Geschrieben am 2. Mai 2023 von für Crimemag, CrimeMag Mai 2023

Robert Rescue: Fenster zum Hof

Nächtliche Aktivität im Hof 

Jeder Mensch hat eine Berufung, der er folgen muss. Meine ist die Beobachtung des Hofes. Ich habe halt ein großes Interesse an meinen Mitmenschen und ihrem Treiben, zumindest an den Nachbarn, die ich von meinem Küchenfenster aus beobachten kann. Außerdem hoffe ich auf eine erstaunliche Beobachtung, die über das gewohnte hinausgeht. Eine UFO-Landung, die Bildung eines Vulkans, Kanzler Scholz betritt den Hof, um einen typischen Berliner Hof zu besichtigen, ein Engel schwebt zur Erde hinab, das Tor zur Hölle öffnet sich. Zugegeben, es ist sehr unwahrscheinlich, dass ich Derartiges je zu Gesicht bekomme, obwohl, dass mit Kanzler Scholz, das könnte passieren.

Meine Nachbarn sind meinem Interesse gegenüber reserviert eingestellt. Wer noch keine Jalousien vor dem Fenster hatte, hat sich früher oder später welche angeschafft, denn natürlich nahm ich beispielsweise Anteil an Abendessen in der Küche. Die „Start-Up-WG“, die ich so nannte, weil ich glaubte, dass sie von frühmorgens bis spätabends in einem Start-up eine Hundeauslauf-App oder Ähnliches programmierten, zeichnete sich durch eine Tipp-Top saubere Küche aus.

Wenn Leute einziehen, will ich natürlich sehen, was das für Personen sind und ob sie sich in unsere Hausgemeinschaft integrieren werden. Bei Auszügen will ich wissen, wer uns verlässt und ob die Möbel dalassen. Wenn was dabei ist, was ich gebrauchen kann, nehme ich es mir und wenn nicht, dann schwärze ich sie bei der Hausverwaltung an. 

Vor einigen Tagen wurde ich Zeuge eines Vorfalls, den ich so nie erwartet hätte. Ich könnte sogar sagen, dass ich eher einen der oben erwähnten Vorfälle erwartet hätte als das, was ich morgens gegen 2:30 Uhr vom Küchenfenster aus ansehen musste – ein Einzug. Ich war verwirrt. Welche Firma bot Umzugsdienstleistungen mitten in der Nacht an? Wer hatte Freunde, die um diese Uhrzeit dazu Lust hatten? Handelte es sich um Vampire? Die hätten auch um 20 Uhr umziehen können, aber vielleicht mussten sie jemanden leersaugen und kamen erst jetzt dazu? Ich holte die Kamera und machte ein paar Fotos, denn ganz klar handelte es sich um einen Verstoß gegen die Berliner Umzugsordnung, und zwar um den schlimmsten. Umzüge waren nämlich nur zwischen 10 Uhr morgens und 21 Uhr abends erlaubt. Weiter starrte ich auf die Menge von etwa 15 Personen, die Möbel im Hausflur abstellten oder diese von dort in den Seitenflügel trugen. Sollte ich sie weiter nur beobachten und Fotos und ein Protokoll an die Hausverwaltung schicken oder herausfinden, was es damit auf sich hatte? Die Neugier war zu groß. Ich zog mich an und ging runter.

„Tach“, sagte ich zu dem erstbesten Umzugshelfer und versuchte zu klingen, als würde ich mich dieser eklatante Gesetzesverstoß nicht sonderlich interessieren.

„Sorry“, sagte dieser nur und stellte einen Sessel vor mir ab. „Tut mir leid für die ungewöhnliche Aktion. Sind sie der Nachbar, der wie ein Blockwart ständig aus dem Fenster glotzt?“

„Nein, nein“, rief ich aus und suchte nach einer Erklärung. „Ich … ich war nur gerade … gerade auf dem Weg zum Spätkauf nebenan. Der hat nämlich die ganze Nacht offen und ich wollte mir noch ein Bier holen. Aber ich bin natürlich neugierig über diesen, sagen wir mal, „späten“ Umzug und dachte mir, da verbinde ich Bierholen mit der Aufklärung des Sachverhalts.“

„Naja“, sagte der Helfer. „Der Erik ist eigentlich heute Mittag umgezogen. Aber in die falsche Wohnung. Also die stand leer und der Schlüssel passte.“

„Soso“, unterbrach ich den Helfer. 

