Geschrieben am 21. Dezember 2012 von für Highlights 2012

CM-Jahreshighlights 2012, Teil III (M–Z)

Willkommen,

zum CM-Jahresrückblick, Teil III (M–Z): die Tops & Flops von LitMag, MusikMag & CrimeMag, so wie über vierzig (!!!) unserer Autorinnen und Autoren das Jahr 2012 sahen: Bücher, Filme, Musik, TV, Kino, Alltag und Wahnsinn … ungeordnet, unabhängig, undogmatisch. Viel Vergnügen! (Zu Teil I und Teil II)

Peter MünderPeter Münder

Es gibt ja die schöne Kalenderweisheit „Den Toren packt die Reisewut – indes im Bett der Weise ruht“. Wenn es danach geht, gehöre ich auch, obwohl nicht besonders reisewütig, auch zu den Toren. Jedenfalls gab es etliche schöne Highlights auf Reisen in Asien (Thailand und Vietnam) und beim Besichtigen heimischer kulturträchtiger Gefilde.I: Der Kultur-Detektiv in Bangkok: Christopher G. Moore, unser Crime-Mag-Kolumnist und begnadeter Autor, der schon viele Jahre in Bangkok lebt und sich auch bestens in Rangun und Phnom Penh auskennt, wo er sehr engagiert Kriegstribunale gegen brutale Militärs beobachtete, ist ein wunderbarer, humorvoller und beeindruckender Typ- jedenfalls zählen unsere Treffen in Bangkoker Kneipen zum Top-Highlight.

Er war ja ursprünglich Jura-Professor in Vancouver, gab den Job aber ganz spontan auf, weil er eine Autoren-Karriere spannender fand: „Alle rieten mir natürlich davon ab, aber ich fand in New York Polizisten, die mich in ihren Streifenwagen bei nächtlichen Fahrten durch die Bronx in Problemzonen mitfahren ließen. Wir gerieten in einem Hochhaus unter Beschuß von militanten Gangs, ich stand mitten auf der Straße neben dem Streifenwagen, von oben ballerten die Gangster mit Gewehren auf mich, während sich die Cops schon hinter oder unter den Autos in Deckung gebracht hatten“, berichtete er und mokierte sich dabei über seine eigene Naivität.

Er schrieb damals über seine Erfahrungen im New Yorker Real-Crime Milieu und bekam sofort ein Angebot eines amerikanischen Verlags. Moore will es einfach wissen, er geht den kulturellen Unterschieden zwischen West und Ost nach und lotet die brisanten Grauzonen aus, in denen der Gesichtsverlust gewalttätige Eruptionen  auslöst. Sein großartiger Privatdetektiv Calvino ist eben auch, wie sein Erfinder, ein „Kulturdetektiv“.

Und wenn man sich verwundert die Augen reibt, weil der sympathische Kanadier fast jeden Monat ein neues Buch produziert, dann lächelt er nur abgeklärt und ganz entspannt und spricht mit zenartig-ironischer Distanz: „Ja, ich wünschte, ich hätte auch mal eine Schreibblockade – ich muss einfach immer schreiben“. In Phnom Penh hat er gerade bei einem Crossover-Event mit dem „Killing Fields“-Regisseur Roland Joffé, Krimi-Autor John Burdett sowie der Band KROM seine „Phnom Penh-Noir“- Anthologie vorgestellt. Jedenfalls hat kaum ein anderer Autor so klar erkannt wie Christopher Moore, mit welchem Orwellschen Automatismus sich die brutale Gewalt eines diktatorischen Systems mit kriminellen Machenschaften durchsetzt. Er hat das Krimi-Genre ganz locker und stilistisch brillant um eine wichtige politisch-kulturelle Dimension erweitert, ohne sich als oberschlauer Schulmeister aufzuspielen.

II: Dröhnende Motoren, sanfter Choral-Singsang auf der Kasseler Documenta: Es war nur ein kurzer, aber beeindruckender Besuch in der fabelhaften „Motorenhalle“ des originellen Künstlers Thomas Bayrle: Die Kurbelwellen rotierten, die Pleuelstangen stampften, die aufgeschnittenen Porsche-und VW-Motoren waren allein schon eine Augenweide; aber die fast transzendentale (na ja, vielleicht etwas hochgegriffen!)kontrastreiche Hypostasierung zum „Kunstwerk“ realisierten erst die über Lautsprecher eingeblendeten lateinisch gesungenen getragenen Kirchenchoräle und Liturgien. Anregend, aufregend und zugleich als selbstironisch-manieristische Attitüde gedacht, diese PS-starken Installationen- einfach fabulös.

Joyce Centre 1

Collage im Joyce-Centre

III: Der Rundgang durch Dublin auf den Spuren von James Joyce (hier bei CM): Sicher nicht sehr originell, schließlich toben alljährlich am Bloomsday Tausende von Touristen durch Joyce-Town. Aber direkt zu erleben, mit welcher Begeisterung die Iren sich immer noch mit ihren Autoren auseinandersetzen, dass jeder weiß, wo etwa das im „Ulysses“ beschriebene Pub „Davy Byrnes“ (heute ist es eher ein Edel-Restaurant) liegt, oder welche Exponate man im „Literary Museum“ besichtigen kann, das ist einfach überwältigend. Im James Joyce Centre dann noch mit dem Kassierer Bush Moukarzel, einem Schauspiel-Studenten, über Brecht, Piscator und Beckett zu fachsimpeln, war einfach wunderbar. Der Literatur-Virus hat die Iren eben immer noch gepackt – der Titel „City of Literature“, von der UNESCO verliehen, ist jedenfalls hochverdient.

Zu den CM-Beiträgen von Peter Münder.

Christiane NitscheChristiane Nitsche

Gut gefallen haben mir:
literarisch: „Oktoberplatz“ von Martin von Arndt (März)
persönlich: die Begegnung mit Ernesto Cardenal zu Beginn seiner Abschieds-Lesereise in Münster (Oktober)
musikalisch: Klaus Doldinger und Max Mutzke beim Internationalen Jazzfest in Gronau (Mai)
open air: LOFFT bei „Auf die Ohren 2012“ am Rock’n’Popmuseum Gronau (August)
filmisch: National Theatre Live: „Frankenstein“ (September)
dramatisch: „Nur ein Tag“ von Martin Balscheit, Bühne Lutz im Theater Hagen (November)
online: ein Freund, ein guter Freund oder „facebook ist viel besser und eindeutig schlimmer als sein Ruf“ (Januar bis Dezember)
gepresst: „Let them talk“ von Hugh Laurie & The Copper Bottom Band (Februar), HOUSE M.D., Season 8, „The Final Season“ (Oktober)
offline: wenig, aber dann! (April/Juli)

Zu den CM-Beiträgen von Christiane Nitsche.

