Geschrieben am 1. Oktober 2024 von für Crimemag, CrimeMag Oktober 2024

Robert Rescue: Romantische Ansicht von Venedig

Eine Kurzgeschichte mit tausend Teilen

Bisweilen fürchte ich mich vor den Morgen, wenn ich klingele und mir der Chef aufmacht. Wenn er ab dem späten Nachmittag allein im Büro sitzt, bekommt er hin und wieder Mails oder Anrufe, die dazu führen, dass der Flur mit neuer Ware vollsteht, die wir sonst nicht im Sortiment haben und die wir nur schwerlich wieder loswerden. Okay, die Porno-DVDs aus der Videotheksauflösung waren eine Ausnahme, die waren im Nu weg. Aber der Sack voller Strom-Adapter für das britische Stromnetz, die jetzt irgendwo im Keller vor sich hin verstauben, war ein Griff ins Klo, denn welcher normale Mensch reist heutzutage noch nach Großbritannien? Jetzt erblicke ich im Flur einen Pappcontainer mit Puzzles. Genauer gesagt, ein Puzzle mit einer romantischen Ansicht von Venedig, 1000 Teile und 1000 Puzzles.

„Das wird der Renner im Weihnachtsgeschäft“, sagt mein blinder Chef und geht zurück zum Schreibtisch. „In der Vorweihnachtszeit besinnen sich die Leute auf Tugenden alter Zeit, insbesondere zum Streßabbau, und was passt da besser als ein Puzzle? Ich sage dir, die reißen uns die Dinger aus den Händen.“

„Mag sein“, antworte ich wenig begeistert. „Aber wir haben erst März.“

„Als Unternehmer musst du vorausschauend einkaufen“, erwidert mein Chef. „Die Hälfte kriegen wir die nächsten Monate weg, immer mal eins oder zehn und am Ende des Jahres erhöhen wir den Preis und machen Kohle.“

So ähnlich höre ich es jedes Mal. Bei den Porno-DVDs hätte er gerne Nachschub geordert, aber Videotheken machen heutzutage nicht mehr jede Woche oder Monat zu. Die Stecker-Adapter, keine Ahnung, wo er die her hat, werden wir weder mit Gewinn, noch zu Weihnachten und auch nicht in 100 Jahren los. Vielleicht klappt es mit den 1-Euro-Auktionen auf eBay. Auktionen sind die sportliche Herausforderung für Hardcore-eBay-Konsumenten. Ein Strom-Adapter für 1 Euro ist für die eine Trophäe, die irgendein Hirnareal zum Leuchten bringt. Zuhause landet der Mist in der Garage, im Keller oder sie tun einem Mitmenschen was schlechtes, indem sie die Sachen als weihnachtliches Wichtelgeschenk unterjubeln. Aber es gibt auch Produkte, die nicht mal als Auktion irgendeinen Käufer finden. Die Spielzeug-Küche, der ein paar Teile fehlen, wird mein Chef ebenso wenig los wie die landwirtschaftlichen Modell-Nutzfahrzeuge aus Gusseisen für Sammler von landwirtschaftlichen Modell-Nutzfahrzeugen aus Gusseisen, weil es die, anders als vom Chef prognostiziert, nicht oder nicht mehr gibt. Mein Blick fällt auf die Tüte, die auf dem Schreibtisch liegt. Sie ist gefüllt mit Spielzeugautos von Matchbox, die der Chef von einem Spielplatz aufgesammelt hat. Angeblich lagen die da verlassen rum, aber wir Mitarbeiter haben Zweifel.

Ich betrachte das Puzzle. Die romantische Ansicht von Venedig sieht aus, als wäre sie von einer KI gezeichnet worden oder von einem schlechten Künstler. Die Verpackung ist aus dünnem Karton und wirkt billig. „Wir setzen die für einen Euro bei Ebay rein“, sagt mein Chef, „dürfte nur eine Woche dauern, bis die weg sind.“ Vor einer Minute sprach er noch von einem Weihnachtsgeschäft, jetzt glaubt er, die eBay-Kundschaft hätte auf so ein Puzzle nur gewartet.

