehr erlebte, wohl aber noch den Beginn dieser Mammutarbeit, versammelt die Arbeiten eines Ausnahmekünstlers und seine Visionen.

Das Opus Magnum erzählt die vollständige Geschichte seines Lebens und seiner Kunst, zeigt seine Skulpturen, Filmarbeiten und legendären Plattencover sowie das Erbe, das er in seinem eigenen Künstlermuseum und seiner Bar in den Schweizer Bergen hinterlassen hat. Der Band enthält zahlreiche Dokumente aus Gigers Archiv, Zitate von Zeitgenossen sowie eine umfangreiche Künstlerbiografie, die sich auf zeitgenössische Stimmen und Gigers eigene Aufzeichnungen stützt. Der Giger-Experte Andreas J. Hirsch setzt sich in einem gehaltvollen Essay intensiv mit den Themen von Gigers Werk und seiner Welt auseinander.

Wer war dieser HR (Hansrüdi) Giger? Nun, man kann das schon heute, zehn Jahre nach seinem Tode verbindlich sagen: Ein Klassiker. William Gibson lässt in seinem 1993 erschienenen Roman »Virtual Light« in einem Tattoo-Studio des Jahres 2005 folgenden Dialog stattfinden:

»Lowell … He’s got a Giger.« 
»,Giger‘?«
»This painter. Like nineteenth- century or something. Real classical. Bio-mech.«

Etwas als »gigeresk« zu erkennen, weil es an seine Ästhetik und seine Bildfindungen erinnert, ist vielleicht noch nicht so verbreitet – schreibt Andreas J. Hirsch in seinem Essay – wie etwa der Ausdruck »Ballardian«, mit dem man im Englischen bestimmte mit den Werken des Autors J. G. Ballard zu assoziierende apokalyptische Szenarien bezeichnet. Doch die Geschichte der Giger’schen Rezeption ist noch lange nicht zu Ende geschrieben.

Wie zwei eng verwobene rote Fäden ziehen sich die Themen Sexualität und Tod durch das gesamte Werk von HR Giger (1940–2014). Bekannt wurde er vor allem durch seine Oscar-prämierte Gestaltung des Weltraummonsters für Ridley Scotts Science-Fiction-Film ALIEN (1979): »best achievement in visual effects«, verliehen bei der Academy-Awards-Feier im April 1980 im Dorothy Chandler Pavilion in Los Angeles. Rückblickend betrachtet war dies nur das prominenteste Wesen aus Gigers umfangreichem Arsenal biomechanischer Geschöpfe, das konsequent Hybride von Mensch und Maschine zu Bildern von eindringlicher Kraft und dunkler Psychedelik verschmolz.
Giger Bilder und Geschöpfe verliehen den kollektiven Ängsten einer Epoche Ausdruck: Angst vor dem Atomkrieg, vor Überbevölkerung und Ressourcenknappheit sowie einer Zukunft, in der das Überleben der Menschheit von Maschinen abhängt. Die visionäre Kraft dieser Bilder spielt mit den Dämonen der Vergangenheit – auch der Schatten der Öfen von Auschwitz von Kafkas Strafkolonie, das ganze Arsenal finsterer Abgründe unserer Zivilisation, scheint in so manchen Bildern auf – und erzeugt zugleich Mythen für die Zukunft.

»Knochen beschaffen und ein Modell bauen«

»Im Kern gräbt sich Gigers Kunst in die Psyche ein und berührt unsere tief sitzenden, urzeitlichen Instinkte und Ängste… Der Beweis dafür liegt in der Intensität seines Werks und seiner Vorstellungskraft, die ich in der Fähigkeit, zu provozieren und zu verstören, nur mit Hieronymus Bosch und Francis Bacon vergleichen kann«, fasste Regisseur Ridley Scott die Singularität Gigers zusammen.

Der notierte im Frühjahr 1978, gerade 38 Jahre alt, diese Zeilen in seinem Tagebuch: »18 Mai 78. Die Arbeiten für den Film sind in vollem Gange. Die Bauten des Raumschiffes (innen) sind fast fertig. Es schaut gut aus. Kleine Modelle der Landschaft und die Eingangspartie des Spacecraft sind erstellt worden. Die Leute, die das bauten, haben überhaupt keine Ahnung von meiner Architektur. Ich sagte, sie sollten sich Knochen beschaffen und mit Plastilin zusammen ein Modell bauen …« (Siehe auch seine »Alien Diaries«, Edition Patrick Frey, Zürich, 660 Seiten, 5. Auflage 2022).

