Geschrieben am 1. April 2022 von für Crimemag, CrimeMag April 2022

Robert Rescue: Leben ohne Feind

Da saßen wir nun. Er, der Oberst und ich, der Jäger. Also Jäger als Dienstgrad. Ist das gleiche wie Schütze, Funker oder Grenadier, also der Dienstgrad unterhalb Gefreiter, also quasi kein Dienstgrad, sondern nur Soldat nackt.

Ich nichts auf der Aufschiebeschlaufe und er silbernes Eichenlaub und drei silberne Sterne. Er fast General und ich bald Gefreiter. Er Berufssoldat, etwa 55 Jahre alt und seit geschätzt 30 bis 35 Jahren dabei und ich Wehrpflichtiger, 22 Jahre alt und seit 6 Monaten im Dienst.

Den hatten wir gemeinsam im Lagezentrum des 3. Korps. Er saß im Kommandoraum und ich draußen vor der Glotze. Die Bundeswehr befand sich erstmals in einem Auslandseinsatz, genauer gesagt in Somalia, und das erforderte einen veränderten Umgang mit der Lage, in diesem Fall hieß das, das Bild der Bundeswehr in den Medien zu erkunden. Dazu stand im Lagezentrum ein Tisch mit zwei Fernsehern, um ja nichts zu verpassen. Übernommen wurde die Arbeit vom Pressestab und dazu gehörte ich. Wir wechselten uns in drei Schichten ab. Wenn eine Nachrichtensendung kam, notierten wir in einem Buch stichwortartig, was zur Bundeswehr gesagt wurde, machten anschließend Meldung und ließen und das Handgeschriebene vom diensthabenden Offizier abzeichnen. Wir hatten eine Fernsehzeitschrift vor uns und wenn es keine Nachrichten gab, dann durften wir einfach so Fernsehen schauen. Nachts alte Edgar Wallace Filme, Winnetou-Schinken, Wiederholungen von „Tutti Frutti“ mit Hugo Egon Balder oder stundenlang Musikvideos auf MTV. Wenn es um 1 Uhr, 2 Uhr oder 3 Uhr die aufgewärmten Nachrichten von 22 Uhr gab, gingen wir unserer Arbeit nach und machten Meldung, obwohl es meist nichts Neues gab. Zur Auswertung standen damals ARD, ZDF, dazu RTL, SAT 1, VOX und PRO 7. Ich habe schon sinnlosere Tätigkeiten in meinem Leben verrichtet.

Aufmerksame Leser der letzten Sätze werden sich fragen, in welchem Jahrhundert das gewesen ist. Das war im letzten Jahrhundert, genauer gesagt, 1993. Es war übersichtlich, wir wurden nicht verrückt dabei. Wenn ich ehrlich bin, möchte ich die Arbeit heute nicht machen. Da ist das ganze Lagezentrum vermutlich voll mit Leuten, die auf Monitore starren, sich auf Facebook, Twitter und Reddit den ganzen Scheiß reinpfeifen, dazu noch 100 Nachrichtenseiten, RSS-Feeds, 100 Fernsehsender, Stream-Radios aus aller Welt und vielleicht schaut einer noch ein paar Versprengten auf MySpace zu. 

Es mag gegen 2 Uhr morgens gewesen sein, als ich ins Zimmer vom Oberst ging, um meine Nachrichtenlage zu melden.

Ich wollte wieder raus trotten, aber der Oberst bot mir einen Kaffee an. Er wollte wissen, wie ich die Welt sah, etwa vier Jahre nach dem Ende des Kalten Krieges. Ich sagte ihm, dass ich es nicht wisse.

Ich war ein Soldat für 12 Monate, zu kurz dabei, um mir Gedanken über die Welt aus sicherheitspolitischer Sicht zu machen. Bald würde ich nach Berlin gehen, eine Freundin haben, auf Punkrockkonzerten in versiffte Klos kotzen, das Leben in vollen Zügen genießen und mich beim Arbeitsamt melden.

Natürlich wusste ich, was er meinte, ich war nur zu schüchtern gewesen, weil ich nicht fassen konnte, dass ein Offizier mit mir plaudern wollte. Ich kannte alle Atomkriegsfilme, alle James Bond mit den fiesen russischen Bösewichtern und natürlich Rambo III, wo Sylvester Stallone einem Haufen Russkis den Arsch aufgerissen hatte. Aber sicherheitspolitisch? Jahrzehnte war nichts passiert und wenn ich alles richtig verstanden hatte in der Tagesschau, dann war der Russe jetzt auf Tauchstation und kam als Bedrohung der westlichen Freiheit nicht mehr infrage. Deutschland war, wie viele andere Länder auch, seit vier Jahren feindlos. Die Kreiswehrersatzämter hatten davon nichts mitbekommen, akribisch wie die GEMA klebten sie an jedem jungen Mann, ließen sich höchstens vertrösten, wenn einer noch zur Schule ging und wenn dem die Argumente ausgingen, dann schnappten sie zu. Wer das nicht wollte, entschied sich für den Zivildienst, tätowierte sich ein Hakenkreuz auf die Stirn oder hatte Harvey als Freund. Ich gehörte zur Fraktion Schule und als das Argument wegfiel, habe ich es halt gemacht. Ich konnte im Stabsdienst Presse – und Öffentlichkeitsarbeit tätig sein, das machte mir Spaß. Beim ersten Schießtraining in der Grundausbildung habe ich beschlossen, nie auf lebende Ziele zu schießen, mit Ausnahme von Aliens und Zombies, wobei „lebend“ im Zusammenhang mit Zombies nicht passt. Anders gesagt: ich schieße auf Ziele, bei denen ich danach kein schlechtes Gewissen habe oder schlimmer noch, eine Psycho-Krise. Also Tontauben oder Orks im Computerspiel.

