Geschrieben am 1. November 2022 von für Crimemag, CrimeMag November 2022

Robert Rescue auf dem Friedhof von Stahnsdorf

Im Reich der Toten

„Was ich gar nicht gerne hier habe, sind Geisterjäger.“

Eine merkwürdige Äußerung, die man von einem Restaurantbesitzer oder dem Filialleiter eines Discounters nicht hören würde.

Aber im Metier von Herrn Ihledorf ist das wohl eine zutreffende Aussage. Mir gegenüber sitzt ein freundlicher Mann Mitte 50 in einem rustikalen Aufenthaltsraum. Der Tisch, an dem ich Platz genommen habe, stammt ebenso wie die restliche Einrichtung aus dem Jahr 1909. Ich habe den Eindruck, dass hier seitdem nichts verändert wurde und nur einmal im Jahr feucht gewischt wird. Ich greife nach dem Rucksack und hole die Blätter hervor, auf denen ich mir Fragen notiert habe. Mir ist mulmig zumute, denn die Erwähnung „Geisterjäger“ trifft ungefähr auch auf mein Anliegen zu. Aber er weiß, dass ich Autor bin und kein Ghostbuster, der mit dem ECTO-1-Auto vorgefahren ist und einen Protonen-Rucksack trägt.

Die brandenburgische Gemeinde Stahnsdorf ist mein Ziel. Stahnsdorf liegt im Tarifbereich C, so wie der Rest der Welt. Bis zum U-Bahnhof Krumme Lanke war es noch ein vertrauter Weg gewesen. Von dort musste ich mit dem Bus weiter und weil Busse alle paar Meter an den obskursten Haltestellen stoppen, ging ein Großteil der Reisezeit auf das Geruckel über Landstraßen drauf. 

In Zehlendorf dagegen sind die Straßen aus Gold, Einhörner grasen und es fallen Rosen vom Himmel wie Schnee. Gerne würde ich hier leben, aber dann hätte ich einiges in meinem Leben anders machen müssen, angefangen mit der Geburt als Sohn wohlhabender Fabrikanten, die im Wedding ein Bergwerk unterhalten, wo die Weddinger unter erbärmlichen Umständen schuften müssen, damit wir am Wochenende eine Kutschfahrt an den Schlachtensee machen und ein Deckchen ausbreiten können für ein viertes Picknick mit Macarons aus Paris und Sekt aus Eberswalde.

Nach einer Weile erreiche ich Stahnsdorf und steige an der Hauptstraße aus oder das, was in Brandenburg für eine Hauptstraße gehalten wird. Ich biege nach wenigen Metern in eine Straße mit Kopfsteinpflaster ab und erreiche dann das Eingangstor. „Tor“ ist eigentlich das falsche Wort, es mutet eher wie die Eingangstür zu einem Kleingarten an. In gewisser Weise bin ich auch wegen diesem „Tor“ hier. Ich habe im Internet kein Bild von dem Eingangsbereich gefunden. Wenn ich nun behaupten würde, dass es sich um ein gusseisernes, drei Meter hohes Tor mit Verzierungen aus Gold handele, dann geht das nicht mehr als künstlerische Freiheit durch, sondern zeigt einfach nur, dass ich zu faul war, meine Behausung zu verlassen, um mir vor Ort ein Bild zu machen. 

Bilder: Südwestkirchhof Stahnsdorf © wiki-commons

Das Gleiche gilt für den Bewuchs links und rechts vom Hauptweg, den ich nun betrete. Ich habe von Flora keine Ahnung. Ich weiß, es gibt Tannen, Birken, Kiefern, Kirschbäume und das war es schon und all die genannten sind hier ebenso fehl am Platz wie das gusseiserne, drei Meter hohe Tor. Auf Eiben und Buchen, wie ich wenig später erfahre, wäre ich im Leben nicht gekommen. So aber kann ich schreiben „links und rechts des Hauptweges wuchsen Eiben und Buchen“ und weiß, dass mir das jemand erzählt hat, der Ahnung davon hat.

Nach etwa 100 Metern erreiche ich das Verwaltungsgebäude, ein eher hässlicher Flachbau. Als ich ihn betrete, bleibe ich vor Ehrfurcht stehen. Ich muss in der Zeit gereist sein. Ein großer Raum mit einer sechs Meter langen Theke, dahinter zwei Computerarbeitsplätze. An der Decke Lampen, die schon sehr lange dort hängen. Der Holzboden ächzt bei jedem Schritt und die Theke lässt jeden Bittsteller klein erscheinen. Eine Mitarbeiterin kommt auf mich zu, fragt nach meinem Begehr und geht dann zu einer Tür links von mir. Kurz darauf steht der Chef des Südwestfriedhofs Stahnsdorf vor mir. Er erzählt mir wenig später, dass neulich das Drehteam von „Babylon Berlin“ auf dem Friedhof gefilmt habe und als einer der Regisseure vor dem Tresen stand, habe er beschlossen, diesen als Location einzubauen. Es mussten nur die Flyer für das Friedhofsmuseum von der Theke genommen werden, die Computer weg, dafür zwei alte Telefone hin und fertig war die Polizeiwache im Berlin der zwanziger Jahre.

