
Die Generalmobilmachung
Ein Telefon klingelt.
Brigadegeneral Uchtmann schaut auf das Display und seufzt. Er mag nicht rangehen, aber er muss. Befehl von ganz oben.
„Huhu, Herr Generalfeldmarschall. Hier ist die Franzi. Haben Sie schon die Nachrichten gehört? Wir haben ein Problem mit diesem Scheiß-Sprengplatz im Grunewald. Der fliegt uns gerade um die Ohren. War ja klar, dass da was passiert, jetzt, wo das halbe Land abfackelt. Diese ganzen Weltkriegs-Dinger und die Polenböller, die wir den Deppen am Jahresende abnehmen. Aber ich hatte den gar nicht auf dem Schirm, weil wir wieder Probleme mit Flüchtlingen haben und dann haben wir ja auch kein Wasser mehr. Und außerdem habe ich gerade Urlaub. Kann in dieser Scheiß-Stadt nicht einfach mal was funktionieren? Wenigstens, wenn ich in Urlaub bin? Also, Butter bei die Fische: Ich brauche mal wieder Hilfe. Ein paar Panzer wären gut, also jetzt nicht Marder, Hase, Giraffe oder wie die heißen, sondern so Dinger, die alles plattmachen können. Haben Sie da gerade ein paar übrig oder sind die irgendwo im Krieg?“

Brigadegeneral Uchtmann seufzt innerlich. Am liebsten würde er wortlos auflegen. Jedes Mal, wenn er mit Politikern telefoniert, kommt er mehr und mehr zu der Überzeugung, dass eine Militärdiktatur die beste Regierungsform für Deutschland oder wenigstens Berlin wäre.
„Natürlich steht die Bundeswehr an ihrer Seite, Frau Regierende Bürgermeisterin. Ich werde umgehend dafür sorgen, dass sich ein paar Bergepanzer 2000 in Marsch setzen, welche die Kräfte von Polizei, Feuerwehr und Technischem Hilfswerk bei der gefahrvollen Arbeit unterstützen.“
„Bergepanzer 2000? Das klingt cool. Okay, ich fahre jetzt mal raus, schaue mir die Scheiße an und guck mal, ob ich einen finde, den ich verantwortlich machen kann. Wäre gut, wenn Sie auch vorbeikommen könnten, so Gold auf den Schultern macht sich vor der Presse immer gut und beruhigt die Bürger. Bis später, Herr Generalfeldmarschall.“
Das Verhältnis zwischen Bundeswehr und Berliner Senat war nicht immer, wie soll man sagen, so kooperativ wie bei dem Brand im Grunewald. Als zu Beginn des Ukraine-Krieges Flüchtlinge nach Berlin strömten, ging die Berliner Verwaltung selbstverständlich davon aus, dass die Armee Hilfe leistete.
Doch die wollte nach der langdauernden Corona-Hilfe lieber ihre Wehrfähigkeit „inübunghalten“, die bei dem ganzen Bürokram abhandengekommen war.

Militärs wie auch Bundespolitiker ließen die Berliner wissen, dass der Einsatz der Bundeswehr nicht bei jedem Verwaltungsvorgang angefragt werden kann, sondern nur bei nationalen Katastrophenlagen. Berlin galt intern längst als „Failed City“, neuerdings wurde auch von „somalischen Verhältnissen“ gesprochen. Franziska Giffey wusste um die Ablehnung von Bund und Armee. Leider konnte sie sich auch nicht an die Verteidigungsministerin Christine Lambrecht wenden. Niemand wusste etwas genaueres, aber laut Gerüchten ging es um eine nicht zurückgegebene Tupperdose.
Die Regierende Bürgermeisterin ersann einen Plan, die hiesigen Autoritäten zu umgehen und sicherzustellen, dass sie jederzeit auf die Unterstützung durch die Streitkräfte zählen konnte.

Sie rief beim NATO-Hauptquartier in Brüssel an und ließ sich zu Jens Stoltenberg durchstellen. Dieser versicherte ihr, dass er die Probleme Berlins ernst nehme, aber nicht helfen könne, weil er im Prinzip der „Grüßaugust“ sei, der die Entscheidungen der Militärs der Öffentlichkeit mitteile und sonst nichts zu melden habe. Er riet ihr, sich an die amerikanischen Militärs zu wenden und ihre Bitte mit Hinweisen zu untermauern, dass Berlin schon immer strategisch wichtig gewesen sei für Amerika, siehe Kalter Krieg, Frontstadt usw. und dass Berlin auch jetzt Frontstadt sei angesichts der Bedrohung durch die faschistoiden Kommunisten.
Kurze Zeit später telefonierte die Regierende Bürgermeisterin mit dem Sekretariat des amerikanischen Generals Christopher Cavoli, der seit Juli 2022 als NATO Oberbefehlshaber fungierte. Wie es Franziska Giffey dann gelungen ist, zum General durchgestellt zu werden, ist nicht im Detail bekannt. Giffey äußerte sich später dahingehend, sie habe mit der Vorzimmerdame Frau Kasulke „Einigkeit in einigen Sachthemen“ erzielt.
Nun ist es nicht üblich, dass irgendein popeliger Bürgermeister oder Bürgermeisterin irgendeiner europäischen Stadt oder Hauptstadt es zum NATO-Kommandeur schafft und schon gar nicht mit einem solch profanen Anliegen, Soldaten zu kriegsfernen Tätigkeiten abzustellen, schließlich ist der General den ganzen Tag mit den Themen Truppenaufstellung, Marschflugkörper und Atomwaffen beschäftigt, doch Franziska Giffey soll zum Gesprächseinstieg ihren Unmut darüber ausgedrückt haben, dass Deutsche beim Verzehr von Spaghetti einen Löffel benutzen, was bei General Cavoli, Amerikaner mit italienischen Wurzeln, Anklang fand. Der Rest ergab sich dann von selbst und schlussendlich griff General Cavoli zum Hörer und rief die deutsche Verteidigungsministerin an. Diese musste sich dann anhören, dass die liebe „Franzi“, wie der General sie nun nannte, „Priorität“ habe, was die Verwendung deutscher Streitkräfte angehe.
Der General begründete seinen Befehl damit, dass die Bundeswehr aufgrund ihrer mangelhaften Ausrüstung für weitere taktische Überlegungen der NATO derzeit kaum eine Rolle spiele und sie somit für andere Aufgaben freigestellt sei. Er sei überdies skeptisch, dass das 100 Milliarden Euro Sondervermögen wirklich dafür sorgen könne, dass die Bundeswehr „total toll“ sei. Er habe gehört, dass allein 2 Milliarden für den Posten „Bekleidung und persönliche Ausrüstung“ vorgesehen sei und ein Teil des Geldes in die Beschaffung einen neuen „Kampfschuhsystems Streitkräfte“ fließe. Ob die Bundeswehr bislang barfuß in Einsätze gegangen sei, fragte der General. Die Verteidigungsministerin antwortete nicht. General Cavoli machte darauf aufmerksam, dass die Kohorten des Römischen Reiches für ihre Kampfkraft berühmt gewesen seien und dass diese Sandalen getragen haben. Ob es vielleicht eine Idee sei, deren Schuhwerk zu übernehmen?
Als Verteidigungsministerin Lambrecht schließlich mit steinerner Miene auflegte, gab sie den Befehl, eine bestimmte Tupperdose erschießen zu lassen.

General Uchtmann eilt an Bord eines Leopard-2-Panzers durch Berlin. Ein paar Autos gehen zu Bruch, ein paar Fußgänger werden überfahren, Kollateralschäden, es herrscht Gefahrenlage. Eine dreiviertel Stunde später sagt er in die ausgestreckten Mikrophone der Journalisten, befragt nach der Arbeit der Bergepanzer: „Die Schneisen dürfen nach Ende der Krise als wunderschöne, breite Wander- und Radwege der Berliner Bevölkerung zur Verfügung stehen.“
Die Umstehenden applaudieren und Franziska Giffey klopft ihm anerkennend auf die Schultern. Der General ist plötzlich tief beschämt über das Gesagte. Er schaut nach vorne und denkt an seine Pensionierung. Er wird unverzüglich die Stadt verlassen. Die regierende Bürgermeisterin wendet sich ebenfalls an die Presse: „Ich finde super, was der Herr Generalfeldmarschall da gesagt hat. Wir müssen bei all der Schrecklichkeit der Geschehenen nach vorne schauen und für die Zukunft den Charakter des Naherholungsgebietes Grunewald im Blick behalten.“
„Und aufforsten ist wichtig“, sagt ein Förster. „Mit Mischwald natürlich.“
„Eine Verlegung des Sprengplatzes ist auch vonnöten“, meint ein Bezirksbürgermeister. „Die Gefährdung von Menschenleben ist nicht hinnehmbar. Ich schlage vor, den Sprengplatz künftig in eine Gegend zu verlegen, in der ein möglicher Schaden durch Explosionen hinnehmbar ist. Ich denke da an den Wedding.“
General Uchtmann blickt starr in die Kameras und atmet flach. Er wird alles hierlassen, sogar Frau und Kinder und auf einer Insel im Pazifik untertauchen. Er schaut nach vorne und freut sich auf diesen Tag.
Robert Rescue bei CrimeMag. Zu seiner Webseite mit Terminen, Veröffentlichungen etc. geht es hier, einen einschlägigen Beitrag von ihm finden Sie in der Anthologie „Berlin Noir“ und beim Talk Noir im Neuköllner Froschkönig ist er regelmässig unser Stargast.

Im Herbst 2020 Corona zum Trotz erschienen: Robert Rescue: Das Leben hält mich wach. Berlins müdester Lesebühnenautor trotzt dem alltäglichen Wahnsinn mit Humor. Edition MundWerk, Berlin 2020. 146 Seiten, 12 Euro.
Robert Rescue bei uns hier. Beispiele:
Juni 2022: Abends bei Reddit
Mai 2022: Energie sparen
April 2022: Leben ohne Feind
März 2022: Wenig Raum für Ekstase
Februar 2022: Der Kälte-Gottesdienst
Dezember 2021: Sind doch nur Kinder
November 2021: Geht mit Gott, aber geht
Oktober 2021: Keine Zeit zu sterben
September 2021: Bote aus vergangener Zeit
August 2021: Eine Kurzgeschichte mit Wetter