Roland OßwaldRoland Oßwald

Das Jahr 2012 war, was den Lesestoff betrifft, ein großes Jahr der Klassiker. Zum einen hat mich gefreut, dass im Unionsverlag nochmal die Wachtmeister-Studer-Romane zusammengefasst erschienen sind. Zum anderen ist es großartig wie Diogenes Georges Simenon die Fahne hoch hält, und, wenn ich mich richtig erinnere, jeden Monat wieder einen neu rausgehauen hat. Ross Thomas’ „Die Backup-Männer“ (zur CM-Rezension) und „Gelbe Schatten“, wie auch Jim Thompsons „In die Finstere Nacht“ und „Blind vor Wut“ würde ich zu den wichtigsten Spannungsromanen des Jahres 2012 in Deutschland zählen. Im Grunde fallen diese Titel auch in die Kategorie Klassiker, aber hierzulande muss man eben immer mit einer Refraktärzeit rechnen. Rick DeMarinis’ „Götterdämmerung in El Paso“ (zur CM-Rezension)  glänzte da ähnlich im Gestrüpp der Neuerscheinungen 2012 und gehört auf meiner Liste dieses Jahr auf die oberen Plätze.

Ein Muss aus anderen Gefilden waren und sind Hunter S. Thompsons „Die Rolling Stone Jahre“. Schon allein deshalb, weil wir in den USA ein absolut lächerliches Wahlspektakel mitverfolgen konnten, was noch irrer wirkte, wenn man Hunters Artikel zum 1972er Wahlkampf von Nixon im Hinterkopf hatte.

Und im Fernsehen hat die HBO Serie Boardwalk Empire am meisten überzeugt.

In der Kategorie Kunst konnte ich in diesem Jahr die Ausstellung Anselm Kiefer in Bonn empfehlen, und vor allem der Katalog dazu Nächstes Jahr in Jerusalem. Seine Rede anlässlich der Preisverleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels 2008 ist als Nachwort darin abgedruckt. Brillant, allein dafür lohnt es sich den Katalog zu kaufen.

In Sachen Comic bin ich spät, aber immerhin dieses Jahr, und dafür dankbar, auf das Werk von Joann Sfar gestoßen, der 2012 den César für Le Chat du Rabbin-Die Katze des Rabbiners in der Kategorie Bester Animationsfilm erhalten hat.

Nicht mehr ganz 2012, ich glaube das Taschenbuch war im Herbst 2011 erschienen, ist mir dieses Jahr 2666 von Roberto Bolaño untergekommen, ganz groß, deshalb will ich es unbedingt hier noch drankleben, weil ansonsten die Mexiko-USA-Thematik so stark von Don Winslow besetzt wird.

Zu den CM-Beiträgen von Roland Oßwald.

matthiasPenzelMatthias Penzel

Buch des Jahres: „A Hologram for the King“ von Dave Eggers  (mehr hier). Gleich die erste Seite zum Heulen gut, im Grunde Set und Atmo, wie ich sie in meinem neuen Roman zu umkreisen versuche, manche Momente/Absätze sodass ich vor Glück inne halte und mich erfreue, dass es auf der Erde einen Menschen gibt, der am Leben ist und so Sachen empfindet/sieht. Eine Art Trost, nach Resümee meines Romans, ca. fünf Jahre mit etwa zwanzig Absagen.

Bairishe Geisha_KellyficationKrimi des Jahres: In meinem Kopf neu gereift, eigentlich ein Stoff, der schon für zig Krimis gesorgt hätte, wären wir nicht was wir hier zu sein scheinen: Flaschen. Die Amis haben dicke Polizeiautos voller Chrom, geile gemeine Waffen, Korruption und Gewalt schon in den Knüppeln, die an der Gürtellinie hängen, und da denkt man sich hier: kein Wunder, dass das Beste was wir hier –vermeintlich – kriegen „Tatort“ ist. Aber Stoff? Den gibt es, und nun habe ich gesehen, wie er von jemand verpackt wurde. als Theaterstück (und ohne nach den seltsamen Ungereimtheiten zu stochern, dafür anderen Un-reimen nachtastend): „Die Bairishe Geisha: Kellyfication“ (mehr hier) reflektierte und umspielte und das Leben als das Sterben von Petra Kelly, und es belächelte Zeit und Zeitgeist. Sehr gewitzt.

Ganz großes Highlight: ein Buch, das 2013 bei Liebeskind erscheint, von dem Schriftsteller, der mir jahrelang den Kopf verdreht hat – und den ich (als Geschenk zu meinem 40. Geburtstag) besucht und getroffen habe. Top Typ, ganz ganz groß: Madison Smartt Bell, und wieder ein Roman über Tyrannei und Terrorismus, auch Rassismus und die Gewalt im Alltag, bei ihm nun aufgehängt am 11. September. „Die Farbe der Nacht“ (mehr hier).

Zu den CM-Beiträgen von Matthias Penzel.

Kirsten ReimersKirsten Reimers

Highlights: Freunde • diverse Romane & Sachbücher (mit dem Aufzählen einzelner Titel fang ich gar nicht erst an, das nimmt ja kein Ende) • Kabel: 3,5 mm Stereo-Klinke auf 2x Cinch • Fotoausstellung „Lost Places“ (Kunsthalle Hamburg) • Geräusche & Klänge • Freunde (!) • die zugefrorene Alster • Elbe (mit und ohne Eis) • „The Wire“ • Lesung von Don Winslow auf Kampnagel (Hamburg) • Marantz PMD 662 • OKMs • Brathähnchen mit Zitrone • Ernst Toller • ISO 100 • Freunde (kann man gar nicht oft genug sagen)

Zu den CM-Beiträgen von Kirsten Reimers.

Nixon-Umschlag-12-05-08.inddFrank Rumpel

Friedrich Ani: „Süden und das heimliche Leben“. Während in den Krimiregalen der Hang zum Voluminösen unübersehbar ist, zeigt Friedrich Ani hier mal wieder, dass sich ein großartiger Roman auch auf 200 Seiten erzählen lässt. Ani ist ein Meister der Zwischentöne, der poetischen Präzisierung alltäglicher Dramen und hat hier zudem zu einem leichteren Ton gefunden.

