Geschrieben am 1. September 2023 von für Crimemag, CrimeMag September 2023

Robert Rescue: Der gefährlichste Mann der Welt

Die Polizisten gingen hinter ihrem Einsatzwagen in Deckung und feuerten auf mich. Mit einem Sprung hechtete ich in die Grünanlagen und robbte mich im Kugelhagel durch das Gebüsch. Am Ärztehaus standen ein paar Wartende. Ein Kind verfolgte meinen Weg und fragte seine Mutter: „Ist das der böse Mann, der dem Staat Geld gestohlen hat?“. Die Mutter zog ihren Sprössling zu sich und stieß Verwünschungen in meine Richtung aus.

Schließlich erreichte ich das Haus. Die Polizei hatte Verstärkung erhalten und feuerte mit allem, was sie aufzubieten hatten. Ein paar Passanten gerieten in den Kugelhagel. Ein Geschoss erwischte mich am Bein, just in dem Moment, als ich die Tür öffnete und mich in den Hausflur warf.

Es war riskant gewesen, das Haus zu verlassen. Manchmal halfen mir die schweren Jungs von der Abendschule, Besorgungen zu erledigen. Abendschule war ein irreführender Begriff. Es handelte sich nicht um eine Weiterbildungsstätte, sondern um eine dieser Bars ohne Laufpublikum, die den Eindruck erweckten, die sonst so heilige Gewinnerzielungsabsicht sei hier nicht gegeben. Die paar Gestalten, die dort herumlungerten, hatten mich ins Herz geschlossen, weil sie mich für härter als sie selbst hielten.

Nur selten geschah es, dass ich mal allein raus musste, und dann artete es zu einem Spießrutenlauf aus, denn der ganze Wedding war gegen mich: das Verkaufspersonal in den Discountern, die Säufer in der U-Bahn, die Dönerverkäufer, die Artisten, die sich an den Ampeln ein paar Cent mit ihren Kunststückchen verdienten und die Toten auf den Friedhöfen. Natürlich auch die Ärzte, aber zumindest der ägyptische Zahnarzt hat meine Schmerzen behandelt, wenn auch unter Vorbehalt. „Offengesagt, ich halte sie für das mieseste, was auf dieser Erde existiert und ich würde es gutheißen, wenn jemand diesem Umstand ein Ende setzt. Aber leider habe ich auch ein Herz für meine Mitmenschen, daher werde ich sie behandeln, allerdings ohne Betäubung und ohne sterilisiertes Besteck.“ 

Dabei hatte ich geglaubt, dass ich mich nach Recht und Ordnung verhalte, als ich mich im Oktober letzten Jahres an die Wohngeldstelle des Bezirks gewandt hatte. Im April hatte ich einen Antrag gestellt, der im August auch bewilligt worden war. So weit, so gut. Doch man musste seinen Jahresverdienst prognostizieren, was für einen Selbstständigen nicht einfach war. Bis April war es mau gelaufen und es stand zu erwarten, dass es den Rest des Jahres nicht besser wurde, womit mein Antrag auf Wohngeld ja auch legitim war. 

Oder kam plötzlich der Ruhm zu mir und damit viele gut bezahlte Auftritte? Das war unrealistisch, denn der Ruhm hatte mich in fünfundzwanzig Jahren Bühnentätigkeit nicht gefunden. 

Als ich im August die frohe Botschaft der Bewilligung erhielt, hatte sich der Ruhm erwartungsgemäß nicht eingestellt, dafür aber warf der Staat mit Geld um sich, um Corona-gebeutelte Kleinkünstler zu unterstützen. 

Also tat ich Ende Oktober etwas, was mir völlig selbstverständlich erschien – ich meldete dem Amt, dass ich wohl mehr verdienen würde, als ich in der Prognose angeben hatte.

Ein paar Tage später war ich in den Schlagzeilen der Hauptstadtpresse, wo ich als „Betrüger“, „Abzocker der Wohlfahrt“ und als „Arsch“ tituliert wurde. Am gleichen Tag erhielt ich Post von der Wohngeldstelle. Mir wurde mitgeteilt, dass der Bewilligungsbescheid „rechtswidrig“ gewesen sei und davon ausgegangen werden musste, dass ich die „Fürsorgepflicht des Staates“ „ausgenutzt“ habe, um Leistungen zu „erschleichen“, die andere Bürger nötiger hätten als ich. Gut, das Letztere stand nicht drin, ich las es zwischen den Zeilen heraus. Dabei lag mein Fehler einzig darin, dass ich zu voreilig gewesen war. Alle Wohngeldempfänger mussten im Folgejahr eine Steuererklärung vorlegen und sich dann, im Falle des Falles, als „Betrüger“, „Abzocker der Wohlfahrt“ und als „Arsch“ bezeichnen lassen. 