Giger war für die Arbeit an ALIEN die haargenau richtige Person am richtigen Ort. Vermittelt hatte ihn der Autor Dan O’Bannon, der den Schweizer bei den Vorarbeiten für Jodorowskys DUNEProjekt kennengelernt und in der Folge Ridley Scott mit seinem Werk bekannt gemacht hatte. Ridley Scott selbst berichtete später: »Anfänglich hatte Giger vor, die ALIEN-Kreatur gänzlich neu zu entwickeln. Weil ich aber von seinen Bildern Necronom IV und V aus dem Buch Necronomicon so beeindruckt war, bestand ich darauf, dass er sich an diesen Formen orientierte. Noch nie in meinem Leben war ich mir einer Sache so sicher gewesen. Diese Kreaturen entsprachen genau dem, was ich mir für den Film vorstellte – insbesondere durch die einmalige Art, wie sich in ihnen Schrecken und Schönheit vereinten.«

Schon vor der Arbeit an ALIEN in den Shepperton-Filmstudios bei London war Giger Mitte der 1970er-Jahre mit dem Filmemachen in Berührung gekommen. Der große Salvador Dalí hatte dem Regisseur Alejandro Jodorowsky Arbeiten von Giger gezeigt, was dazu führte, dass er ihn zur Mitarbeit an dem grandiosem – und in der Folge ebenso grandios gescheiterten  – Projekt einer Verfilmung des Buches »Dune« von Frank Herbert einlud. Das war wie eine Adelung, nämlich die Einladung in einen sehr speziellen Kreis, in dem Jodorowsky bereits den Comic-Künstler Moebius, Pink Floyd, Salvador Dalí, Orson Welles und andere lebende Legenden versammelt hatte. Es war wie an den Tisch von König Artus’ Tafelrunde gebeten zu werden. Giger wurde ein ganzer Planet, das Reich der Harkonnen, zur Gestaltung übertragen. Als die Finanzierung des Filmprojekts nach bereits umfangreichen Vorarbeiten aller Beteiligten scheiterte, nahm Giger noch an einem weiteren Verfilmungsversuch des epischen DUNE-Stoffes teil, bei dem Ridley Scott als Regisseur gesetzt war. Auch dieser Versuch scheiterte, aber Giger blieben seine Prototypen für die »Harkonnen«-Möbel, die allerdings erst viel später (u.a. in seiner Bar) ihre eigentliche Bestimmung finden sollten.

Als HR Giger in den Shepperton-Studios an der Gestalt des Alien und dessen Welt arbeitete, beschränkte er sich nicht darauf, Entwürfe zu zeichnen und ihre Umsetzung zu überwachen, er griff selbst zu. Viele der Modelle für den Film – von den Eier-Silos über die verschiedenen Stadien der Alien-Figur bis zum Raumschiff und dem Space Jockey – entstanden von seiner eigenen Hand. Als plastischer Künstler hatte er immer wieder gearbeitet. In den Jahren 1966 bis 1969 zum Beispiel entstanden jeweils in den Sommern am Luganer See aus dem bevorzugten Material Polyester Werke, die nicht nur Schlüsselmomente seiner künstlerischen Entwicklung markieren sollten, sondern auch zentralen Motiven seines Œuvres zu einer dreidimensionalen, »greifbaren« Gestalt verhalfen.

Von dem 1940 im kleinen Chur geborenen Apotheker-Sohn werden, so Andreas J. Hirsch, »bereits aus Kindestagen Dinge berichtet, in denen sich seine späteren Lebensthemen andeuten: Im Elternhaus, in dem sich auch die Apotheke des Vaters befand, richtete er eine Geisterbahn ein. Deren Zielgruppe waren hauptsächlich Mädchen, für die der kleine Hansruedi sich früh interessierte. Während die anderen in der Kirche waren, besuchte er an Sonntagvormittagen die im Keller des Rätischen Museums ausgestellte Mumie einer ägyptischen Prinzessin und verweilte neben ihr in einer Mischung aus Schauder und Faszination. Als der Vater von einem Pharmaunternehmen einen menschlichen Schädel zugesandt bekam, nahm der Sohn diesen an sich und zog ihn an einer Schnur hinter sich durch die Straßen von Chur. Als Schüler fertigte Giger Zeichnungen mit makabren Themen an und richtete sich im Elternhaus das sogenannte Schwarze Zimmer ein – in der zweiten Hälfte der 1950er- Jahre ein erster Ort für die eigene Kunst und die anderer, für Performance und Musik.«

In Schweizer Underground-Zeitschriften wie Clou und Fallbeil veröffentlichte GigerAnfang der 1960er Jahre Tuschezeichnungen. 1962 trat er in die Kunstgewerbeschule in Zürich ein. In dieser Zeit entstanden neben einer Gruppe tachistischer Gemälde unter anderem die »Schächte«-Bilder (seit 1964). 1966 beendete Giger die Ausbildung mit einem Diplom als Innenarchitekt und Industriedesigner. Und er schloss Freundschaft mit dem Schriftsteller Sergius Golowin, der ihn in die esoterische Literatur einführte, und dem Filmemacher Fredi M. Murer, mit dem erste Filmprojekte entstanden. Er lernte die Schauspielerin Li Tobler kennen, dann für fast ein Jahrzehnt seine Lebensgefährtin und Muse. Als sie sich 1975 im Alter von 27 Jahren mit einer Pistole aus seiner Waffensammlung das Leben nahm, verdüsterte sich Gigers Welt endgültig.