Carl Nixon: „Rocking Horse Road“. Ein paar Jugendliche finden 1980 in einem Vorort von Christchurch die Leiche eines Mädchens aus der Nachbarschaft. Der Fall lässt sie nicht mehr los. Sie sammeln Material, suchen nach dem Mörder, auch noch 25 Jahre danach. Erzählt in Wir-Form, so sensibel, wie präzise zu Papier gebracht. Klasse Buch. (bei CM besprochen von Alf Mayer hier).

Sara Gran: „Die Stadt der Toten“. Trotz des im Deutschen frei hinzu  erfundenen Untertitels „Ein Fall für die beste Ermittlerin der Welt“ einer der Kriminalromane des Jahres. Grans Protagonistin ist so schillernd und vielschichtig, wie die im vom Wirbelsturm Katrina zerstörten New Orleans spielende Geschichte (bei CM hier von Thomas Wörtche besprochen.).

Mike Nicol: „Killer Country“. Kein klassischer zweiter Band einer Trilogie, der ja gern mal ein Hänger ist. „Killer Country“ (der zweite Teil von Nicols so genannter „Rache-Trilogie“) ist richtig gut. In Kapstadt würden zwei, einst auf Seiten des ANC arbeitende, ehemalige Waffenhändler gerne ihre Vergangenheit hinter sich lassen, aber das will eine Frau, der sie damals übel mitspielten, keinesfalls zulassen. (mehr dazu hier)

Wilde-ZeitenKettly Mars: Wilde Zeiten. Ein inhaltlich düsteres, in der Form aber funkelndes Stück Literatur, das im Haiti der 1960er Jahre spielt. (Hier bei CM; auf der litprom-Bestenliste „Weltempfänger“ Nr. 15; im Leichenberg von kaliber38)

Helon Habila: „Öl auf Wasser“. Habila erzählt von den Machenschaften der Ölindustrie in Nigeria, von der Zerstörung ganzer Landstriche, von Korruption, von den Verbrechen der Armee und jenen der Rebellen, von der zweifelhaften Rolle der Medien und davon, dass in dieser Gemengelage Hoffnung auf bessere Tage ziemlich vergebens ist (zur CM-Rezension).

Peter Temple: „Tage des Bösen“. Bescheidener Titel, aber eines der Thriller-Highlights des Jahres. Gewieft und verschachtelt erzählt der in Australien lebende Temple eine sich mühelos zwischen Johannesburg, Hamburg, London und Wales entfaltende Geschichte um die Jagd nach einem Videoband, das einigen Politikern schwer zu schaffen machen könnte.

Zu den CM-Beiträgen von Frank Rumpel.

Carlo_SchäferCarlo Schäfers

Top-Ten:
10. Dass es Gottesbotin Käßmann geschafft hat, ein Besäufnis zum endgültigen medialen Durchbruch zu transzendieren – das nötigt schon Achtung ab.
9. Radfahrer Armstrong, dessen Körper, genauer gesagt, der ja nun offensichtlich nicht nur Krebs übersteht, sondern auch einen Hektoliter steroides Stierblut pro Alpenpass. Hut ab! Trikottausch.
8. Expräsident Wulff – ich hätt ja gedacht, dass er es in einem Genfer Hotel so allmählich austrudeln lässt – aber nein! Er macht weiter, bzw. seine Gattin.
7. Der momentan stattfindende soziale Hinschied des grazer Quadratzwergen Schwarzenegger.
6. Jene Fledermaus, die sommers immer vorbei schaut, wenn ich da so mit meinem Dämmerschoppen sitz und denk, ich könnt mal wieder ein Buch schreiben …
5. Für immer und ewig und daher also auch 2012: Otis Redding.
4. Buddy Obama, der ja – ganz unter uns – eigentlich nix hingekriegt hat, uns aber wenigstens diesen Mormonen erspart.
3. Das erzkatholische kreuz.net für schöne Meldungen wie diese:

Frankreich. Der französische Präsident, Genosse François Hollande, will die massenhafte Kritik an seiner Homo-Politik durch ein Feigenblatt aus der Welt schaffen. Bürgermeister sollen vorerst nicht dazu gezwungen werden, Analstecher mit einer nachgeäfften Ehezeremonie zu bedienen.

Nicht parodierbar. Weltklasse!

2. Lemmy Kilmister von Motörhead für sein musikalisches Lebenswerk und seine Religionskritik: „Eine Jungfrau wird von einem Geist geschwängert? Come on! Piss off!“
1. Die deutsche Fußballnationalmannschaft. Trotz aller Neidmäuler und Schandredner – JAWOLL!

Flop-Ten:
10. Mein ausgefallener Sommerurlaub, weil das Eheweib diese (natürlich sehr empfehlenswerte) Ausstellung zu kuratieren hatte.
9. Press- und Hasskopf Uli Hoeneß, präsidialer Nachtreter und … NEIN! THOMAS WÖRTCHE, TU DAS NICHT … AUTSCH!
8. Die Euro-Krise nebst Apokalyptikern und deren Dauerparlando – nervt alles und an Silvester böllern alle ihr nicht vorhandenes Geld in die Luft.
7. Der Roman „Kain“ des dahingegangenen José Saramago – ein leider saublödes Buch.
6. So ziemlich alles, was mich musikalisch aus dem Radio angeschifft hat – werde also alt, böse und reaktionär. Endlich!
5. Die sich scheintot dahinschleimende FDP – aber eigentlich gehört das schon wieder in die Top-Säule.
4. Das Ehepaar Sarrazin aufgrund gleich mehrerer Widerlichkeiten, denen die wiederholte Erwähnung hiermit verweigert sei.
3. Günni Grass für sein tolles Politgedicht. Die Alten müssens halt richten. Denken die Alten.
2. Dieter Bohlen, da Dieter Bohlen
1. Hälfte der US-Bevölkerung (die ohne Evolution), man muss es nicht begründen.

Zu den CM-Beiträgen von Carlo Schäfer.