Ich überlege, wer als Kundschaft infrage kommt. Senioren, fällt es mir ein, die haben Zeit und noch Biss. Die fangen eine Sache an und bringen sie zu Ende, ohne sich von anderen Dingen ablenken zu lassen. Außerdem haben Senioren etwas, was zum Puzzeln notwendig ist – einen freien Tisch. Einen, wo ein begonnenes Puzzle eine Woche oder zwei liegen kann, weil dieses eine, verdammte Teil runtergefallen und noch nicht wieder aufgetaucht ist, obwohl man die ganze Wohnung auf den Kopf gestellt hat. Ich muss an meine Mutter denken. Die hat gerne gepuzzelt und sich von nichts abbringen lassen, bis das Ding fertig war. Wenn sie den Tisch vor sich aufmerksam absuchte, von links nach rechts, von oben nach unten und wieder von vorne, und dabei zwei Schachteln Zigaretten rauchte und eine Literflasche Moselwein trank, dann hatten wir Kinder nichts zu melden. Keine Hausaufgabenhilfe, kein Essen, kein Elternabend, keine Gutenachtgeschichte, kein gar nichts, solange nicht, bis das Puzzle fertig war. Wenn ich mich recht entsinne, gab es damals nur ein Motiv: Schloss Neuschwanstein in vier Jahreszeiten. Heute gibt es Puzzles mit der Kennzeichnung „Schwierige Teile“. Zum Beispiel ein Pokemon Puzzle, auf dem eine einzige Figur in verschiedenen Winkeln angeordnet ist, quasi ein Wimmelbild ohne Wimmel oder wie auch immer. Ich würde wahnsinnig bei sowas werden. Warum machen Leute das heutzutage? Oder ein komplett weißes Puzzle, eine einzige, weiße Fläche. Das ist nicht schwierig, das ist Wahnsinn. Was ist denn an Schloss Neuschwanstein nicht mehr gut?

Ich selbst komme als Zielgruppe für ein Puzzle nicht infrage. Ich habe weder den Nerv dafür, noch einen freien Tisch und diese romantische Ansicht von Venedig interessierte mich einen Scheiß.

Nach drei Wochen haben wir eins verkauft. Fast schon feierlich steige ich in den Keller und hole eines aus dem Pappcontainer. Noch 999 Stück und wir sind das Zeug los. Ich packe schwarze Folie um das Puzzle, damit es wertiger aussieht, und schicke es an Karl-Heinz Kasulke nach Bochum. Der ist bestimmt letzte Woche nach 50 Jahren in der metallverarbeitenden Industrie in Rente gegangen, erfüllt sich einen Lebenstraum und hat heute den freien Tisch, den er bei IKEA gekauft hat, aufgebaut. Morgen kann es losgehen.

Eine Woche später bestellt jemand 8 Puzzle für 8,00€ und bezahlt dafür 15,00 € Porto. Wie ich schon häufiger beobachten konnte, ist eine Sache den Auktionszombies heilig – das Porto. Sie kaufen den größten Schrott, bezahlen dafür fast nichts und das Porto darf kosten. Neulich hatte jemand 15 defekte DVD-Player für sage und schreibe 1 Euro gekauft und musste dafür 25€ Porto bezahlen. Die hätte er auch noch sparen können, denn er kam aus Berlin. Jetzt mag man sich fragen, was will jemand mit 15 defekten DVD-Playern? Wir vermuten, dass die Käufer auf die Platinen aus sind und diese in die Ukraine oder Russland zum Drohnenbau bringen. Kann uns egal sein, Hauptsache, wir sind den Schrott los, aber ein bisschen hoffen wir auf die Ukraine als Abnehmer. Ich widme mich wieder der Puzzle-Bestellung. Was will der mit 8 Stück? Beglückt er damit seine Familie oder die Nachbarn? Ich schüttele den Kopf, um den Gedanken zu vertreiben. Man darf sich im Online-Handel keine Gedanken über Motivationen der Käufer machen. Entscheidend ist, 8 Stück weniger.