Wenig später sitzen wir im Aufenthaltsraum und er sagt: „Was ich gar nicht gerne hier habe, sind Geisterjäger. Wenn ich Mails von den bekomme, schreibe ich ihnen zurück, dass sie Hausverbot haben. Wenn ich die auf dem Gelände erwische, wie sie mit selbstgebauten Detektoren nach psycho-kinetischer Energie forschen oder die Gräser nach Schleimspuren absuchen, dann hole ich meinen Mitarbeiter Karl-Heinz. Bevor der hier angefangen hat, hat er jemanden umgebracht. Karl-Heinz schmeißt die dann raus. Ich wohne seit dreißig Jahren mit meiner Familie auf dem Gelände und ich habe hier noch keinen Geist gesehen. Da fällt mir ein, Gruftis muss ich auch gelegentlich verjagen. Die kommen immer mit Alkohol hierher und wollen in den Mausoleen der Familie Felinus oder von Friedrich Wilhelm Murnau, dem Regisseur von „Nosferatu“, Partys feiern. Dafür haben die Teufelsanbeter nachgelassen. Vermutlich haben die festgestellt, dass hier niemand liegt, dem ihr Interesse gelten könnte bzw. es hier niemanden gibt, den sie schänden können.“

Ich lächele ihn an und wähle gedanklich meine Worte. Ich schreibe an einem Großprojekt über einen seiner, nun ja, wie nennt man das bei einem Friedhofsverwalter? 

Na ja, auf jeden Fall über Ernst Gennat, den großen Kriminalisten der Weimarer Republik, der nun leider in Stahnsdorf seine letzte Ruhe gefunden hat und nicht auf dem Urnenfriedhof Seestraße, was für mich einen kurzen Fußweg bedeutet hätte. Und Ernst Gennat spielt in meinem Werk eine der Hauptrollen, und zwar als Geist, der einen Mord auf dem Südwestfriedhof aufklären will, dazu mit einem erfolglosen Kommissar nach Berlin fährt und u.a. in der Seestraße ermittelt, wo sich eine Corona-leugnende Christengemeinde befindet, die sich übrigens in dem Haus niedergelassen hat, indem ich wohne. Das sind die Eckpunkte meiner örtlichen Recherche, 25 Meter und 40 Kilometer und grob umrissen die Handlung. Ich erzähle Herrn Ihledorf einiges, aber Gott sei Dank spielen psycho-kinetische Energie und Schleim keine Rolle. Aber da ich ziemlich begeistert bin von dem Projekt, komme ich ins Plaudern und kann nicht einschätzen, ob er mich womöglich für irrer hält als die Geisterjäger.

Von Herrn Ihledorf erfahre ich einiges, nicht nur hinsichtlich der Eiben und Buchen im Gehölz. Der quasi Waldfriedhof ist auf seiner gesamten Fläche, immerhin der zweitgrößte Friedhof Deutschlands, nur mit Zäunen gesichert und eine Überwachungskamera findet sich nur im Eingangsbereich. Die Finanzen sind der Grund, dass er nicht besser geschützt ist und außerdem glaubt auch keiner bei den Behörden, dass jemand auf einen Friedhof einbrechen könnte, weder aus materiellen noch aus moralischen Gründen. Außer natürlich Gruftis, Teufelsanbeter und Kupferdiebe, um das begehrte Metall von den Dächern der Mausoleen zu klauen. Einmal seien sie sogar nachts mit einem LKW auf den Hauptweg vorgefahren, in Erwartung einer fetten Beute.

Die Mausoleen sind inzwischen weitgehend geplündert, aber das kümmert weder die Behörden, noch die dort Begrabenen und Nachfahren dürfte es kaum noch geben. Es gibt eine üppige Pflanzenwelt, in der hier und da mal Tollkirsche und Stechapfel blühen, weshalb Tiere und Kinder an der Leine zu führen sind. Für Berliner Drogenkonsumenten wären die beiden Pflanzen mal eine Abwechselung mit ungewissem Ausgang. Wie gut, dass die Dealer vom Görli davon nichts wissen, sonst hätte Herr Ihledorf womöglich bald eine neue Problemgruppe, mit der sich herumschlagen müsste. Nach einer Stunde verlasse ich das Gebäude und knipse ein paar Fotos vom Weg zwischen Haus und Haupteingang. Verrückt, ich habe noch nie einen gepflasterten Weg fotografiert, geschweige denn überhaupt einen Weg.

Zurück nach Berlin denke ich mir, dass Friedhofsverwalter sicherlich zu den Berufen gehört, in denen es keinen Burn-out gibt. Das wäre was für mich, aber auf dem Friedhof wohnen, nein, das könnte ich nicht.

Robert Rescue bei CrimeMagZu seiner Webseite mit Terminen, Veröffentlichungen etc. geht es hier, einen einschlägigen Beitrag von ihm finden Sie in der Anthologie „Berlin Noir“ und beim Talk Noir im Neuköllner Froschkönig ist er regelmässig unser Stargast.

Im Herbst 2020 Corona zum Trotz erschienen: Robert Rescue: Das Leben hält mich wach. Berlins müdester Lesebühnenautor trotzt dem alltäglichen Wahnsinn mit Humor. Edition MundWerk, Berlin 2020. 146 Seiten, 12 Euro.

Robert Rescue bei uns hier. Beispiele:
Oktober 2022: Eine Kurzgeschichte mit Putin und Uri Geller
September 2022: Die Generalmobilmachung
Juli 2022: Im Berlin Dungeon
Juni 2022: Abends bei Reddit 
Mai 2022: Energie sparen
April 2022: Leben ohne Feind
März 2022: Wenig Raum für Ekstase
Februar 2022: Der Kälte-Gottesdienst
Dezember 2021: Sind doch nur Kinder
November 2021: Geht mit Gott, aber geht
Oktober 2021: Keine Zeit zu sterben
September 2021: Bote aus vergangener Zeit
August 2021: Eine Kurzgeschichte mit Wetter

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