Ry Cooder: Election SpecialTina Karolina Stauner

Platten:

  • Scott Walker: „Bish Bosch“
  • Sidsel Endresen & Stian Westerhus : „Didymoi Dreams“ (zur CM-Rezension)
  • The Avett Brothers: „The Carpenter“
  • Jack White: „Blunderbuss“
  • Bod Dylan: „Tempest“
  • Ry Cooder : „Election Special“ (zur CM-Rezension)
  • The Tallest Man On Earth: „There’s No Leaving Now“
  • Leonard Cohen: „Old Ideas“
  • The Lumineers: „The Lumineers“
  • Dr. John: „Locked Down“
  • Swans: „The Seer“
  • Paul Thorn: „What The Hell Is Going On?“

Konzerte:
„Carte Blanche für Heiner Goebbels“, Kammerspiele München, 23.05.12.
Heiner Goebbels und das Münchner Kammerorchester, Dirigent Alexander Liebreich, und folgendes Programm: In the Country of Last Things (Goebbels, 1993/94) / Fünf Orchesterstücke (Hanns Eisler, 1938) / Befreiung, Konzertante Szene für Sprecher u. Ensemble (Goebbels, 1989) / Songs of Wars I have seen (Goebbels, 2002/2007), Suite für Ensemble mit modernem und historischem Instrumentarium (Deutsche Erstaufführung)
James Blood Ulmer solo: Nightclub Bayerischer Hof München, 02.05.12

Literatur:
Christian Schulte (Hg): „Die Frage des Zusammenhangs. Alexander Kluge im Kontext“
Hunter S. Thompson: „Die Rolling Stone Jahre“

Ausstellung:
Erich Hartmann: „New York Stories, 1946-1957“, Amerikahaus München, 29.05.-27.07.12
Ellsworth Kelly: „schwarz & weiß“, Haus der Kunst München, 07.10.11-22.01.12

Theater:
Höhen und Tiefen beim Fassbinder-Festival des Residenztheater im Marstall im März 2012: „Postparadise Fassbinder Now“. 4 internationale Produktionen, einige Filme und Gespräche zum 30. Todestag von Rainer Werner Fassbinder. Bestes Stück und tatsächlich exzellente Interpretation: „Die bitteren Tränen der Petra von Kant“ am 03.03.12 in der Regie von Martin Kušej. Nennenswert auch: Showghoest-3 mit recht guten Songs und konzipiert von Jan Machacek am 10.03.12.

Zu den CM-Beiträgen von Tina Carolina Stauner.

Sophie-SumburaneSophie Sumburane

Viel gelesen habe ich ja nicht, in diesem Jahr, aber was ist schon viel? Und das was ich gelesen habe, war teilweise ernüchternd. Doch es gab auch diese Bücher, die man nicht mehr weglegen möchte, die einen traurig zurücklassen, wenn man sie ausgelesen zuschlagen muss, weil man aus ihrer Welt gerissen wurde. Die Bücher, durch die man Lachkrämpfe bekommen hat, vor Angst lieber bei Licht schlafen gegangen oder plötzlich festgestellt hat, dass man durch den Tränenschleier die Buchstaben nicht mehr erkennen kann.

Crime: Ein Buch, das mich aufgewühl hat, weil es so schrecklich real ist, so nüchtern und doch packend geschrieben: Helon Habilas „Öl auf Wasser“ (zur CM-Rezension). Ein Einblick in ein alltägliches Verbrechen, auf dem „schwarzen“ Kontinent, der uns immer dann, wenn es nicht um Brot für die Welt geht, ganz furchtbar fremd sein soll.

Rocking Horse Road“ von Carl Nixon (zur CM-Rezension) gehörte zu den Büchern, die nicht mehr weglegbar waren. Die Geschichte um die Ermordung einer 17-jährigen trägt viel Poesie in sich, man lernt eine Welt kennen, um die man wohl ohne dieses Buch einen größeren Bogen gezogen hätte. Die Schönheit dieser Welt erblüht auf den Seiten des Buches, ebenso wie die editorische Schönheit des Buches an sich aus dem Weidle Verlag.

Intelligent verwoben und spannend geschrieben, stilistisch einmalig und kreativ, das waren die Attribute, die mir beim Lesen von Zoë Becks „Das zerbrochene Fenster“ durch den Kopf gingen. Eine junge Frau, die mit aller Kraft nach ihrem verschwundenen Freund sucht, dabei vor immer dunkleren Geheimnissen steht und schließlich selbst verschwunden ist. Die Zusammenhänge und Abgründe sind so unvorhersehbar wie absolut glaubwürdig. Toll!

Musik: Amanda Palmer: „Theater is evil“. Anhören. Die Frau ist von einem anderen Stern. Einem Stern, den ich unbedingt finden muss.

Roman: Ngugi wa Thiong’o mit: „Träume in Zeiten des Krieges: Eine Kindheit“ habe ich gelesen und bin mit dem Kenianer aufgewachsen. Ein Erinnerungsbuch, das berührt und neben dem Roman ums Erwachsenwerden einen wertvollen Einblick in das Kenia um die Zeit des Zweiten Weltkriegs gibt.

Anthologie:Leck mich am Leben!“, was für ein sprechender Titel für die von Frank Willmann herausgegebene Anthologie „Punk im Osten“. 32 Autoren erzählen in grandios unterschiedlichen Geschichten ihren Teil des Punks im Osten. Aufwühlend, aufklärend, abschreckend, aufbrechend. Es geht um Spaß, dem Hunger nach einem Leben, in einer Republik, in der Konformität zählte. Es geht um Musik und Rebellion, um die Gründe dafür und um die dadurch auf den Plan gerufenen Sicherheitsorgane. Sehr zu empfehlen!

Zu den CM-Beiträgen von Sophie Sumburane.

trahmsGisela Trahms

Zweimal Schwarz – Weiß: Dass in Zeiten des Baller-Kinos eine Folge melancholischer Episoden in Schwarz-Weiß, 88 Minuten kurz, zum Erfolg wurde nicht nur bei der Kritik, sondern auch an der Kasse, lässt Hoffnung blühen. „Oh Boy“ von Jan Ole Gerster läuft seit dem 1. November, möge er lang noch laufen. Die Kritik stufte den Film als „kleine Komödie“ ein, er ist aber von großer Wahrheit. Die beruht auf Genauigkeit, auf scharfem Blick, scharfen, witzigen Dialogen, einer großartigen Kamera und brillantem Schnitt. Alles, alles stimmt und erzeugt das Glück des Erkennens: so ist es, tatsächlich, so hirnlos und absurd, so traurig und nicht zu fassen. „Ich kann Brote machen!“, bietet die Großmutter des jungen Dealers den Kunden an. Ja, Brote machen, mehr geht selten. Aber im Kino, mit diesen Bildern, dieser Musik und Tom Schillings Kinderblick, wird Gold daraus.

