Geschrieben am 1. April 2023 von für Crimemag, CrimeMag April 2023

Robert Rescue: Schritte im Hausflur

Ein Haufen Leute steigt die Treppen rauf und runter, ruft sich was zu, hin und wieder ein Lachen und ab und zu kommt jemand an meine Klingel und dieses furchtbare und ungewohnte Geräusch schreckt die Stille meiner Wohnung auf. Ein Umzug und wenn ich die Geräusche richtig deute, ein Einzug. Bei einem Einzug herrscht immer so eine Vorfreude bei den Leuten, die einziehen. Die sind immer so aufgeregt und stecken dann ihren Freundeskreis an und dann poltert es im Hausflur. Bei einem Auszug ist es ruhiger, die Leute haben gemerkt, dass das Haus nicht das richtige für sie ist und suchen sich eine neue Bleibe, wo es so ist, wie sie es gerne hätten.

Wann bin ich das letzte Mal umgezogen? 20 Jahre ist das jetzt her und ich hatte gute Laune. Der Umzug in den Wedding war damals so ein bedeutendes Ereignis, dass Frank Sorge eine Dokumentation darüber gedreht hat, in der ich so Dinge fasele wie, dass der Wedding „hell“ sei und der Friedrichshain „dunkel“. Lang ist das her. Frank hat dann weiter so Filme gedreht und ist nach Hollywood gegangen, wo er Umzugsdokumentationen als Dienstleistung anbietet. Die ganzen Promis sind wild auf ihn, wenn sie von Villa zu Villa ziehen. Er hat schon für Steven Spielberg, Johnny Depp u.a. gearbeitet. Auf jeden Fall war damals die neue Wohnung, der neue Kiez, ein Grund zur Freude und wenn ich gedanklich einen Bogen zu heute mache, dann spüre ich nichts mehr. Ich müsste auch mal wieder umziehen. Eine neue Wohnung, ein neuer Kiez, neue Einkaufsmöglichkeiten, das würde mir guttun. Aber leisten kann ich mir das nicht und damit bin ich ja nicht allein. Heute gibt es kaum noch Wohnungen und um die balgen sich Hunderte und sind bereit, alles dafür zu tun, wirklich alles. Früher ist man einfach so umgezogen oder weil die Wohnungstür klemmte oder der Wasserhahn kaputt war. Man hat bei einer Hausverwaltung angerufen, die auf einem Haufen leerer Wohnungen saß und eine Woche später begann ein neues Leben. Es gab im Freundeskreis ständig Umzüge, fast so häufig wie Partys. Das Leben bestand quasi nur aus Partys und Umzügen und auf den Straßen flitzten die Transporter von Robben&Wientjes hin und her. Gut erinnere ich mich an die Auszugspartys. Man hat bis 4 Uhr in der Nacht gefeiert, dann den ganzen Müll liegengelassen, die drei Kartons mit Wäsche und Unterlagen und die CD-Sammlung gepackt, ist mit der Robbe in die neue Wohnung gefahren, hat die drei Kartons und die CD-Sammlung irgendwo abgestellt und dann gleich eine Einzugsparty gefeiert.

Es klingelt wieder an der Tür. Meine Güte, können die nicht vorsichtig sein, wenn sie den Schrank hochtragen? 

Oder steht etwa der neue Mieter, die Mieterin vor der Tür, um sich vorzustellen? Das ist ja heute nicht mehr üblich. Irgendwann trifft man im Hausflur ein neues Gesicht oder die Leute holen Pakete ab und eventuell kommt man ins Gespräch. Ich habe mich damals auch nicht vorgestellt, als ich hier eingezogen bin. Ich habe gedacht, im Laufe der Zeit ergibt sich das, wenn man sich im Flur grüßt. Nach 20 Jahren kann ich sagen, ich kenne das ganze Hinterhaus. Ich weiß zwar nicht, wie die heißen und was sie so machen, aber wir kennen uns. Bei der Gelegenheit: die eine Frau aus dem Vorderhaus hat mich 20 Jahre lang nicht gegrüßt, aber vor zwei Tagen hat sie mal genickt, als sie auf dem Bürgersteig an mir vorbeigegangen ist. Ich denke, jetzt ist das Eis zwischen uns gebrochen.