Meine Pflicht war es nun, die Steuererklärung für das laufende Jahr zu machen, die ich aber erst machen konnte, wenn das Jahr zu Ende war. Bis dahin waren es noch zwei Monate und solange war ich für die Behörden (und dank der Presse inzwischen für alle Berliner) ein Krimineller, der keinerlei Mitleid zu erwarten hatte. 

Also versuchte ich an Neujahr um Punkt null Uhr, die Steuererklärung auf den Weg zu bringen, was aber daran scheiterte, dass Neujahr ein Feiertag war und da hatte der Online-Dienst der Finanzämter halt auch Feiertag.

Am 02. Januar lud ich meine Steuersachen hoch und war vermutlich der erste im neuen Jahr, aber ich stand unter Druck, denn inzwischen konnte ich mich nur noch in meiner Wohnung aufhalten. Die Wohngeldstelle hatte mich pünktlich zum Jahresende darüber informiert, dass sie jetzt „die Faxen dicke habe“ und die Ordnungshüter eingeschaltet habe, die „außerhalb der geschützten vier Wände robust auf eine Lösung hinarbeiten solle“, da das „Ausmaß meines Verbrechens“ schier „unerträglich“ geworden sei. Ich musste Zeit schinden, das Finanzamt würde eine Weile brauchen, also blieb ich in der Wohnung und ließ mich von den Jungs von der Abendschule mit dem nötigsten versorgen. 

Vier Wochen später bekam ich endlich die Steuererklärung und am liebsten hätte ich sie persönlich zur Wohngeldstelle gebracht, auf das sie den Wisch an Ort und Stelle prüften und mich hoffentlich freisprachen von jedweder Schuld. Doch es war zu gefährlich, ich schaffte es gerade so zum Briefkasten vor dem Haus. Dumm nur, dass die Wohngeldstellen zu Jahresbeginn zusätzlich überlastet waren, weil die Bundesregierung die Zugangsmöglichkeiten zu dieser Leistung erweitert hatte. 

Jetzt liege ich auf dem Fußboden im Flur und starre an die Decke. Ich stelle mir vor, dass der Bescheid von der Wohngeldstelle im Briefkasten liegt und mich darüber informiert, dass sich der Mehrverdienst in irgendeinem gesetzlich vorgesehenen Rahmen bewegt. Vielleicht hat die Wohngeldstelle eine Presseerklärung verschickt, in der sie alle Vorwürfe fallengelassen hat und mich Willkommen zurück heißt als ordentliches Mitglied der Gemeinschaft. Als die Polizei mich vorhin am Bein erwischt hat, habe ich es versäumt, in den Briefkasten zu schauen. Ich werde es nachholen, wenn die Wunde wieder okay ist, denke ich und schließe die Augen.

Robert Rescue bei CrimeMagZu seiner Webseite mit Terminen, Veröffentlichungen etc. geht es hier, einen einschlägigen Beitrag von ihm finden Sie in der Anthologie „Berlin Noir“ und beim Talk Noir im Neuköllner Froschkönig ist er regelmässig unser Stargast.

Im Herbst 2020 Corona zum Trotz erschienen: Robert Rescue: Das Leben hält mich wach. Berlins müdester Lesebühnenautor trotzt dem alltäglichen Wahnsinn mit Humor. Edition MundWerk, Berlin 2020. 146 Seiten, 12 Euro.

Robert Rescue bei uns hier. Beispiele:

Juli 23: Kim – oder die Sache mit der richtigen Anrede
Juni 23: Wie hat ihnen das Produkt gefallen?
Mai 23: Fenster zum Hof
April 23: Schritte im Hausflur
März 23: Wahl mit Qual: Demokratie endet nicht um 18 Uhr
Februar 2023: Für die Verkehrswende ist es zu spät 
Dezember 2022: Interview mit einem umgeschulten Flugzeugentführer
November 2022: Auf dem Friedhof von Stahnsdorf
September 2022: Die Generalmobilmachung
Juli 2022: Im Berlin Dungeon
Juni 2022: Abends bei Reddit 
Mai 2022: Energie sparen
April 2022: Leben ohne Feind
März 2022: Wenig Raum für Ekstase
Februar 2022: Der Kälte-Gottesdienst
Dezember 2021: Sind doch nur Kinder
November 2021: Geht mit Gott, aber geht
Oktober 2021: Keine Zeit zu sterben
September 2021: Bote aus vergangener Zeit
August 2021: Eine Kurzgeschichte mit Wetter

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