Im Januar las ich mal wieder Nabokovs „Pnin“, was immer eine verderbliche Mäkeligkeit gegenüber anderen Büchern zur Folge hat. Aber dann traf mich doch noch ein Glück besonderer Art. Mit Hilfe des Reprodukt- Verlegers Dirk Rehm erwarb ich Anke Feuchtenbergers längst vergriffenen Klassiker „Das Haus“. Ein Buch im aberwitzigen Querformat, auf edlem Papier gedruckt und, aufgeklappt, von oben nach unten zu lesen. Keine graphic novel, sondern eine gezeichnete Meditation über den menschlichen Körper als Wohnstätte aus dreißig Häusern, je eines für Hand, Fuß, Auge, Geschlecht usw., immer über eine Doppelseite gestreckt, flankiert von schmalen Säulen und im Giebel gekrönt von einem Schlüssel, der nichts öffnet.

Feuchtenberger_das hausMagische Texte und geheimnisträchtige Zeichnungen schaffen dreißig in alle Richtungen vibrierende Rätsel. Ein Beispiel: „Die Zunge die / Informationen / von Bitterkeit / weiterleitet / als sie in die Tiefe / des zerbissenen / Kerns / vordringt.“ Die sieben Bilder dazu suggerieren Nachkriegszeit, Vergewaltigung, den Kern, die Zunge, die Lust. Vielen Texten fehlt das Prädikat des Hauptsatzes, dadurch bleiben Bedeutungen in der Schwebe, der Leser / Betrachter führt ein Zwiegespräch mit sich selbst, wortlos wahrscheinlich, aber drängend.

Zehn Jahre alt ist dieses Buch und nicht gealtert. Immer greifbar liegt es auf meinem Tisch, immer wieder schaue ich hinein zu immer neuem Entzücken. So viele Anspielungen, so viel Eigensinn. Ist das Caravaggios schlafender Amor im 25. Haus? – Möge es bald eine zweite Auflage geben.

Anke Feuchtenberger: Das Haus. Reprodukt 2001. 64 Seiten.
Zu den CM-Beiträgen von Gisela Trahms.

Don Winslow_king of coolRegula Venske

„Ästhetik ist immer zu verstehen als Beschäftigung mit dem Leben“, heißt es bei Robert Musil. Mein persönliches Kultur-Highlight war deshalb ein Ostersonntag mit Giuseppe Verdis Don Carlo in der Inszenierung von Marco Arturo Marelli an der Deutschen Oper in Berlin. Im Programmheft zwei Zitate, die auf den Punkt brachten, was mir in diesem Jahr aus nächster Nähe zugemutet wurde, das erste von E. M. Cioran: „Die Pflicht eines einsamen Menschen ist, noch einsamer zu werden.“ Und das zweite (aus dem Gedicht „Tröstung“) von Max-Hermann Neiße: „Aber ich fühle die Sünde / und tue sie doch, weil mein Schicksal es will. / Ich verwunde mich selbst und zünde / das eigne Haus an und sterbe still.“

Männer, die sich aus Lust & Langeweile nach Apokalypse sehnen – da rette sich, wer kann.

Was war noch? Inspirierend, amüsant und hilfreich für einen eigenen Vortrag: Klaas Huizings Essay über Scham, Schuld und Verbrechen in der Bibel: „Eva, Noah und der David-Clan“ (edition chrismon). Lesereisen, Moderationen und freundliche Begegnungen mit den Kollegen Marc Elsberg („Blackout. Morgen ist es zu spät“, Blanvalet), Jorn Horst Lier („Winterfest“. Aus dem Norwegischen von Dagmar Lendt, Grafit), Ann Rosman („Die Tote auf dem Opferstein“. Aus dem Schwedischen von Katrin Frey, rütten & loening) und Jiliane Hoffman (?wie war noch mal der Titel? Schon vergessen; diese sich wiederholenden sadistischen Frauenmorde sind letztlich nicht mein Geschmack).

Schön war das Wiedersehen mit der lieben Freundin Ingrid Noll („Über Bord“, Diogenes) ), die größte Entdeckung war die junge Engländerin Amy Sackville (Jg. 1981, nicht mit Vita verwandt), deren beachtlicher Debütroman „Ruhepol“ von einer fiktiven Nordpolexpedition ebenso wie von einer Expedition ins Innere ihrer Figuren erzählt (Ü: Eva Bonné, Luchterhand), und literarisch beeindruckt hat mich der unvergleichliche Don Winslow („Kings of Cool“. Aus dem amerikanischen Englisch von Conny Lösch, Suhrkamp Verlag, zur CM-Rezension). Den deutschen Text las bei seinen Lesungen Dietmar Wunder, auch bekannt als deutsche Stimme von Daniel Craig alias James Bond. Mit diesen beiden sympathischen Herren in Braunschweig „Skyfall“ zu sehen, während mir „Mein Name ist Bond …“ ins Ohr geflüstert wurde, zählt zweifelsohne auch zu den kulturellen Highlights des Jahres.

Und ein anderer Film: Julian Pölsners „Die Wand“ nach dem gleichnamigen Roman von Marlen Haushofer, die ich im Rahmen meiner Dissertation Anfang der 1980er Jahre entdeckte. Haushofers Satz „Es gibt keine vernünftigere Regung als Liebe“ ist ein guter Abwehrzauber gegen apokalyptische Herrenreiter. Premierengespräch mit dem Regisseur und der großartigen Martina Gedeck in der Hauptrolle: Selten, nein, nie habe ich einen Regisseur erlebt, der seine Rolle so dienend, um nicht zu sagen: demütig definierte.

Eine solch dienende Haltung kennt man sonst eher von Editoren und Biographen. So übernahm Michael Nedo 1975 in Tübingen und am Trinity College, Cambridge die editorischen Arbeiten am Wittgenstein-Nachlass und ist heute Leiter des Wittgenstein-Trusts. Und endlich ist es erschienen, sein großes Album: „Ludwig Wittgenstein. Ein biographisches Album“ (C. H. Beck), ein wunderbares Schwergewicht mit 516 Abbildungen, das man lieben Menschen – und also auch sich selbst – unbedingt zu Weihnachten gönne.

