
Mein Chef hat die Schnauze voll von Berlin und will wegziehen. Ich muss gestehen, ich kann ihn nach 30 Jahren in der Hauptstadt verstehen und ich wünsche ihm viel Glück bei seinem Plan. Das Problem ist, ich verliere dadurch meinen Job. Leider handelt es sich um kein halbherziges Vorhaben, denn er hat einen Makler beauftragt, die Wohnung in Charlottenburg, die er in den neunziger Jahren billig gekauft hat und die uns als Büro dient, zu verkaufen. Meine Hoffnung war eine Weile, dass niemand die Wohnung kaufen will, denn sie ist ziemlich heruntergekommen und man wird ein paar Tausender mehr reinstecken müssen, um die schick zu machen. Die Böden sind durch, es gibt nur eine Kochnische und keine Dusche oder Wanne. Hinzu kommt ein großer Keller, zugänglich über eine Luke in einem Raum, ohne Treppe, dafür mit einem Lift ausgestattet. Als Gewerbeeinheit würde das reichen und für einen Rollstuhlfahrer, der sich im Keller aufhalten will.
Der Makler geht seiner Arbeit dennoch gewissenhaft nach, macht Fotos und stellt so ein Laserding überall hin, dass die Maße berechnet. Nach drei Wochen gibt es die ersten Besichtigungstermine für Interessenten, während wir dort arbeiten. Ich komme mir vor, wie in der Anfangsphase einer Verdrängung. Einige der Interessenten sehen so aus, als ob sie der Zustand der Wohnung nicht sonderlich interessiert, aber bei denen würde ich auch vermuten, dass die keinen Laden für Räucherstäbchen oder Fußpflege eröffnen wollen.
Auf jeden Fall werden es immer mehr Leute, die sich die Immobilie anschauen und damit wächst die Wahrscheinlichkeit, dass darunter jemand ist, der das Ding kauft. Dann wird mein Chef unseren schönen HiFi-Fachhändler-Laden abwickeln, seine Zelte abbrechen und sie woanders wieder aufschlagen. Anfangs versuche ich wegzuhören, wenn die Makler die Leute herumführen und davon schwärmen, dass der „Astronomen-Kiez“ (wegen der Herschel-, Brahe- und Olbersstraße) im Zentrum der Stadt liege und eine Immobilie dort eine gute Entscheidung sei. Das nahegelegene Charlottenburger Schloss stehe als Touristenattraktion hoch im Kurs und das Landgericht Berlin gegenüber vermittle hochmoderne Sicherheit. Einmal fragt jemand: „Ich habe auf der Straße viele Asiaten gesehen. Was hat es damit auf sich?“ Der Makler ist schlagfertig. „Das sind Angestellte großer chinesischer Staatskonzerne, die sich hier niederlassen, weil Staatspräsident Xi Jinping ein großer Verehrer der Astronomen ist.“ Womöglich ist jemand von dem Quatsch angetan und entwickelt ein Interesse. Das muss ich verhindern, denke ich und entwickele einen Plan.
„Haben sie sich den Keller mal näher angesehen?“
Der Mann neben mir schaut zu mir. Seine Frau ist mit dem Makler in einem der hinteren Räume zugange. Er will hier nicht wohnen, das macht schon der Umstand deutlich, dass er an der Begehung nicht weiter teilnimmt.
