Geschrieben am 1. September 2024 von für Crimemag, CrimeMag September 2024

Robert Rescue: Kladow sehen und sterben

Die Suche nach einem „Bürgeramt, das Kapazitäten frei hat“

Schier unerträglich ist der Schmerz, der mich befällt, als ich auf meinen Personalausweis schaue. Die Hände zittern, der Ausweis fällt auf den Boden. Mühsam hebe ich ihn auf und erinnere mich wehmütig an jene Zeit vor zehn Jahren, als ich ihn erneuern musste und ins ferne Hellersdorf gereist bin, weil das dortige Bürgeramt Kapazitäten frei hatte. Was war das für ein erhebender Moment gewesen, als ich seinerzeit das Amt mit dem frischen Dokument verließ, erleichtert von all den Sorgen, die man in Berlin mit einem Bürgeramt haben konnte. Gute Jahre brachen an und ich hatte keinen Gedanken dafür, dass sie irgendwann enden werden.

Ich gebe bei Google ein: „Bürgeramt, das Kapazitäten frei hat“ und füge dann den Suchbegriff hinzu, der die Ergebnisse wohl auf null reduzieren wird: „Berlin“. Es gibt einen einzigen Treffer. Eine Zeitungsmeldung, in der es heißt, das Bürgeramt Kladow könne Notleidenden möglicherweise helfen. Zwar sei es ständig geschlossen, aber dafür gebe es keine Warteschlange und keine Wartemarken. Das Amt sei geschlossen, weil das Personal bei anderen ordnungstechnischen Anliegen in Berlin aushelfen müsse, aktuell bei den Vorbereitungen zur Europawahl, aber auch beim Personalgewinnungsstand auf dem Müllerstraßenfest im Wedding, beim Sekt- und Schnittchen-Fest in Zehlendorf oder bei der Cannabis-Ernte in Neukölln. Ab und zu müssten die Mitarbeiter, so der Zeitungsartikel, mal in ihr Amt zurück, weil sie einen Stempel oder ein Formular brauchen, und wer die Gelegenheit beim Schopfe packt, der ist wieder für eine Weile ein glücklicher Mensch.

Kladow. Ich hatte zuvor nicht gewusst, dass das überhaupt existiert. Aber man lernt nie aus. Nach 30 Jahren in Berlin gibt es immer noch Orte, die ich nicht kenne. Erreichbar ist dieser Flecken Erde via Fähre über Wannsee. Angeblich soll Kladow zu Spandau gehören und ist darüber zu erreichen, aber aus der Facebookgruppe „Alles Lüge, hier Wahrheit“ weiß ich, dass Spandau gar nicht existiert, also bleibt nur die Fähre am Wannsee.

Nach fast zwei Stunden steige ich am S-Bahnhof Wannsee aus und laufe in Richtung See. Ich bin gespannt auf die Fähre, denn dieses Verkehrsmittel habe ich in Berlin noch nie benutzt. Kladow und Fähre, das Leben bietet echt Überraschungen. Ob das 2-Stunden-Ticket, das ich an der Seestraße entwertet habe, bis Kladow reichen wird? Oder braucht es für die Fähre einen extra Fahrschein? Als ich am Steg ankomme, sehe ich ein kleines Boot, das nur Platz für einen Fährmann und einen Passagier hat. Ich bin enttäuscht. Der Ferge trägt keine BVG-Uniform, sondern eine schwarze Mönchskutte. Sein Gesicht ist verborgen.

Am liebsten würde ich umkehren, aber wer weiß, vielleicht ist heute jemand im Bürgeramt anzutreffen?

„Fahren Sie rüber nach Kladow?“

JA.

„Ist mein 2-Stunden-Ticket noch gültig? Ich komme von der Seestraße im Wedding.“

GEBEN SIE MIR EINE MÜNZE.

„Wie, eine Münze? Irgendeine Münze? 1 Euro, 2 Euro, 5 Cent?“

WAS SIE ENTBEHREN KÖNNEN.

Ich überlege kurz und hole dann aus der Brieftasche ein 5 Cent Stück. Ich sehe nicht ein, dass ich extra für die Fähre ein Ticket lösen soll. Der Fährmann nimmt das 5 Cent Stück, steckt es in die Kutte und lädt mich auf das Boot ein. Komisch, weit und breit ist kein anderer Mensch zu sehen. Nicht einmal andere „Passtouristen“, wie sie in dem Zeitungsartikel genannt wurden, andere Verzweifelte, die wie ich ihr Glück in Kladow suchen.

„Ist die Fähre der BVG kaputt und sind Sie so eine Art Ersatzverkehr?“, frage ich, nachdem wir losgefahren sind. Mir kommt die Frage normal vor. Inzwischen ist doch jede Linie der BVG irgendein Ersatzverkehr, warum also nicht auch die Fähre? Ich hatte mir das Schiff anders vorgestellt, so wie die Pötte auf den Meeren, mit Autodeck und so, aber okay, wir sind hier ja nicht an der Ostsee. So ein Freak in einem schaukelnden Bötchen scheint mir eher Berliner Realität zu sein.