Und ein weiteres Buch zum Verschenken: Peter Rühmkorf, „In meinen Kopf passen viele Widersprüche. Über Kollegen“. Mit Dichterporträts von F. W. Bernstein, hrsg. v. Susanne Fischer und Stephan Opitz (Wallstein). Meisterlich scharfzüngige Verrisse, aber auch anrührend empathische Erkenntnisse über Dichterkollegen, von Becketts „Mülltonnen“ oder der „Rolle des Rollstuhls in der zeitgenössischen Dramatik (Thomas Bernhard: „ein vorgequirlter Mythos“ und Brandauer „ein Bernhard nach der Schönheitsoperation“) bis hin zum Onanie-Motiv bei Rilke (Rühmkorfs Fazit: „Ich liebe ihn, aber ich kann ihn nicht leiden“) oder der Einschätzung Martin Walsers als „reichlich mobile(m) Charakter“. Mein Favorit: Rühmkorfs Dankesrede zum Heinrich-Heine-Preis der DDR.

Bis zum nächsten Jahr verabschiede ich mich, frei nach Wittgenstein, mit dem Motto: „Worüber man nicht reden kann, darüber muss man … schreiben.“

senta wien 2010Senta Wagner

Wenn die Fredda mit dem Zschokke: Das Jahr 2012 war wieder ein Jahr der Hingabe. An die Musik (zwischendurch) und die Literatur (notorisch-leidenschaftlich).

Fredda, Liedermacherin und Sängerin aus Paris, ist eine bezaubernde Interpretin des Chanson pop aus Frankreich. An ihrer Gitarre zupfend, mit starker akustischer Untermalung summt, haucht und trällert sich Fredda durch ihre feinsinnigen Texte aus ihrem neuen Album „l’ancolie“. In ihnen geht es um Schönheit, die Liebe im Gepäck, Abschiede – auch um Weihnachten. Es ist Zeit für Melancholie: „N’entends tu pas/ Non loin de là rugir noël.“

Gleichzeitig oder wenn man mit dem Wegträumen fertig ist, gibt es zur täglichen Lektüre nicht die EIGENEN, sondern zwei, drei E-Mails des Schweizer Schriftstellers Matthias Zschokke an seinen Freund und Lebensermunterer Niels Höpfner: „Oh Du meine Klagemauer.“ „Lieber Niels“ heißt das staunenswerte Egomanengenre. Zwischen 2002 und 2009 gehen zwischen den beiden „Kommunikatoren“ zig Mails hin und her.

Zschokke schreibt kürzere und längere Einlassungen zu seinem Alltag, zum Stand der Dinge und der Welt: höchst vergnüglich, hellwach, bohrend, sanft rebellisch. Hier wundert sich noch einer so richtig über das Leben. Niels erfährt noch vom lässlichsten Theaterbesuch, dem ärgsten Kater, vom Bibbern um Buch- und Filmprojekte und von Fluch und Segen des PCs – es müssen tausende Mails sein auf 760 Seiten. Die Nachrichten von Höpfner bleiben im Äther hängen und erschließen sich aus dem unermüdlichen Remailen von Zschokke. Sie helfen, sie widersprechen und sie haben auf alles eine Antwort. Lesen wir den Mailverkehr der anderen.

Senta Wagner

Matthias Zschokke: Lieber Niels. Göttingen: Wallstein Verlag 2011. 760 Seiten.
Fredda: l’ancolie. Le Pop Musik 2012.
Zu den CM-Beiträgen von Senta Wagner.

DorisWieserDoris Wieser

  • Luiz Ruffato: „Es waren viele Pferde“ (zur CM-Rezension)
  • Jorge Amado: „Die Werkstatt der Wunder“ (zur CM-Rezension)
  • Ariel Magnus: „Zwei lange Unterhosen der Marke Hering“ (zur CM-Rezension)
  • Eduardo Mendoza: „Katzenkrieg“ (zur CM-Rezension)
  • Zoe Beck: „Das zerbrochene Fenster“ (mehr bei kaliber38)

    Zu den CM-Beiträgen von Doris Wieser.

WoertcheThomasThomas Wörtche

Zu meinen Highlights gehören eine Menge Bild-Bände, die während des Jahres auf dem gefährlichsten aller Stapel gelandet sind – auf dem „Wow! Großartig, muss ich mir genauer anschauen“-Stapel, der dann zum Turm wird und das Genauer-Anschauen wird um den Parameter „Wenn ich mal Ruhe habe“ ergänzt und dann ist schon Weihnachten und deswegen hier meine Jahresend-Favorites und gleichzeitig Tipps für den letzten schnellen classy Weihnachtsgeschenkeinkauf! Have fun …

Schwarz/Weiß: Achtung, es geht NICHT um abgebildete Szenen aus Filmen, sondern um Filmfotos, um „Standfotos“ (Stills) für die Presse, für die Werbung, für Plakate und so weiter.  Kondensate, Reduktionen, Konzentrationen aufs Wesentlich – auf die Stars, zentrale Szenen, aufs Genre, auf die Atmosphäre – z. B. das Foto von Werner Krauß als Fleischermeister in G. W. Pabsts „Die freudlose Gasse“, mit Beil, Hackblock, Hackgut, Messer und fröhlichem Grinsen.

Oder Louise Brooks in „Die Büchse der Pandora“ (auch von Pabst): Die prototypische Lulu, als Porträt noch fataler, verführerischer und schöner … Und so geht es durch die ganze Filmgeschichte von 1918 bis 1933, alles Stars, alle wichtigen Film, alle Regisseure usw. Kompetent und komprimiert kommentiert von Hans Helmut Prinzler, dem Ex-Chef der Deutschen Kinemathek. Eine Augenweide und Seh-Schule, eine Motiv-, Kontext- und Bildergeschichte des Kinos und damit auch ein Archiv und Thesaurus von ikonographischen Standards, die bis heute wirken.

Hans Helmut Prinzler: Licht und Schatten. Die großen Stumm- und Tonfilme der Weimarer Republik. München: Schirmer/Mosel & Deutsche Kinemathek. 308 Seiten. 68 Euro.

Wittgenstein, Bilder und Philosophie: Das „biographische Album“, das der Wittgenstein-Herausgeber Michael Nedo, aus Fotos, Dokumenten, Devotionalien („Wittgensteins Klarinette), Manuskript- und Buchseiten nebst tausenderlei anderer Kontext-Materialen zusammen mit Zitaten von Wittgenstein, mit Briefstellen, Tagebüchern und Äußerungen von Zeitgenossen, Familienmitgliedern, Freunden etc.  montiert, ergibt in der Tat ein faszinierendes Netzwerk von Ideen, Einfällen und Bildern und Bezügen zu Wittgensteins Denken, die Biographie und Philosophie in einem engen Zusammenhang erscheinen lassen wollen.