Der Oberst mir gegenüber war das Gegenteil. Ein ausgereiftes Produkt des Kalten Krieges, als Soldat darauf konditioniert, dass der Russe morgen früh vor der Tür stand und er ihn abwehren musste, weil er sonst seine Freiheit, seinen Wohlstand und sein Leben verlor. Ich wusste das noch von meinen beiden älteren Brüdern, die hatten ihre 24 Monate Wehrdienst auch mit diesem Drill verbracht. Die hatten mir erzählt, die die Waffen nicht in der Waffenkammer lagerten, sondern auf den Gängen vor den Stuben. Es gab den NATO-Alarm. Wer sich als Zivilist nichts darunter vorstellen kann, der stelle sich Folgendes vor: 

Du schaust auf den Wecker. 7:58 Uhr. Du hast verschlafen. Du hast um 8 Uhr einen wichtigen Termin. Keinen Termin, wo du jetzt anrufen kannst und sagst, dass du eine Stunde später kommst. Du musst innerhalb von zwei Minuten deine Wohnung verlassen. Du springst aus dem Bett, ziehst dir das nächstbeste an, kein Frühstück, keine Toilette, kein Zähneputzen. Du schaffst es tatsächlich, um Punkt 8 Uhr vor deiner Wohnungstür zu stehen, sogar mit Schuhen an den Füßen. Jetzt musst du es schaffen, innerhalb von zehn Sekunden in Steglitz zu sein. Du selbst wohnst aber in Reinickendorf. Du bist am Arsch.

So ähnlich ist NATO-Alarm, nur ohne Steglitz und Reinickendorf.

Dafür aber mit der Möglichkeit, dass dich die Druckwelle eines Atompilzes zurück in die Stube schleudert, um dich anschließend bis auf die Knochen zu grillen, was aber Gott sei Dank nie passiert ist.

So geriet jede Nacht in der Kaserne zu einer schlaflosen, was den Vorteil hatte, dass du nach Ende des NATO-Alarms vom Zugführer gelobt wurdest für deine schnelle Reaktion.

Das hatte der Oberst vor mir erlebt. Wahrscheinlich dreimal die Woche.

Vor ihm saß eine neue Generation von Soldaten. Schluffis, die keinen NATO-Alarm mehr machen mussten, denen nicht mehr eingebläut wurde, dass morgen der Russe vor der Tür steht und das man darauf gefälligst vorbereitet sein sollte. Einer, der nicht mehr so viel schleppen konnte, der vielleicht Rückenprobleme hatte, der keine Sportskanone war, dem der Dienst an der Waffe eigentlich schnuppe war, der das ganze vielleicht nur als Abenteuer ohne Risiko wahrnahm. Einer, bei dem es die Bundeswehr nicht so genau nahm mit dem Drill. Die Märsche waren nicht mehr so lang wie früher, der 10000 Meter-Lauf fand nicht mehr dreimal die Woche statt oder täglich und wenn der Soldat bei der ABC-Übung kollabierte, dann schleppte man ihn halt zum Sani und verschonte ihn künftig damit. Hauptsache, er wusste jetzt, dass es Gelegenheiten gab, wo das Aufziehen einer Gasmaske sinnvoll war. Im Theorieunterricht war keine Rede mehr von einer Bedrohung aus dem Osten. Da ging es jetzt um globale Einsätze in Gegenden, die man auf einem Globus nie gefunden hätte. Die Wehrpflichtigen juckte das nicht, sie wurden da ohnehin nicht hingeschickt, außer sie verlängerten.

Zu Beginn des Krieges Russland gegen die Ukraine ertappte ich mich gelegentlich bei dem „humorig“ gemeinten Ausruf „Der Russe kommt“. So humorig war das gar nicht. Da kam einfach der Kalte Krieg in mir hoch.

Robert Rescue bei CrimeMagZu seiner Webseite mit Terminen, Veröffentlichungen etc. geht es hier, einen einschlägigen Beitrag von ihm finden Sie in der Anthologie „Berlin Noir“ und beim Talk Noir im Neuköllner Froschkönig ist er regelmässig unser Stargast.

Im Herbst 2020 Corona zum Trotz erschienen: Robert Rescue: Das Leben hält mich wach. Berlins müdester Lesebühnenautor trotzt dem alltäglichen Wahnsinn mit Humor. Edition MundWerk, Berlin 2020. 146 Seiten, 12 Euro.