
Die Kirchen haben es heute nicht leicht, Gläubige für ihre Sache zu finden. Wenn sie nicht gerade Corona leugnen und rassistisch auftreten wie manche Freikirchen, dann hapert es schon mit interessanten Angeboten, außer vielleicht Drogenkonsum während des Gottesdienstes oder Abfeiern einer Orgie, aber das ist natürlich nicht drin.
Die evangelische Kirche am Leopoldplatz ließ sich, zumindest in der Weihnachtszeit, etwas besonders einfallen. Ein Krippenspiel unter freiem Himmel, bei Schneeregen und minus 4 Grad. Verlockend klingt das nicht, aber zu Weihnachten lässt der Übers-Jahr-Ungläubige sich nicht lumpen, wegen familiärer Tradition, die einzuhalten ist und überhaupt – Weihnachten und Gottesdienst, ach, ist das schön.
Mir ist das eigentlich alles schnuppe. Aber ich verbringe Weihnachten mit Menschen, denen das wichtig ist und um den weihnachtlichen Frieden nicht zu stören, ziehe ich halt mit. Die letzten Jahre meist zum Mitternachts-Gottesdienst nach Frohnau oder mal nachmittags nach Schlachtensee. Dieses Mal ist der Wedding dran und wegen Corona der Open Air Gottesdienst auf dem Leopoldplatz bei den oben genannten Widrigkeiten.
Bevor es losgeht, gibt es ein Vorprogramm mit Polizeieinsatz. Vor der Sparkassen-Filiale halten mehrere Einsatzwagen. Hat da etwa jemand versucht, am Heiligabend die Bank zu überfallen? Wie kann er nur? Zwei Polizisten kommen auf den Platz und treiben vor unseren Augen einen angetrunken, verwirrt wirkenden Mann zu den Einsatzwagen. Wenn das der Bankräuber sein sollte, dann war sein Plan unausgereift. Mich erinnert das an eine Tat vom Vortag: Drei Männer haben in einer Wohnung insgesamt sieben Personen mit Schusswaffen und Messer bedroht und versucht, die Wohnung auszurauben. Zuvor stürmten die Männer die Wohnung des Nachbarn, der schließlich die Polizei rief. Der Rest erzählt sich von allein.
Die Pfarrerin tritt ans Pult und legt los. Ich rechne, aufgrund der widrigen Umstände mit einer verkürzten, um nicht zu sagen, stark verkürzten Version eines Weihnachtsgottesdienstes. Also eine kurze Predigt über hemmungslosen Konsum und Armut hier und anderswo, ein altes Lied, dessen Inhalt mit der heutigen Zeit nichts zu tun hat und am Ende der Wunsch nach einer besinnlichen Weihnacht. Aber ich habe das Krippenspiel vergessen und das lässt sich nicht kürzen, schließlich handelt es von Jesu Geburt und dem Gewusel im Stall.
Bislang dachte ich, die Handlung wäre mir nach 52 Erdenjahren und damit gelegentlichen Auseinandersetzungen mit dem Stoff geläufig, aber entweder bin ich vergesslich geworden oder die evangelische Kirche hat den Plot umgeschrieben. Irgendwie geht es um eine „Friedensläuferin“, die seit Jahren in der Welt unterwegs ist und sich dabei gut fühlt. Sie landet an einem Kaffeestand auf dem Leopoldplatz, gönnt sich einen Espresso und lässt sich von einer jungen Frau belehren, dass ihr Leben doch falsch gelaufen ist. Das Bühnenbild ändert sich und die Pfarrerin weist darauf hin, dass sie in der folgenden Überfallszene die Räuberin spielen werde, weil sich der eigentliche Darsteller aufgrund eines Polizeieinsatzes zuvor verletzt habe. War etwa der abgeführte Bankräuber Mitglied der Kirchengemeinde, der Realität und Schauspiel durcheinandergebracht hat? Die Pfarrerin im Talar kommt an den Mann, der das Opfer spielt, heran und entreißt ihm den Rucksack. Im Publikum brandet Applaus auf. Sehr lebensecht, dieses Krippenspiel. Wie oft ich allein letztes Jahr nachts im Wedding von Pfarrern überfallen wurde, die sich ihr bescheidenes Gehalt aufbessern wollten. Das kann ich nicht an zwei Händen abzählen.
