
Berlin Dungeon
Die eintreffende Mail versprach nichts Gutes:
Lieber Robert Rescue, die Vorbereitungen für ihre Rechnung laufen.
Das klang übertrieben. Ob wirklich gerade mehrere Mitarbeiter des Stromanbieters über einen Tisch gebeugt über meine nächste Stromrechnung grübelten? Ich las weiter:
Es wird Zeit, ihren Zählerstand abzulesen. Da wir wissen, wo Sie wohnen, wünschen wir Ihnen viel Glück dabei. Sollten Sie heil aus dem Keller gelangen, geben Sie ihren Zählerstand bitte auf unserer Website ein. Sollten wir nichts mehr von Ihnen hören, freuen wir uns, dass Sie unser Kunde waren.
Jedes Jahr das Gleiche. Manchmal wünschte ich mir, woanders zu leben. Da lief das so ab: Treppensteigen, Licht anmachen, Zählerstand vermerken, Licht ausmachen, Treppensteigen. Es klang verlockend einfach.
Aber in Berlin war es so: Man musste nicht in das Dungeon Berlin gehen und sich da gruseln lassen. Das war was für Touris und kostete Geld. Der Berliner ging für umme einmal im Jahr in den Keller und wenn er Pech hatte, blieb er dort und reihte sich schlimmstenfalls als Zombie in ein Monster-Kabinett ein oder diente als Futter für die Berliner Keller Fauna.
Erstmal ging ich mit einem Kanister in der Hand auf die andere Straßenseite zur Tankstelle.
„Was haben sie vor, fürs Auto reicht das ja nicht“, bemerkte der Tankwart, nachdem ich den Kanister gefüllt hatte.
„Stromzählerablesung“, antwortete ich.
„Shit und dann einen ganzen Kanister. Wollen Sie das Haus abfackeln?“

„Kommt darauf an, was im Keller lebt.“
„Verstehe.“
Zuhause habe ich mir dann den Neopren-Taucheranzug angezogen. Kaum zu glauben, aber der hatte sich beim Gang in den Keller bewährt. Die geifernden Zähne der Ratten drangen nicht durch das eigentlich dünne Material. Angeblich mochten die den Synthetik-Kautschuk nicht. Ich hatte mal von einem gehört, der in einer Ritterrüstung in den Keller gegangen war. Eigentlich eine sichere Sache, will man meinen, aber Kumpels hatten den ein paar Stunden später bis auf die Knochen abgenagt gefunden und das Metall war aufgerissen wie bei einer Konservendose. Ich packte noch den Flammenwerfer, den Baseballschläger und das Essenspaket ein, falls ich mich verirren würde, und ging dann in den Keller.
Als erstes verbrannte ich mit dem Benzin die Spinnweben, die direkt hinter der Tür eine beinahe unüberwindbare Barriere bildeten.
Ein paar der Spinnen gingen mit drauf und ich bildete mir ein, ihre Todesschreie zu hören, als sie den Feuertod starben. Normalerweise kann ein Mensch die Geräusche von Spinnen nicht hören, aber jedwede Definition von Normalität war bei diesen Viechern außer Kraft gesetzt. Handgroße pelzige Bestien, die teilweise noch eine halbe Ratte im Maul hatten. Ihre 8 grünen Augen blickten mich hasserfüllt an. Okay, das geht bei Spinnen ebenso wenig wie die halbe Ratte im Maul, aber die Vorstellung kam der Gefährlichkeit, die von diesen Monstern ausging, nahe. Eigentlich war es sinnlos, was ich tat, denn bald schon würden sie ihre Netze neu spinnen und bei der Raserei, in die ich versetzt hatte, mochte es sein, dass diese Netze widerstandsfähiger waren. Das war definitiv schlecht für den Nachbarn, der nach mir das Pech hatte, seinen Stromzähler ablesen zu müssen.
Einen halben Meter hinter der Barriere entdeckte ich Oma Kasulke. Die Spinnen ließen sie in Ruhe, weil sie davon ausgingen, dass sie längst tot war. „Ist der Russe schon da?“, fragte sie in meine Richtung. Oma Kasulke hatte 1980 die Hausgemeinschaft verlassen und sich in den Keller zurückgezogen, weil sie manisch davon überzeugt war, dass sich der Kampf um Berlin bald wiederholen würde. Jahrzehntelang hatten wir sie dafür verspottet, aber es schien so, als würde Oma Kasulke Recht behalten. „Bald“, sagte ich zu ihr, anstatt wie sonst „Verpiss dich, du alte Vettel“. Ich bewegte mich weiter durch den Keller und entdeckte in einem offenen Keller einen Karton Sonnenblumenöl. Mein Gott, was für ein Schatz! Wo kam der her? Egal, ich packte ihn unter den Arm. Später würde ich auf dem Bürgersteig einen Tisch aufbauen und jede Flasche für 10€, ach Quatsch, 20€ verkaufen.