Was einem Umzug heutzutage auch im Weg steht, ist der Freundeskreis. Ich muss gestehen, ich kenne nicht mehr viele Leute, die bei einem Umzug helfen würden. Aber das geht nicht nur mir so. Die Leute haben ja auch keine Freunde mehr, keine Zeit und auch keine Lust. Wenn die umziehen, dann rufen die bei einer Nummer von den Flyern an, die man jede Woche im Briefkasten findet. Die tragen auch den Erbschrank von der Großmutter in den 5. Stock, ohne zu maulen. Und die Umziehenden stehen daneben und sind froh, dass sie die Leute bezahlen, weil die dann ja nicht motzen können, wenn ihnen etwas zu schwer oder zu sperrig ist. Eventuell geben sie noch einen Zehner Trinkgeld und das war es dann. Keine Schnittchen oder zehn Pizzen und eine Kiste Bier. Einfach die Tür zuschlagen und dann einziehen. Ist viel angenehmer, als bei Bekannten hausieren zu gehen. Die reagieren nicht auf Textnachrichten, in denen das Wort „Umzug“ vorkommt. Oder es tut ihnen leid, an dem Tag haben sie einen wichtigen Termin, den sie nicht absagen können, aber ansonsten gerne oder sie schicken einen Screenshot einer Krankschreibung wegen Rücken. 

Es klingelt wieder an der Tür. Ich glaube, ich geh jetzt mal hin und motze die an. Im vergangenen Jahr hat es dreimal an der Tür geklingelt und ich habe nicht aufgemacht. Wenn ich den neuen Mietern später mal im Flur begegne, werde ich denen klar machen, wie die Regeln hier im Haus sind. Wir sind ein ordentliches Haus. Partys müssen durch Aushänge angekündigt werden, dauern höchstens bis 2 Uhr und dürfen nur einmal im Jahr abgehalten werden. Lautes Hören von Musik ist unerwünscht, außer es handelt sich um gute Musik und übermäßige Bewegung im Treppenhaus und damit die Erzeugung von Lärm ist nicht gern gesehen. Wenn die das nicht akzeptieren, sollen sie gleich wieder wegziehen. Vielleicht denken die Neuen auch so? Dann muss ich nicht aufstehen und das jetzt klären. 

Wir sehen uns im Flur, sagen Hallo und vielleicht bleibt ja irgendwann mal eine Minute übrig, um zu besprechen, was nötig ist.

Irgendwann höre ich keine Schritte mehr im Flur.

Ob es vielleicht doch eher ein Auszug war?

Kann sich doch keiner heutzutage leisten, denke ich mir.

Robert Rescue bei CrimeMagZu seiner Webseite mit Terminen, Veröffentlichungen etc. geht es hier, einen einschlägigen Beitrag von ihm finden Sie in der Anthologie „Berlin Noir“ und beim Talk Noir im Neuköllner Froschkönig ist er regelmässig unser Stargast.

Im Herbst 2020 Corona zum Trotz erschienen: Robert Rescue: Das Leben hält mich wach. Berlins müdester Lesebühnenautor trotzt dem alltäglichen Wahnsinn mit Humor. Edition MundWerk, Berlin 2020. 146 Seiten, 12 Euro.

Robert Rescue bei uns hier. Beispiele:

März 23: Wahl mit Qual: Demokratie endet nicht um 18 Uhr
Februar 2023: Für die Verkehrswende ist es zu spät 
Dezember 2022: Interview mit einem umgeschulten Flugzeugentführer
November 2022: Auf dem Friedhof von Stahnsdorf
September 2022: Die Generalmobilmachung
Juli 2022: Im Berlin Dungeon
Juni 2022: Abends bei Reddit 
Mai 2022: Energie sparen
April 2022: Leben ohne Feind
März 2022: Wenig Raum für Ekstase
Februar 2022: Der Kälte-Gottesdienst
Dezember 2021: Sind doch nur Kinder
November 2021: Geht mit Gott, aber geht
Oktober 2021: Keine Zeit zu sterben
September 2021: Bote aus vergangener Zeit
August 2021: Eine Kurzgeschichte mit Wetter