Der Überfallene ist Banker mit Burn-out, der auf Sinnsuche ist und der nun mit beiden Frauen seine, insgesamt triste Lage bespricht. Ist er Josef und wer ist Maria? Mehrmals sprechen sie von Kinderwunsch bzw. einem Baby. Aha, damit ist vermutlich Jesus gemeint. Dann kommt ein Hippie-Pärchen mit ihrer Tochter ins Spiel, die seit Jahren über die Weltmeere schippern und die nun an den Gestaden des Leopoldplatzes gestrandet sind. Die Mutter klammert sich an der Tochter, die mit einer Flasche Bier in der Hand gerade eine Freundschaft mit einem Mädchen aus der Weddinger Unterschicht eingeht. Der Vater ist entspannt und möchte in den Wedding zurückkehren, da er die Weltreisen satt hat. Irgendwie so interpretiere ich das. Die Mutter ist dagegen, ist außerdem schwanger und bekommt das Kind vorm Karstadt auf der anderen Straßenseite. Also jetzt nicht in echt, dabei wäre ein Szenenwechsel angebracht gewesen, um sich mal zu bewegen und aufzuwärmen.
Meine Brille ist die ganze Zeit beschlagen, was an der Maske und den Temperaturen liegt. Im Prinzip kriege ich von dem Schauspiel kaum etwas mit. Anfangs habe ich die Brille mit einem Taschentuch sauber gerieben, aber wenige Sekunden später war sie wieder beschlagen. Schließlich habe ich aufgegeben. Ich blicke mich um. Leute kommen und gehen, manche hüpfen auf der Stelle, andere sind erfroren. Wann ist das Krippenspiel zu Ende, frage ich mich. Haben die doch gekürzt? Wo sind die Könige? Wo die Tiere? Und was ist mit Kindern? Normalerweise wird das Krippenspiel von Kindern aufgeführt. Sitzen die vielleicht zuhause, weil sie kein Bock auf die Kälte haben und lieber Fortnite spielen wollen?
Könnten vielleicht ein paar Polizisten als Legionäre auftreten, die Brian suchen? Das wäre eine gelungene Brechung der Weihnachtsgeschichte. Nein, können sie nicht. Die Polizisten sind inzwischen verschwunden und feiern Weihnachten auf dem Revier.
Eine halbe Stunde später deutet sich ein Ende an. Ein langes Ende, dass vielleicht noch ein paar Überraschungen bereithält. Ich bin mit meiner Geduld am Ende. Es folgt ein Lied, dann ein Gebet, dann noch ein Lied, dann noch ein Gebet, wie in Endlosschleife. Die Zuschauer beginnen den Platz zu verlassen, während noch ein Lied ertönt. Bei aller Liebe, aber man muss jetzt mal deutlich machen, dass es reicht.
Nächstes Jahr, so denke ich mir, machen wir das wieder drin. In Frohnau oder sonst wo und wenn alle Stricke reißen, dann in Spandau.
Später erfahre ich von einem anderen Teil der Familie, dass sie in einer Kirche mit beheizten Stühlen waren. Ohne Krippenspiel und ohne Pfarrer. Einfach eine halbe Stunde warm rumsitzen und die besinnliche Weihnachtsstimmung auf sich wirken lassen. Das war in Zehlendorf, klar, die haben beheizte Stühle und berücksichtigen die Wetterverhältnisse. Die können sich das leisten.
Die Entscheidung ist gefallen. Da fahren wir nächstes Jahr hin. Problem ist nur, das ich mir das merken muss. Ich sollte es aufschreiben. Das ist eine gute Idee.
Robert Rescue bei CrimeMag. Zu seiner Webseite mit Terminen, Veröffentlichungen etc. geht es hier, einen einschlägigen Beitrag von ihm finden Sie in der Anthologie „Berlin Noir“ und beim Talk Noir im Neuköllner Froschkönig ist er regelmässig unser Stargast.

Im Herbst 2020 Corona zum Trotz erschienen: Robert Rescue: Das Leben hält mich wach. Berlins müdester Lesebühnenautor trotzt dem alltäglichen Wahnsinn mit Humor. Edition MundWerk, Berlin 2020. 146 Seiten, 12 Euro.