Während ich im Geist den Profit zählte, kam eine Gestalt auf mich zu. Sie torkelte und ich wusste Bescheid. Ich richtete den Flammenwerfer auf die Kreatur. Im Schein der Flammen sah ich ein Gesicht. Gerrit, der Student aus dem dritten Stock, der nicht glauben wollte, dass der Gang in den Keller gefährlich sein konnte. Vermutlich hatte er kürzlich von seinem Stromanbieter die Aufforderung zur Ablesung bekommen, war furchtlos herabgestiegen und auf einen längst vermissten Mieter gestoßen, der zum Zombie geworden war und ihn infiziert hatte. Ruhe in Frieden, Gerrit, sagte ich zum Abschied und stieg über den Haufen Asche. Dann hörte ich das Summen. Ein Stück weiter den Gang entlang stieß ich auf ein leuchtendes Tor, aus dem sich grau-braune Tentakel streckten. Ich vermutete schon lange, dass es sich um ein Art Dimensionstor oder ein Wurmloch handelte, aber ich hatte Sorge, es zu benutzen, weil ich ja nicht wusste, wo ich dann landen würde.
Wäre es ein Paradies mit Einhörnern, Regenbögen und Sonderangeboten, dann hätte ich längst den Schritt gewagt.
Aber was war, wenn mich dort Zombies, Spinnen oder einfach nur ein mir unbekannter Keller in einer, Million Lichtjahre entfernten, Galaxis erwarteten?
Ich ging weiter und kam zu einer Reihe von Holzkisten, auf denen Hakenkreuze eingebrannt waren. Das Bernsteinzimmer. Ich wollte es schon längst aus dem Keller holen, aber ich hatte in meiner Wohnung keinen Platz, um es aufzubauen. Außerdem befürchtete ich internationale Verwicklungen, ausgehend von der profanen Enthüllung, dass es sich im Keller eines Mietshauses in Berlin-Wedding befunden hatte. Aber angesichts der Inflation schien es mir bald nötig, mal ein paar Schätze zu Geld zu machen, und das Bernsteinzimmer würde sicherlich einiges mehr bringen als der Karton Sonnenblumenöl.
Dann erreichte ich die Kästen mit den Stromzählern. Aus den Tiefen des Kellers hörte ich ein Brüllen. Ein Löwe? Ein Dämon? Oder der Zombie, der Gerrit auf dem Gewissen hatte? Ich wollte es nicht wissen. Eilig las ich den Zählerstand ab und bewegte mich zurück zum Eingang. Komisch, Ratten hatte ich keine entdecken können. Vermutlich waren sie von dem Spezialkommando erledigt worden, dass die Hausverwaltung neulich geschickt hatte. Drei hatten es nicht geschafft, hatte mir ein Nachbar erzählt. Vielleicht kam von denen das Brüllen. Auf jeden Fall fand ich es super, dass die Hausverwaltung sich endlich um die Sache kümmerte. Vielleicht war es nächstes Jahr möglich, den Keller gefahrlos zu betreten. Dann würde mir zwar was fehlen, aber vielleicht besuchte ich endlich mal diesen Berlin-Dungeon und lachte die Schauspieler aus.
Immerhin hat sich der Ausflug in den Keller gelohnt.
23,98€ habe ich vom Stromversorger zurückbekommen.
Robert Rescue bei CrimeMag. Zu seiner Webseite mit Terminen, Veröffentlichungen etc. geht es hier, einen einschlägigen Beitrag von ihm finden Sie in der Anthologie „Berlin Noir“ und beim Talk Noir im Neuköllner Froschkönig ist er regelmässig unser Stargast.

Im Herbst 2020 Corona zum Trotz erschienen: Robert Rescue: Das Leben hält mich wach. Berlins müdester Lesebühnenautor trotzt dem alltäglichen Wahnsinn mit Humor. Edition MundWerk, Berlin 2020. 146 Seiten, 12 Euro.
Robert Rescue bei uns hier. Beispiele:
Juni 2022: Abends bei Reddit
Mai 2022: Energie sparen
April 2022: Leben ohne Feind
März 2022: Wenig Raum für Ekstase
Februar 2022: Der Kälte-Gottesdienst
Dezember 2021: Sind doch nur Kinder
November 2021: Geht mit Gott, aber geht
Oktober 2021: Keine Zeit zu sterben
September 2021: Bote aus vergangener Zeit
August 2021: Eine Kurzgeschichte mit Wetter