Geschrieben am 1. Juli 2023 von für Crimemag, CrimeMag Juli 2023

Robert Rescue: Kim – oder die Sache mit der richtigen Anrede

Kim Müller hat ein Internet-Radio gekauft.

Das ist einerseits eine gute Nachricht, denn es beschert der Firma, bei der ich arbeite, einen Umsatz, andererseits ist es aber schlecht, denn ich kann nicht auf Anhieb erkennen, ob Kim Müller eine Frau oder ein Mann ist. Womöglich ist der Name Kim auch ein Hinweis auf eine diverse Geschlechtsidentität.

Für den Umsatz ist das unerheblich, aber ich muss den Kauf dokumentieren, sprich einen Datensatz in der Warenwirtschaftssoftware anlegen und die kennt einerseits nur Herr/Frau im Feld „Anrede“, andererseits ist eine Angabe notwendig.

Wenn ich jetzt „Herr“ eintrage, Kim Müller fühlt sich aber nicht so, dann kann das Probleme machen. Heutzutage muss man ja auf so etwas aufpassen. Da macht man einen Fehler, die Leute posten das auf Twitter und fragen, ob man hinterm Mond lebt und dann gibt es Hassmails an mich und die Firma und der Schaden ist gewaltig. Warum kennt die Software keinen Eintrag „divers“ oder ist auf dem neuesten Stand und bietet so Geschlechter an wie intersexuell, Pangender, Transgender oder so etwas einfaches und zugleich kompliziertes wie „weder noch“. Es gibt inzwischen 60 oder mehr Geschlechter. Da wird die Softwarefirma argumentieren, dass sie kein Menü mit so vielen Einträgen anbieten kann. Aber wenn schon kein „Divers“ Eintrag, dann wenigstens ein Leerfeld, um die geschlechtliche Bestimmung meinerseits offenzulassen. Wobei, wenn das ans Licht kommt, gibt es bestimmt auch wieder Kritik und Hassmails, von wegen wir werden diskriminiert, weil wir nur ein Leerfeld kriegen. Es gibt ja sogar so etwas wie „Two Spirit drittes Geschlecht“, eine indianische Bezeichnung für zwei in einem Körper vereinte Seelen. Ob Kim Müller sich so empfindet?

Meistens stellt sich das Problem bei der Arbeit nicht, weil die Besteller Friedrich, Ingolf oder Kathrin und Susanne heißen. Da muss ich nicht groß nachdenken bzw. handele nach klassischen Mustern und kann bei Beschwerden sagen, dass ich ja nicht wusste, das da eine andere Geschlechtswahrnehmung vorliegt, weil der Name ja eindeutig war. Aber Kim? Ich google mal. Kim ist sowohl ein männlicher als auch weiblicher Vorname, ein sogenannter geschlechtsneutraler Name. Na toll, das hilft mir jetzt total weiter. Hätte ich mir ja denken können. Es gibt ja Soyeon Schröder-Kim, die amtierende Frau des ehemaligen Bundeskanzlers Gerhard Schröder. Da steht das Kim als Nachname, was auch wieder verwirrend ist. Kim Jong-un ist da eindeutiger. Wenn Kim Müller Kim Jong-un heißen würde, wüsste ich jetzt weiter.

Also muss ich Kim Müller googeln und hoffen, dass er/sie/divers im Netz Spuren hinterlassen hat oder zumindest im lokalen Netz Gunkenhausen, der Heimatstadt des Bestellers. 

Ach, ein Foto von der Freiwilligen Feuerwehr Gunkenhausen, vermutlich während einer Verabschiedung des Wehrführers in den Ruhestand oder es handelt sich um den alljährlichen Besuch beim Bürgermeister der Verbandsgemeinde. Das kenne ich aus meiner Heimat. Ich glaube, 10% aller im Internet verfügbaren Fotos zeigen Ehrenamtliche der Freiwilligen Feuerwehren bei der Verabschiedung des Wehrführers in den Ruhestand oder beim Besuch des Bürgermeisters der Verbandsgemeinde. Leider ist der Artikel hinter einer Paywall versteckt. Das Foto zeigt 8 Männer und eine Frau und hilft mir nicht weiter, weil zwar das Foto zu sehen ist, aber nicht die Bildunterschrift.

Als Nächstes stoße ich auf eine Festschrift des Turnvereins Gunkenhausen 1873 zum hundertfünfzigsten Jubiläum. Kim Müller ist in seinem Heimatort offenbar sehr aktiv. Ich blättere das 40-seitige PDF durch, obwohl ich einen Stapel an zu erledigenden Bestellungen habe. Aber ich will irgendetwas finden, damit ich halbwegs sicher sein kann, wenn ich „Herr“ oder „Frau“ auswähle und endlich meine Arbeit fortsetzen kann. Auf einer Seite wird allen Verstorbenen gedacht, auch der aus den beiden Weltkriegen. Zwischen 1916-1918 gab es kein Turnen in Gunkenhausen. Das Einzige, was einen deutschen Turnverein von der Körperertüchtigung abhält, ist ein Weltkrieg. Ich denke, Kim Müller ist im Vorstand des Vereins. Gleich werde ich die Seite mit dem aktuellen Vorstand plus Fotos sehen und dann habe ich endlich irgendeine Antwort. Verdammt, er/sie/divers war im Vorstand und wird nur namentlich genannt, ebenso wie Kurt Wiesel, der war 1. Vorsitzender von 1873 bis 1896. Ich wünschte, Kurt Wiesel hätte ein Internet-Radio bestellt, dann wäre die Sache einfach. 

