Geschrieben am 1. Oktober 2024 von für Crimemag, CrimeMag Oktober 2024

Sonja Hartl zur Wiederentdeckung von Celia Fremlin

Jenseits des Landhauses

Noch in den 1990er Jahren wurde Celia Fremlin häufig in einem Atemzug mit Patricia Highsmith und Margaret Millar genannt. Anlass war oft ein neuer Kriminalroman von Ruth Rendell, bei dem diese drei Namen die Referenzpunkte waren. Mittlerweile aber scheint Fremlin – und zwar nicht nur im deutschsprachigen Raum, wenn ich die Reaktionen auf die Neuausgaben im Vereinigten Königreich als Maßstab nehme – weitgehend vergessen. Fast könnte ich behaupten, es gebe eine klare Erinnerungshierarchie dieser drei Autorinnen: Am bekanntesten Patricia Highsmith. Für Kenner*innen: Margaret Millar. Und dann Celia Fremlin. Und viele andere Autorinnen.

Ein Grund könnte sein, dass zumindest im deutschsprachigen Raum das Werk von Patricia Highsmith vom Diogenes Verlag, in dem die Übersetzungen der Romane aller drei Autorinnen erschienen sind, aber besten gepflegt wurde – durch Neuausgaben, durch eine Werkausgabe etc. Literarische Gründe sehe ich dafür nicht. Zumal sie ohnehin zwar auf den ersten Blick alle in den großen Bereich der psychologischen Spannungsliteratur eingeordnet werden können. Es aber viele Unterschiede zwischen ihnen gibt.

Celia Fremlin wurde 1914 in Ryarsh, Kent geboren, hat am Somerville College der University Oxford studiert, lange Jahre in London gelebt und ist 2009 gestorben. Ihr Leben steckt voller bemerkenswerter Details: In den 1930er Jahren hat sie als charwoman gearbeitet und über ihre Erfahrungen und Einblicke in diese niederste häusliche Tätigkeit in dem Buch „The Seven Chars of Chelsea“ festgehalten. Während des Zweiten Weltkriegs hat sie für das Mass-Observation-Projekt von Tom Harrison gearbeitet und Menschen auf der Straße vor und nach Bombenabgriffen interviewt. In „War Factory“ (1943) schreibt sie über Frauen, die in diesen Fabriken arbeiteten. Erst danach fing sie an, Romane zu schreiben und hat bis zu ihrem Tod 2009 insgesamt 18 Kriminalromane veröffentlicht.

Gleich der erste „The Hours Before Dawn“ (1948; dt.: „Die Stunden vor Morgengrauen“) ist einer ihrer besten: Louise hat ihr drittes Kind bekommen, das Baby schreit die ganze Nacht. Deshalb kann sie nicht schlafen. Außerdem macht ihre neue Untermieterin ihr Sorge: Sie ist überzeugt, sie sie sie und das Baby töten will. Celia Fremlin fasst nicht nur Louises Erschöpfung überzeugend ein, sondern sie macht sie zur Bedingung ihres Erzählens: Können wir Louise überhaupt trauen, wenn sie doch nicht schlafen kann? Dazu macht sie durch die wertenden Ratschläge, die Louise bekommt, sehr deutlich, dass alle andere davon ausgehen, dass es nur Louises Schuld ist, dass das Kind schreit – ein sehr treffender Kommentar zur gesellschaftlichen Betrachung von Mutterschaft. Und Louise weiß, dass sie keine Hilfe von außen bekommen wird, sondern selbst eine Lösung finden muss, obwohl auch sie zunehmend verunsichert ist.

„The Hours Before Dawn“ ist ein kluger Roman über Wahn und Wahnsinn, über gesellschaftliche Rollenerwartungen und Spannungen innerhalb einer Ehe. Tief verankert in der häuslichen Sphäre, aber Fremlin klammert die Zeitumstände nicht aus: Alleine dass in der Nachkriegsgesellschaft in Großbritannien nun auch die Mittelklasse gezwungen ist, Untermieter*innen aufzunehmen, weil der Verdienst von Louises Mann nicht ausreicht, ist eine weitere Voraussetzung der Handlung.