„War nicht viel zu erkennen“, antwortet er. „Steht ja alles voll mit Kartons.“
„Die Blutspritzer hinten in der Ecke links hätten sie sehen können.“
„Blutspritzer?“
„Ja, von meinem Kollegen Klaus. Tragische Sache. Der hatte vergessen, sich das Kruzifix umzuhängen, als er vorgestern runterstieg, um einen Stand-Lautsprecher zu holen. Da hat ihn Golgorak geholt.“
„Golgorak?“
„Der Höllendämon, der da unten haust. Der packt jeden, der ohne Kruzifix runtersteigt und zerreißt ihn. Der Chef hat dem Makler nichts davon erzählt und ich musste die Sauerei wegmachen, die von Klaus übrigegeblieben ist.“
„Kann man das irgendwie wegmachen?“
„Wegmachen? Einen Dämon? Da brauchen sie einen Exorzisten oder einen Geisterjäger. Die sind beide nicht billig und bei einem Exorzisten müssen sie nachweisen, dass sie aktiver Katholik sind, sonst schickt der Vatikan gar nicht erst einen.“
Einmal spricht eine junge Familie mit Tochter von einem der Nachbarn, den sie im Flur gesehen haben und den sie komisch finden. „Das ist der Kinderschänder“, bringe ich mich ein. „Die Polizei hat ihm noch nichts nachweisen können, aber alle im Haus sind überzeugt, dass er die Tochter von der jungen Nachbarin gegenüber angetascht hat. Irgendwann kriegen wir das Schwein dran und dann knüpfen wir ihn am Landgericht auf. Quasi ein Schnellgericht. Wenn Sie hier einziehen werden, sollten sie gut auf ihre Tochter aufpassen.“
Wenige Tage später stehe ich neben einem Pärchen, dass offenbar Gefallen an der Wohnung findet. „Haben sie die junge Nachbarin von gegenüber im Flur gesehen?“
„Ja, ich glaube ja.“
„Die ist cracksüchtig. Alle hier im Haus sind cracksüchtig, auch mein Chef. Deswegen will er die Wohnung ja verkaufen, damit er seine Sucht finanzieren kann. Sind sie mit der U-Bahn oder S-Bahn gekommen?
„Nein, mit dem Auto.“
„Die Cracksüchtigen sind den ganzen Tag am Bahnhof Jungfernheide und rauchen da ihre Pfeifen. Oder sie ziehen durch den Kiez und klauen, was nicht niet und nagelfest ist.
Sie haben bei dem Landgericht drüben die Türklinken geklaut, so massive alte Dinge aus der Kaiserzeit und mein Chef hat die bei Ebay verhökert und dann sind sie zum Bahnhof zu den Dealern. Ich würde das Auto nicht zu lange hier in der Gegend stehenlassen, wenn ich sie wäre.“
Manchmal fällt mir eine neue Schauergeschichte ein, aber meist wiederhole ich nur. Die Makler sind ebenso frustriert wie mein Chef. Ich komme weiterhin sechs Tage im Monat und mache meine Arbeit. Meine beiden Kollegen machen inzwischen mit und sind sehr kreativ. Den Chef fragen wir gar nicht mehr, wann er abhaut. Vielleicht kommt er irgendwann ab von seinem Plan und alles wird wieder gut.
Robert Rescue bei uns hier. Zu seiner Webseite mit Terminen, Veröffentlichungen etc. geht es hier, einen einschlägigen Beitrag von ihm finden Sie in der Anthologie „Berlin Noir“ und beim Talk Noir im Neuköllner Froschkönig ist er regelmässig unser Stargast.

Im Herbst 2020 Corona zum Trotz erschienen: Robert Rescue: Das Leben hält mich wach. Berlins müdester Lesebühnenautor trotzt dem alltäglichen Wahnsinn mit Humor. Edition MundWerk, Berlin 2020. 146 Seiten, 12 Euro.
Robert Rescue bei uns hier. Beispiele:
Oktober 23: Großbritannien kann mich mal
September 23: Der gefährlichste Mann der Welt
Juli / August23: Kim – oder die Sache mit der richtigen Anrede
Juni 23: Wie hat ihnen das Produkt gefallen?
Mai 23: Fenster zum Hof
April 23: Schritte im Hausflur
März 23: Wahl mit Qual: Demokratie endet nicht um 18 Uhr
Februar 2023: Für die Verkehrswende ist es zu spät
Dezember 2022: Interview mit einem umgeschulten Flugzeugentführer
November 2022: Auf dem Friedhof von Stahnsdorf
September 2022: Die Generalmobilmachung
Juli 2022: Im Berlin Dungeon
Juni 2022: Abends bei Reddit
Mai 2022: Energie sparen
April 2022: Leben ohne Feind
März 2022: Wenig Raum für Ekstase
Februar 2022: Der Kälte-Gottesdienst
Dezember 2021: Sind doch nur Kinder
November 2021: Geht mit Gott, aber geht
Oktober 2021: Keine Zeit zu sterben
September 2021: Bote aus vergangener Zeit
August 2021: Eine Kurzgeschichte mit Wetter