991 Stück, denke ich, als ich vor dem Pappcontainer stehe. Im Internet habe ich gelesen, dass der Saarländer Hans-Josef Schaadt einen Weltrekord hält. Er hat ein 54000 Teile umfassendes Puzzle mit berühmten Gemälden innerhalb von 99 Tagen fertig „gepuzzelt“. Wahnsinn, was für Rekorde es gibt. Herr Schaadt ist Rentner und hat nicht nur einen freien Tisch, bei 54000 Teilen müssen es mehrere sein. Unsere romantische Ansicht von Venedig schafft er bestimmt in einer Minute, mit einer Hand und ohne hinzuschauen. Ich schaue mir einen Bericht über den Weltrekord an. Herr Schaadt hat die Teile zuvor zuhause an seinen vielen Tischen vorgebaut, fährt sie nun in spezielle Kisten zu einer Eventlocation und baut sie dort final zusammen am wohl längsten Tisch, den sie im Saarland haben. Alle seine Freunde jubeln. Die Saarländer, echt ey.

Drei Monate später. Es sind noch 884 Puzzle übrig und bis Weihnachten ist noch hin. Mein Chef hat so einen Ringlicht-Scheinwerfer besorgt und will bei TikTok Videos veröffentlichen, wo er für Puzzles wirbt, als innovatives Freizeitvergnügen mit hohem Entspannungsfaktor. Vermutlich hat es die Generation TikTok zuhause bereits mit weißen Puzzles oder mit einem mit 54000 Teilen probiert und sitzt mit hervortretenden Augen und Spuckefaden vor dem Taschentelefon und kommentiert die Videos mit einem Haufen zusammenhangsloser Emojis. Gut möglich, dass er tatsächlich damit einen kurzlebigen Hit auf TikTok landet – ein Blinder, der puzzelt. Wenn der Hit für 884 Bestellungen reichen sollte, mag es mir recht sein. Bleibt nur zu fürchten, dass mein Chef dann glaubt, dass Ganze sei so erfolgreich gewesen, dass er aus seinen dubiosen Quellen Nachschub ordert.

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Robert Rescue bei uns hierZu seiner Webseite mit Terminen, Veröffentlichungen etc. geht es hier, einen einschlägigen Beitrag von ihm finden Sie in der Anthologie „Berlin Noir“ und beim Talk Noir im Neuköllner Froschkönig ist er regelmässig unser Stargast.

Kürzlich von ihm erschienen: Diejenigen, die Gegenstände auf die Krokodile werfen, werden aufgefordert, sie zurückzuholen. Periplaneta, 148 Seiten, 13,50 Euro.
Im Herbst 2020 Corona zum Trotz erschienen: Robert Rescue: Das Leben hält mich wach. Berlins müdester Lesebühnenautor trotzt dem alltäglichen Wahnsinn mit Humor. Edition MundWerk, Berlin 2020. 146 Seiten, 12 Euro.

Robert Rescue bei uns. Beispiele:

September 24: Kladow sehen und sterben – Die Suche nach einem Bürgeramt
Juli 24: Berliner Bildungsoffensive
Juni 24: Menschen und Orte
Mai 24: Berlin – Hochburg des Terrorismus
April 24: Bleibt da, wo ihr herkommt
März 24: Da ist was im Wasser
Januar 24: Ein Zug fährt nach Nirgendwo
Dezember 2023: Unter Fremden
November 23: Wie im Zoo
Oktober 23: Großbritannien kann mich mal
September 23: Der gefährlichste Mann der Welt
Juli / August23: Kim – oder die Sache mit der richtigen Anrede
Juni 23: Wie hat ihnen das Produkt gefallen?
Mai 23: Fenster zum Hof
April 23: Schritte im Hausflur
März 23: Wahl mit Qual: Demokratie endet nicht um 18 Uhr
Februar 2023: Für die Verkehrswende ist es zu spät 
Dezember 2022: Interview mit einem umgeschulten Flugzeugentführer
November 2022: Auf dem Friedhof von Stahnsdorf
September 2022: Die Generalmobilmachung
Juli 2022: Im Berlin Dungeon
Juni 2022: Abends bei Reddit 
Mai 2022: Energie sparen
April 2022: Leben ohne Feind
März 2022: Wenig Raum für Ekstase
Februar 2022: Der Kälte-Gottesdienst
Dezember 2021: Sind doch nur Kinder
November 2021: Geht mit Gott, aber geht
Oktober 2021: Keine Zeit zu sterben
September 2021: Bote aus vergangener Zeit
August 2021: Eine Kurzgeschichte mit Wetter