Dieser häusliche Bereich – the domestic sphere – ist der Ort, in dem Celia Fremlin ihre Romane verankert. Dort lauert für Frauen weiterhin die größte Gefahr. Inmitten von Vorortfreundlichkeiten erzählt sie von dem Unheimlichen und Bösartigen. Nicht ganz so scharf wie beispielsweise Guy Cullingford, sondern oft mit einem feinen Sinn für Witz.

Das wird sehr deutlich in „Der lange Schatten“ (1975, The Long Shadow), ihr neunter Roman, der gerade im Dumont Verlag in einer neuen Übersetzung von Sabine Roth erschienen ist.

»Nein, er ist vor zwei Monaten gestorben«, sagte sie, »ich bin Witwe«, und wappnete sich für das winzige Zurückschrecken in seinem Blick, diese Betretenheit, mit der sie alle reagierten. Was sagt man zu nicht mehr ganz jungen Witwen, die so ungehörig früh einer Einladung folgen? Worüber redet man mit ihnen? Ist das Wetter ein gefahrloses Thema? Die Lage der Nation?

Das denkt Imogen Barnicott, die vor zwei Monaten Witwe geworden ist und einer Party-Einladung ihrer Freundin gefolgt ist – und sich in ihrer Rolle als Witwe erst einmal zurechtfinden muss. Ihr Ehemann Ivor ist bei einem nächtlichen Autounfall gestorben. Der Altphilologe wurde von Studierenden und Lehrenden verehrt und geschätzt, aus der ganzen Welt treffen Beileidsbekundungen ein, die Imogen nun beantworten muss. Ohnehin scheint Ivor vor allem von den Menschen geschätzt zu werden, die ihn nicht so gut kannten, wie Imogen konstatiert.

Wie Ivor es genossen hätte, tot zu sein! Welch ein Jammer, dass er das alles verpasste! Er hätte geschwelgt in der Flut von Briefen, die mehrmals täglich zu Dutzenden eingegangen waren, jeder einzelne ein Tribut an seine Person.

Und sie selbst? Sie vermisst ihn, die kleinen gemeinsamen, oft gemeinen Scherze, die sie miteinander geteilt haben. Aber sie genießt es auch, das Haus ganz für sich zu haben. Allerdings ist sie nicht lange allein: Nach und nach ziehen ihre Stiefkinder mitsamt Stief-Enkelkindern ein, Ivors Ex-Frau, die eigentlich auf Bermuda lebt, und eine Bekannte ihres Stiefsohns. Dazu erhält sie seit kurzem seltsame Anrufe: Ein junger Mann, den sie auf der Party ihrer Freundin kennengelernt hat, behauptet, sie habe Ivor ermordet und er habe Beweise dafür. Und nicht nur das: Plötzlich scheint Ivors Geist in dem Haus aufzutauchen.

Es sind nicht die Anrufe und der Geist, die hier für leichte Spannung sorgen – ohnehin ist „Der lange Schatten“ zwar ein unterhaltsamer, aber nicht Celia Fremlins bester Roman. Es ist vor allem Imogen, die beeindruckt: Ihre Ruhe, ihr fehlendes Selbstmitleid, ihre Art, sich selbst zu vergewissern, dass ihr Ehemann sicherlich nicht der Heilige war, zu dem er nach seinem Tod verklärt wurde. Sie will nie vergessen, welche „Ekel“ er war. Die Folgen seiner Egozentrik und Eitelkeit lassen sich an seinen Kindern, seiner Ex-Frau deutlich erkennen. Da Imogen aber kaum sich zweifelt, entsteht auch wenig Spannung und Unruhe – und beides auch erst recht spät. Aber dann wird am Ende abermals sehr klar, wie mangelnde Liebe, Aufmerksamkeit und Einsamkeit fatale Folgen haben können.

Celia Fremlin ist eine sehr interessante Autorin, die mehr Aufmerksamkeit verdient. Hoffentlich ist „Der lange Schatten“ nur der Auftakt zu einer Wiederentdeckung dieser britischen Autorin, die so gar nichts mit gemütlichem Landhaus und verknöcherten Denken gemein hat.

Celia Fremlin: Der lange Schatten (The Long Shadow, 1975). Neuübersetzt von Sabine Roth. DuMont, Köln 2024. Hardcover, 256 Siten, 22 Euro.

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