Ich gehe zurück auf die Google-Suchseite. Mehr finde ich nicht. Ich habe eine Telefonnummer. Ich könnte unter einem Vorwand anrufen, dann hätte ich Gewissheit. Aber Kim Müller hat ein Internet-Radio bestellt, da gibt es keinen Vorwand. Obwohl, auf Amazon hat eine Frau geschrieben, dass dem Radio keine Bedienungsanleitung beiliegt. Ich könnte also Kim Müller anrufen und sagen, dass keine Anleitung dabei ist, weil viele Hersteller das heutzutage als PDF ins Netz stellen. Das habe ich auch der Frau auf Amazon mitgeteilt, also freundlich. Quasi als Sonderdienstleistung der Firma, obwohl das klar sein sollte. Ich habe nicht geschrieben, dass man bei einem Kaufpreis von 40€ nicht erwarten kann, dass der Hersteller eine gedruckte Anleitung beilegt. Ich könnte auch nur anrufen und abwarten, bis Kim Müller „Hallo“ sagt und dann auflegen. 

Aber dann ruft er/Sie/divers womöglich zurück und ich erzähle, das ich eigentlich wegen der Anleitung angerufen habe, dann aber dachte, dass das selbstverständlich ist und deswegen aufgelegt habe. Da wird sich Kim Müller ebenso wundern wie ich neulich bei dem Anruf von meiner Hausbank. Die wollte meine persönlichen Angaben überprüfen, ob sich was geändert hat. 

Bei der Angabe: „Beruf“ habe ich seinerzeit bei der Kontoeröffnung „Angestellter“ ausgewählt statt „selbstständig“, wahrscheinlich deswegen, weil sie sonst gefragt hätten, was genau ich selbstständig arbeite und dann hätte ich womöglich das Konto nicht eröffnen können. Am Telefon habe ich dem Mitarbeiter dann gesagt, das „Angesteller“ falsch ist und es „selbstständig“ heißen muss. Das hat er dann geändert (was drei Minuten gedauert hat), hat sich dann verabschiedet und aufgelegt.

Ich trage jetzt „Herr“ ein. Hat keinen Sinn, noch weiter Zeit zu verschwenden. Bestimmt hat Kim Müller keine Zeit, um sich zu beschweren, bei den ganzen Ehrenämtern in Gunkenhausen. So dann auf zur nächsten Bestellung. Was ist das denn? Maitane aus San Sebastian. Das liegt doch im Baskenland. Maitane klingt irgendwie weiblich, das erklärt sich leicht. Also trage ich „Frau“ ein und wenn die sich irgendwie anders fühlt oder doch ein Mann ist, ist mir das doch scheißegal.

Robert Rescue bei CrimeMagZu seiner Webseite mit Terminen, Veröffentlichungen etc. geht es hier, einen einschlägigen Beitrag von ihm finden Sie in der Anthologie „Berlin Noir“ und beim Talk Noir im Neuköllner Froschkönig ist er regelmässig unser Stargast.

Im Herbst 2020 Corona zum Trotz erschienen: Robert Rescue: Das Leben hält mich wach. Berlins müdester Lesebühnenautor trotzt dem alltäglichen Wahnsinn mit Humor. Edition MundWerk, Berlin 2020. 146 Seiten, 12 Euro.

Robert Rescue bei uns hier. Beispiele:

Juni 23: Wie hat ihnen das Produkt gefallen?
Mai 23: Fenster zum Hof
April 23: Schritte im Hausflur
März 23: Wahl mit Qual: Demokratie endet nicht um 18 Uhr
Februar 2023: Für die Verkehrswende ist es zu spät 
Dezember 2022: Interview mit einem umgeschulten Flugzeugentführer
November 2022: Auf dem Friedhof von Stahnsdorf
September 2022: Die Generalmobilmachung
Juli 2022: Im Berlin Dungeon
Juni 2022: Abends bei Reddit 
Mai 2022: Energie sparen
April 2022: Leben ohne Feind
März 2022: Wenig Raum für Ekstase
Februar 2022: Der Kälte-Gottesdienst
Dezember 2021: Sind doch nur Kinder
November 2021: Geht mit Gott, aber geht
Oktober 2021: Keine Zeit zu sterben
September 2021: Bote aus vergangener Zeit
August 2021: Eine Kurzgeschichte mit Wetter