„Vor zwei Stunden“, so fuhr dieser fort, „hat Erik uns alle angerufen. Am Abend stand nämlich ein Mitarbeiter von der Hausverwaltung vor der Tür und klärte ihn darüber auf, das die Schlüssel vertauscht worden seien. Ich meine, wir hatten uns alle gewundert, denn ursprünglich stand in der WhatsApp Nachricht, er ziehe in die Seestraße, aber dann hieß es heute Mittag plötzlich Herschelstraße. Auf dem Schlüsselanhänger stand die Herschelstraße und er hat das nicht reklamiert, sondern hat sich wahrscheinlich gedacht, na gut, dann ziehe ich eben da hin. Sie müssen wissen, der Erik ist ziemlich verpeilt, der nimmt die Dinge einfach, wie sie kommen. Auf jeden Fall meinte der Mitarbeiter, er müsse bis morgen früh 7 Uhr wieder raus sein, denn dann käme der eigentliche Neumieter in die Herschelstraße. Erik hat uns dann alle angerufen und, nun ja, so stehen wir hier jetzt und versuchen den Scheiß so schnell wie möglich hinter uns zu bringen, weil zwei Umzüge am Tag, da hat keiner Lust drauf, vor allem dann nicht, wenn der Penner in der neuen Wohnung schon alles aufgebaut und eingerichtet hat. Ich werde den später von meiner Kontaktliste streichen und nie wieder rangehen, wenn der anruft. Der kann von mir aus künftig alleine umziehen.“

Ganz so wie bei mir vor 20 Jahren. Da war es auch die Herschelstraße gewesen und die hätte ich gerne behalten. Aus Sympathie zu Erik würde ich auf weitere Handlungen, wie beispielsweise dem Verlesen der Berliner Umzugsordnung, verzichten. Aber eine Sache gab es noch, die ich klären wollte.

„Sie erwähnten gerade einen Nachbarn, der ein großes Interesse an dem Treiben im Hof haben soll. Woher wissen sie davon?“

„Das soll der Mitarbeiter von der Hausverwaltung erzählt haben. Sie bekämen jede Woche ein paar Mails von dem Irren und seien genervt von ihm. 

Erik hat dem Mitarbeiter gesagt, dass er versuchen wird, noch in der Nacht umzuziehen und da hat der Typ gemeint, er soll sich vor dem Irren hüten. 

Der laufe immer mit einem alten Quelle-Katalog durch die Gegend und behaupte, das sei die Berliner Umzugsordnung.“

„Ach, da ist aber viel übertrieben“, hielt ich dagegen und verabschiedete mich. Ich bin dann tatsächlich zum Spätkauf gegangen, und habe mir ein Bier geholt. Als ich wieder den Hausflur betrat, stand dieser noch immer voller Möbel, aber keine der Helfer war zu sehen. In einem Karton lagen haufenweise DVDs und ich wühlte ein wenig rum. Ich fand Hitchcocks Meisterwerk „Das Fenster zum Hof“ von 1954, nahm sie an mich, lobte gedanklich den guten Geschmack des neuen Mieters und ging nach Hause.

Robert Rescue bei CrimeMagZu seiner Webseite mit Terminen, Veröffentlichungen etc. geht es hier, einen einschlägigen Beitrag von ihm finden Sie in der Anthologie „Berlin Noir“ und beim Talk Noir im Neuköllner Froschkönig ist er regelmässig unser Stargast.

Im Herbst 2020 Corona zum Trotz erschienen: Robert Rescue: Das Leben hält mich wach. Berlins müdester Lesebühnenautor trotzt dem alltäglichen Wahnsinn mit Humor. Edition MundWerk, Berlin 2020. 146 Seiten, 12 Euro.

Robert Rescue bei uns hier. Beispiele:

April 23: Schritte im Hausflur
März 23: Wahl mit Qual: Demokratie endet nicht um 18 Uhr
Februar 2023: Für die Verkehrswende ist es zu spät 
Dezember 2022: Interview mit einem umgeschulten Flugzeugentführer
November 2022: Auf dem Friedhof von Stahnsdorf
September 2022: Die Generalmobilmachung
Juli 2022: Im Berlin Dungeon
Juni 2022: Abends bei Reddit 
Mai 2022: Energie sparen
April 2022: Leben ohne Feind
März 2022: Wenig Raum für Ekstase
Februar 2022: Der Kälte-Gottesdienst
Dezember 2021: Sind doch nur Kinder
November 2021: Geht mit Gott, aber geht
Oktober 2021: Keine Zeit zu sterben
September 2021: Bote aus vergangener Zeit
August 2021: Eine Kurzgeschichte mit Wetter