Natürlich ist die soziale Grundierung sehr wichtig für Wittgensteins Philosophie, die sich ja auch als sozialer Akt versteht, aber ob die jeweiligen durch Bild und Text hergestellten Verweise das eine oder andere wechselseitig so erhellen, wie Nedo sich das vorstellt: man darf es bezweifeln oder sich auf die fake-rezeptionsästhetische Klippschul-Position zurückziehen, dass sich jeder dazu denken kann, was er mag.

Anyway, als Bildquelle, Materialsteinbruch und Hinweis auf Kontexte, die man vielleicht sonst übersehen hätte, ist der Band gar nicht genug zu loben. Sein reiner Schauwert ist sowieso großartig.

Ludwig Wittgenstein: Ein biographisches Album von Michael Nedo. München: C. H. Beck 2012. 464 Seiten. 39,90 Euro

Miles Davis_ The complete illustrated historyCooles Fan-Buch: Für Miles-Davis-Fans und die, die es werden wollen, das ideale Weihnachtsgeschenk. Ein wunderbarer Bildband mit vielen Fotos von Francis Wolff, Bob Willoughby, Lyn Goldsmith und anderen Großfotographen. Mit Texten von Gerald Early (der selbst ein wunderbares Buch über „MD and the American Culture“ herausgegeben hat,) Ashley Khan – seit seinem KIND-OF-BLUE-Buch der populäre und beliebte Miles- Davis-Spezialist (und glücklicherweise ein kluger), den Musikern (u.a.) Sonny Rollins, Ron Carter, Herbie Hancock, Clark Terry, Lenny White und – das macht den Charme des Bandes aus – von ein paar „jüngeren“ Menschen wie Karl Hagstrom Miller oder Nate Chinen, die nicht die Hörerfahrung und die Normativitäten der 40er und 50er Jahre mit sich schleppen, sondern gerade den Electric Miles der 60s unverkrampft (Sie wissen, was ich meine …) hören und einordnen können.  Für MD-Spezialisten bietet das Buch nicht all zu viel, wenn auch etliches neues Material, aber das tut keinen Abbruch: Ein grandioses Bilderbuch über einen der wichtigsten Musiker aller Zeiten, der für viele Leute irgendwo schon auch das Maß aller Dinge ist.

 Miles Davis: The Complete Illustrated History. Oetwil am See/Zürich: Edition Olms 2012. 222 Seiten. 35,00 Euro.

Der genaue Blick: Die Neue Sachlichkeit als Laboratorium des Blicks. Ihre Gemälde, Fotos und Zeichnungen (und deren filmische Konsequenzen) sind nicht nur transmedial spannend, sondern rücken aktuelle Themen und deren ästhetische Organisation in den Fokus, die damals – so behandelt – neu waren und auf die diversen Initialschocks der Moderne reagierten: Das Schlachten im Ersten Weltkrieg, die sozialen Folgen, die Profiteure und die Verlierer, das sich allmählich etablierende Organisierte Verbrechen als gesellschaftliche Gruppierungen, die moral panic der Zeit, die individuellen Tragödien, die Faszination am „Laster“, die ästhetische Inszenierung des Grauens – all das, was heute noch in der Kriminalliteratur (oder eben in der multimedialen crime fiction) seinen narrativen Platz gefunden hat und zu einem Hauptnarrativ unserer Tage geworden ist: In der Neuen Sachlichkeit nimmt vieles davon seinen Ausgang. Und eben immer wieder der in beiden Ausstellungen thematisierte „Blick“ – die Art, die Welt zu sehen und diesen Blick in verbindliche Kunstwerke umzusetzen. Der Impulsgeber Dix, mit all seiner Megalomanie und mit seinem schieren Können, seinen Visionen und Frustrationen, steht im Mittelpunkt des Stuttgarter Katalogs, der Dix´ Wirkungsradius eindrucksvoll auffächert.

Der Band über den „kühleren“ Karl Hubbuch verfolgt systematisch die Schnittstellen zwischen Gemälden, Zeichnungen und Fotografien, denen das präzise Arrangement alltäglicher Realität (Karneval, Kinder, Nazi-Aufmärsche) künstlerisches und damit auch erkenntnistheoretisches Prinzip ist.

Zwei wichtige Kataloge darüber, wie Realität moderner Gesellschaften in der Kunst konstruiert wurde und wie sehr diese Konstruktionen noch heute im Hintergrund unserer Wahrnehmung wirken.

Karl Hubbuch und das Neue Sehen. Fotografien, Gemälde, Zeichnungen 1925 – 1935.  Hg. von Ulrich Pohlmann und Karin Koschkar. (Katalog) Münchner Stadtmuseum & Schirmer/Mosel, 2011. 211 Seiten. 48,90 Euro.
Das Auge der Welt. Otto Dix und die Neue Sachlichkeit. (Katalog) Kunstmuseum Stuttgart/Hatje Cantz 2012. 256 Seiten- 39,80 Euro.

schwarze RomantikSchaudern und Gruseln: Schöner Katalog zu einem zentralen europäischen Thema. Die Schwarze Romantik ist überhaupt eine der vielen frühen Partial-Quellen der Kriminalliteratur, insofern sie Teil einer bestimmten Grenz-Überschreitungskunst ihrer Zeit ist. Die Schwarze Romantik mit all ihrem Irrsinn, Alptraum, den dark sides und nebligen Szenarios, mit ihren Bild- und Ideenwelten von Grausamkeiten, Ent-  und Verfremdung, Katholizismus, den künstlichen Paradiesen, dem Monströsen und Grotesken wirkt wie ein schwaches reziprokes Echo jener Töne, Atmosphären und Dispositionen, die immer noch kriminalliterarisch nachwirken, aber seltsamerweise nie so etwas wie einen soliden Boden für eine gesamteuropäische Kriminalliteratur hergestellt haben. Es ist ein bisschen wie mit Edgar Allan Poe: Man beruft sich gerne darauf, aber die produktionsästhetischen Spuren sind eher schwach und zufällig und eben auch – wie im Falle der Schwarzen Romantik – als Unterfutter kaum zu bemerken. Aber das Panorama, das der Katalog aufmacht, ist extrem sinnvoll und erinnert an die Minen und Quellen von vielem, was man heute für innovativ zu halten geneigt ist.

Schwarze Romantik. Von Goya bis Max Ernst. Hg. von Felix Krämer. Städel Museum/Hatje Cantz 2012. 305 Seiten. 45,00 Euro.