GEWISSERMASSEN, höre ich es von dem Fährmann. Nebel kommt auf. Neben dem Boot sehe ich im Wasser Gestalten, die uns begleiten. Es scheint mir, als wären es Nixen, aber das ist vermutlich Spinnerei. Am Himmel fliegt etwas. Genau erkennen kann ich es nicht, aber ich tippe auf einen Drachen. Womöglich war das mit der Fähre eine blöde Idee gewesen. Ich hätte nicht auf die Facebook-Gruppe hören sollen. Irgendein Land muss es im Westen von Charlottenburg ja geben und wenn es nicht Spandau ist, dann halt ein anderes. Das Schweigen des Fährmanns jagt mir Angst ein. Das Boot hat keinen Motor oder Ähnliches. Es ist wie so eine Gondel in Venedig und der Fährmann hat auch so ein Ruder. Vielleicht ist das so ein illegaler Fährbetrieb und ich lande sonst wo, nur nicht in Kladow. Komisch auch, dass der Typ sich mit 5 Cent zufriedengegeben hat. So macht er der BVG keine Konkurrenz.  „Arbeiten Sie für die BVG?“, frage ich plötzlich. Es würde mich beruhigen, wenn er die Frage bejahen würde.

NEIN.

„Wie lange braucht es noch?“ Die typische Frage von Fahrgästen in einem unheimlichen Gefährt, die am liebsten sofort aussteigen würden, aber mit der Frage erhoffen, dass sie es nicht müssen, weil das Ziel just in diesem Moment in Sicht kommt. Der Fährmann antwortet nicht, aber tatsächlich sehe ich voraus einen Steg, auf den das Boot zufährt. Auch dort ist niemand zu sehen. Ist schon Feierabend?

Ich schaue auf die Uhr. Mist, sie scheint stehengeblieben zu sein.

Bald darauf steige ich aus. Eigentlich dachte ich, ich müsse in Kladow rumfragen, um das Bürgeramt zu finden, aber meine Beine tragen mich voraus, als würde ich den Weg kennen. Bald darauf stehe ich vor einem eingeschossigen Gebäude, dessen Name „Bürgerbüro“ suggeriert, dass es hier effizienter ablaufen könnte als in einem „Bürgeramt“. Der Flur ist verwaist, es ist still. Ich setze mich auf einen Stuhl und hole meine Unterlagen heraus. Bei anderen Bürgerämtern werde ich nie drankommen, sage ich mir, aber in Kladow irgendwann. Ein Mitarbeiter wird den Flur entlangkommen und sich meiner annehmen.

Morgen, nächste Woche oder nächstes Jahr.

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Robert Rescue bei uns hierZu seiner Webseite mit Terminen, Veröffentlichungen etc. geht es hier, einen einschlägigen Beitrag von ihm finden Sie in der Anthologie „Berlin Noir“ und beim Talk Noir im Neuköllner Froschkönig ist er regelmässig unser Stargast.

Kürzlich von ihm erschienen: Diejenigen, die Gegenstände auf die Krokodile werfen, werden aufgefordert, sie zurückzuholen. Periplaneta, 148 Seiten, 13,50 Euro.
Im Herbst 2020 Corona zum Trotz erschienen: Robert Rescue: Das Leben hält mich wach. Berlins müdester Lesebühnenautor trotzt dem alltäglichen Wahnsinn mit Humor. Edition MundWerk, Berlin 2020. 146 Seiten, 12 Euro.

Robert Rescue bei uns. Beispiele:

Juli 24: Berliner Bildungsoffensive
Juni 24: Menschen und Orte
Mai 24: Berlin – Hochburg des Terrorismus
April 24: Bleibt da, wo ihr herkommt
März 24: Da ist was im Wasser
Januar 24: Ein Zug fährt nach Nirgendwo
Dezember 2023: Unter Fremden
November 23: Wie im Zoo
Oktober 23: Großbritannien kann mich mal
September 23: Der gefährlichste Mann der Welt
Juli / August23: Kim – oder die Sache mit der richtigen Anrede
Juni 23: Wie hat ihnen das Produkt gefallen?
Mai 23: Fenster zum Hof
April 23: Schritte im Hausflur
März 23: Wahl mit Qual: Demokratie endet nicht um 18 Uhr
Februar 2023: Für die Verkehrswende ist es zu spät 
Dezember 2022: Interview mit einem umgeschulten Flugzeugentführer
November 2022: Auf dem Friedhof von Stahnsdorf
September 2022: Die Generalmobilmachung
Juli 2022: Im Berlin Dungeon
Juni 2022: Abends bei Reddit 
Mai 2022: Energie sparen
April 2022: Leben ohne Feind
März 2022: Wenig Raum für Ekstase
Februar 2022: Der Kälte-Gottesdienst
Dezember 2021: Sind doch nur Kinder
November 2021: Geht mit Gott, aber geht
Oktober 2021: Keine Zeit zu sterben
September 2021: Bote aus vergangener Zeit
August 2021: Eine Kurzgeschichte mit Wetter