Gigers frühes Werk setzte sich ganz direkt mit den kollektiven Ängsten der Zeit auseinander. 1962 entging die Welt im Zuge der Kuba-Krise nur knapp einem Atomkrieg, auch in der neutralen Schweiz, die an einem eigenen Kernwaffenprogramm arbeitete, war die Konkretheit einer atomaren Apokalypse allgegenwärtig. Es war eine Zeitenwende im öffentlichen Bewusstsein, wie sie seitdem wahrscheinlich nur mit 9/11 vergleichbar ist, meint Hirsch. In etlichen seiner Werke entwarf Giger ein postapokalyptisches Szenario der Situation nach einem Atomkrieg. Die Arbeit »Atomkinder« etwavon 1967/68 zeigt drei posthumane Gestalten in stilisiert-künstlicher Landschaft. Auch andere Themen wie eine drohende Überbevölkerung der Erde, »Die Grenzen des Wachstums« (Dennis Meadows, 1973) und die voranschreitende Technisierung und Automatisierung vieler Lebensbereiche fanden Eingang in sein Werk.

Für seine düstere Visionen – von Stanislav Grof in seinem Text »Die visionäre Welt von HR Giger« aufgefächert bis hin zum Geburtstrauma – entwickelte Giger den von ihm so bezeichneten Stil der Biomechanik. Poster-tauglich, teils massenhaft verbreitet, so etwa in dem von ihm selbst konzipierten großformatigen Bildband »Necronomicon« und auf Plattencovern wie etwa der 1973 erschienenen LP Brain Salad Surgery von Emerson, Lake & Palmer.

Ein Werk in Gigers »Necronomicon« überzeugte Ridley Scott auf den ersten Blick davon, Giger für die Gestaltung der außerirdischen Kreatur zu engagieren: Necronom IV (1976; im Buch auf S. 242). Hirsch dazu: »Es ist eines der Schlüsselwerke in Gigers Schaffen und zeigt den Oberleib eines Wesens im Profil, das nur entfernt humanoide Züge aufweist. Der Schädel ist extrem in die Länge gezogen, das Gesicht fast nur auf entblößte Zahnreihen und riesige, insektenartige Augen reduziert. Aus dem Hals dringen Schläuche, der Rücken wird von röhrenförmigen Fortsätzen und reptilienähnlichen Schwänzen dominiert. Das männliche Geschlechtsteil ist enorm verlängert und nach oben hin über den Kopf gekrümmt. Es mündet in eine transparente Verdickung, in der ein skelettiertes Wesen zu erkennen ist, das dort wie ein kleiner Heiliger in seinem Glassarg ruht.«

Das Bild, das nicht der Welt, wie wir sie kennen, entstammen kann, wirkt wie der Ikonografie mittelalterlicher Altarbilder entnommen. Den Hintergrund dominieren amorphe organisch-schleimige Formen. Das Wesen verströmt eine Aura latenter Tödlichkeit, eine Mischung aus Faszination und Abscheu. Das Monster in ALIEN steht für eine Wende im Science-Fiction- und Horrorfilm, die mit der von HR Giger geschaffenen Kreatur eine nie zuvor gesehene tödliche Lebensform aus dem All markierte.

Michel Houellebecqs Diktum von 1991 über die Aktualität von H. P. Lovecraft kann man auch auf HR Giger übertragen: »Die Entwicklung der modernen Welt hat die seine Phobien noch präsenter, noch lebendiger gemacht.«

Giger sagte über sich selbst: »Seit ich den Weg der Kunst gewählt habe, empfinde ich ihn wie einen LSD-Trip – ohne eine Möglichkeit zur Rückkehr. Ich fühle mich wie ein Hochseilakrobat; ich erkenne keinen Unterschied zwischen Arbeit und Freizeit. Mir wurde plötzlich klar, dass Kunst eine wichtige Tätigkeit ist, die mich davor bewahrt, in den Abgrund des Wahnsinns zu fallen.«

Wie Goya malt auch Giger, um seine angsteinflößenden klaustrophobischen Albträume zu überwinden.

Alf Mayer

Tags : , , ,