London Calling: Wieder einer der 4-Kilo-Prachtbände aus der Foto-Porträt-Städte-Serie des Hauses Taschen diesmal also London. Was soll man, außer loben und dringend empfehlen, dazu sagen: Guck mal da, auf Seite 379 die Kray-Brüder (GBs Beitrag zu den ehernen Mythen des Organisierten Verbrechens) fotografiert von Ron Gerelli, und da, auf S. 362 stellt Tippi Hedren am Trafalgar Square Hitcocks „The Birds“ nach, und hier, auf S. 476 hat David Hoffman im Bild festgehalten, wie die Polizei 1990 hoch zu Roß gegen Leute vorging, die etwas gegen die poll tax hatten (Sie erinnern sich?).

Der Band führt uns vom mittleren 19. Jahrhundert (klar, da fängt´s an mit den Fotos) bis heute durch so ziemlich Aspekte des Londoner Stadtlebens – Alltag, Architektur, Mode, Gesichter, Verbrechen, Krieg, Party, normale Leute, Promis, Kunst – you name it – alles von den feinsten Namen und großen Könnern fotografiert, liebevoll mit jeweils passenden Hinweisen auf einschlägige Musik, Literatur und Kino ausgestattet – und hey, guck mal, S. 181, wie schick das Odeon 1937 damals aussah ….

London. Porträt einer Stadt. Hg von Reuel Golden. Dreisprachig. Dt. von Susanne Ochs. Köln: Taschen 2012, 550 Seiten, 49,90

Und was war sonst: An bewegten Bildern eher kleine, nette Filme wie „Killing them softly“ von Andrew Dominik, basierend auf George V. Higgins‘ Roman „Cogan’s Trade“, einer genialen Dialog-Suada, die hier  prächtig in Film übersetzt ist.

Nicht zu vergessen Steven Soderberghs „Haywire“, in dem Gina Carano zeigt, wie anbetungswürdig man Leute verhauen kann …

Fein auch Oliver Stones Winslow-Verfilmung „Savages“, zu dem Alf Mayer schon alles Wichtige gesagt hat.

Als eher kindliches Gemüt hatte ich auch viel Freud an Tim Burtons lustiger Vampir-Nummer „Dark Shadows“, während „The Dark Knight Rises“ von Christopher Nolan klar die Top-Nervensäge des Jahres war – der stocklangweilige Versuch, mit der Brechstange Tiefsinn zu erzwingen.

Apropos Flop – und wahrscheinlich, da deutlich Minderheiten-Meinung, mein Problem: Diese alberne, vorlaute und schlaumeierhafte „Sherlock“-Serie, die mit der 2. Staffel auch nicht besser wurde , was aber auch damit zu tun haben kann, dass mir das ganze Retro-Ge-Conan-Doyle und Rumgesherlocke mit diesem leicht schmätzend-connaisseurhaften Gestus unendlich auf den Keks geht.

Wie erfrischend bösartig und klar wie Salzsäure dagegen „Borgen“, eine Serie, die nach der zweiten Staffel die dritte sehnlichst erwarten lässt. Ach, tu felix Dänemark, Du machst einfach das klügere Fernsehen, wie auch „Die Brücke – Transit in den Tod“ bewiesen hat …

Viel Spaß und Freud machen die „Sons Anarchy“, auch wenn es ein paar lange Jährchen gedauert hat, bevor diese lässig-zynisch-witzige Serie auch bei uns laufen darf … (wie lange noch, fragt man sich bang?)

Meine Lieblings-CDs des Jahres:
Sergio Mendoza y La Orkesta: „Mambo Mexicano
Calexico: „Algiers
Amparo Sánchez: „Alma de cantaora
Diana Krall: „Glad Rag Doll
(den bescheuerten Vorwurf, Diana Krall sei zu blond und zu schön, um wirklich gut zu singen, kontert sie hier, in dem sie auf dem Cover so was von scharf aufgemacht ist und dann auch noch ein großartiges Album aus dem Geiste der guten, alten Halbwelt vorlegt – also aus den Gegenden, aus denen der Jazz stammt …)
Donald Fagen: „Sunken Condos“,
(eine schön kühl-elegante Produktion aus dem Geiste von James Graham Ballard)
und last, but wahrlich not least: Leonard Cohen: Old Ideas

Von Highlight-Büchern fange ich jetzt schon gar nicht mehr an – bis auf zwei, ohne die 2012 entschieden langweiliger gewesen wäre:

Christian Kassung, Jasmin Mersmann, Olaf B. Rader (Hg): „Zoologicon. Ein kulturhistorisches Wörterbuch der Tiere“. (Wilhelm Fink). Der schlagende Beweis, dass man auf hohem Niveau unterhaltsam, erkenntnisfördernd und sehr lesbar über alles schreiben kann, wenn man es kann: Über Blutegel und Chimären, über Godzilla und den inneren Schweinehund, den Werwolf und den Ortolan. Ein Lese- und Amüsierbuch mit großem intellektuellen Gewinn-Faktor.

Noch oft wird uns in den nächsten Jahren und Jahrzehnten ein Grundlagenwerk begegnen und beschäftigen, dessen Implikationen und Anschlussmöglichkeiten auszuloten, nach einer ersten Lektüre noch gar nicht möglich ist: Albrecht Koschorke: „Wahrheit und Erfindung. Grundzüge einer Allgemeinen Erzähltheorie. (S. Fischer): nach den basalen Arbeiten von Gérard Genette endlich wieder ein literaturwissenschaftlicher Ansatz, mit dem man, wenn man mit Texten der verschiedensten Arten und anderen Narrativen zu tun hat, etwas anfangen kann. Und vermutlich auch soll und muss.

Zu den CM-Beiträgen von Thomas Wörtche.

Anna Veronica WutschelAnna Veronica Wutschel

Kein Jahr ohne Höhepunkte. An einige erinnert man sich besser als an andere: Gleich im Frühjahr schneidert Marc Jacobs für Louis Vuitton der Damenwelt Nostalgie pur auf den Leib und liefert sie ganz old-fashioned mit der Dampflok aus. Kate Moss gesteht ein Laster: Am liebsten kocht sie Pflaumenmarmelade. Die Queen feiert mit epochaler Grandeur ihr Thronjubiläum, David Haye flegelt sich flott zurück in den Boxring, um sich dann ins Dschungelcamp zu verabschieden. Und mein ehemaliger liebster Golfpartner lehrt jungen Thronfolgern die Fliegerei. Das ist beeindruckend. