
Vor kurzem las ich auf Reddit, jenem Frageportal zu den Themen Suizid, Finanzen, lustige Bilder und Tiraden zu diesem und jenem, eine Frage, die mich aufhorchen ließ. Es handelte sich um eine vollends bedeutungslose Frage, die keinerlei Lerneffekt hatte, die nicht für Erheiterung sorgte, wenn man sie bei einem geselligen Abend in der Kneipe zum Besten gab, sondern eher für Befremden sorgte. Oder anders gesagt: Es gibt viele Fragen auf dieser Welt, die bedeutsamer sind, deren Beantwortung Belustigung hervorruft oder Probleme löst, sei es im kleinen oder großen Kontext. Diese Frage gehörte definitiv nicht dazu. Ich stellte mir dennoch vor, wie der Fragende am Abend auf seinem Balkon stand, in den Nachthimmel schaute, auf das blinkende, sich bewegende Licht starrte, während in ihm diese eine Frage heranreifte. Er verließ den Balkon, setzte sich an den Computer und tippte:
Ist die ISS ein Gebäude?
An dieser Stelle könnte der Text enden. Es hätte sein können, dass ihm niemand eine Antwort gab und er den Rest seines Lebens mit dieser Frage haderte. Es hätte sein können, dass er sich an das deutsche Zentrum für Luft- und Raumfahrt oder die NASA gewandt hätte und Schweigen die Antwort gewesen wäre, weil die Leute dort besseres zu tun haben.
Aber wer in Deutschland an einem Werktag um 20:33 Uhr eine Frage ins Internet stellt, bekommt eine Antwort und mit Sicherheit mehr als eine. Es gibt Menschen, die es gut meinen mit dem Fragesteller und in der Lage sind, eine klare Antwort zu geben. Zum Beispiel diese: Die ISS ist nicht fest mit dem Boden verbunden, daher ist sie kein Gebäude, genau wie z.B. Flugzeuge, Boote oder Wohnwagen auch nicht.

Voilà, die Frage ist beantwortet. Der Fragesteller könnte das Forum loben, weil es ihm geholfen hat und der Antwortende könnte sich über einen schönen Tagesabschluss freuen, weil er eine unklare Angelegenheit verdeutlicht hat. Aber es gibt Menschen hierzulande, die sich mit der fast schon strahlenden, glasklaren Schönheit dieser Antwort nicht zufriedengeben können, es fehlt etwas, es muss verdeutlicht werden, es muss beschmutzt werden mit Nebensächlichkeiten, Ausdeutungen und Klugscheißerei. Und eine solche Frage ist wie ein frisch ausgeschiedenes Exkrement mit einer ausgeprägten Duftnote, dass sogleich Geschmeiß anlockt, das Antworten gibt wie diese:
Ein Gebäude ist ein Bauwerk auf eigenem oder fremdem Grund und Boden, das Menschen oder Sachen durch räumliche Umschließung Schutz gegen äußere Einflüsse gewährt, den Aufenthalt von Menschen gestattet, fest mit dem Grund und Boden verbunden, von einiger Beständigkeit und standfest ist (R 7.1 Abs. 5 Einkommensteuer-Richtlinien; H 7.1 [Gebäude] Einkommensteuer-Hinweise). Zum Gebäudebegriff s.a. Abschn. 1 Abs. 2 BewRGr (Richtlinien für die Bewertung des Grundvermögens) und § 68 BewG (Bewertungsgesetz)

Der Antwortende hat ein schweres Leben hinter sich. Als Kind wollte niemand mit ihm spielen, in der höheren Schule wurde er in jeder Pause von den Klassenkameraden übelst misshandelt, und zwar von allen Klassenkameraden, auch von dem hässlichen Jungen mit Hornbrille, den alle für irre hielten und der bei dem täglichen Pausen-Gemetzel erkannte, dass Töten sein Talent war und nicht das Schnitzen von Tieren, die man nicht eindeutig erkennen konnte. Solche Menschen, also der Antwortende, nicht der Junge mit der Hornbrille, gehen nach dem Studium zu einem Amt oder werden Anwalt, wo sie auf ihresgleichen treffen. Diese aber haben nach diversen Sitzungen auf der Couch eine Lektion gelernt – nach acht Stunden Arbeitszeit wechselst du deine Persönlichkeit und verleugnest, was du beruflich machst. Du machst nach 18 Uhr Malen nach Zahlen oder kaufst bei eBay Smartphone-Hüllen im Lego-Muster, weil du die sammelst, aber du machst nicht deutlich, dass du deine Seele irgendwo zwischen den Buchdeckeln von BGB, SGB und dem Necronomicon verloren hast.
Aber der Jura-Kollege ist natürlich nicht alleine unterwegs. Für manche ist schon das bloße Zitieren eines Paragraphen ein gefundenes Fressen, um in die Diskussion einzusteigen, um sie entweder zu vertiefen oder komplett an die Wand zu fahren: Die ISS ist natürlich eine Raumstation. Die Definition Gebäude anzuwenden ist falsch und rechtlich bestenfalls altmodisch und vor allem problematisch.
Was ist los mit dir? Altmodisch? Problematisch? Sind sie das, Herr von Bödefeld? Sind sie außerhalb der Sesamstraße wiederauferstanden und sitzen als verwester Zombie vor dem Laptop in ihrer Kanzlei?
Ein anderer Reddit-Nutzer geht einen Schritt weiter als die erste Antwort und verkompliziert die Sache nur unnötig: Ich würde es als „Fahrzeug“ einordnen.
Es folgen etwa 500 Kommentare, in denen der Antwortende widerlegt, verspottet oder mit dem Tod bedroht wird. Jetzt wird es Zeit für einen Kommentar, auf den niemand antworten will, nicht einmal die, die tagein, tagaus andere Nutzer mit ihrem Hass vollkotzen. Alle wissen, dass der Kommentator aus einem geistigen Nullraum heraus schreibt, eine Leere, in der nicht ein einziger qualifizierter Gedanke wohnt. Man darf ihn nicht dazu anstiften, noch ein Wort mehr zu schreiben, weil niemand das ertragen kann.

Nein, ISS ist eine Gebäudereinigungsfirma, kein Gebäude.
Es wird Zeit für die einfache Antwort. Sie ist entweder bekloppt oder genial. Der Antwortende hat eine geistige Richtung eingeschlagen, in die ihm niemand folgen will, aus der instinktiven Angst heraus, dass solche Antworten die Welt einfach und schön machen könnten, und das will natürlich niemand.
Nein, es hat keine Straße und keine Hausnummer.
Ich schließe den Tab und fasse zusammen: Bei der ISS handelt es sich um eine Raumstation und nicht um ein Gebäude. Was ein Gebäude ist, regelt hierzulande der Gesetzgeber. Die ISS ist keinesfalls eine Reinigungsfirma. Alles andere zu behaupten ist altmodisch, falsch und überdies problematisch.
Den Typen, der die Antwort mit der Reinigungsfirma gab, habe ich übrigens neulich getroffen. Er stand mit seiner Frau vor einer Filiale der Drogeriekette DM und meinte zu ihr: „Da war früher eine Filiale von Rossmann drin, aber die gibt es ja nicht mehr.“
Ich habe drauf verzichtet, seine Antwort zu korrigieren, und bin weitergegangen.
Robert Rescue bei CrimeMag. Zu seiner Webseite mit Terminen, Veröffentlichungen etc. geht es hier, einen einschlägigen Beitrag von ihm finden Sie in der Anthologie „Berlin Noir“ und beim Talk Noir im Neuköllner Froschkönig ist er regelmässig unser Stargast.

Im Herbst 2020 Corona zum Trotz erschienen: Robert Rescue: Das Leben hält mich wach. Berlins müdester Lesebühnenautor trotzt dem alltäglichen Wahnsinn mit Humor. Edition MundWerk, Berlin 2020. 146 Seiten, 12 Euro.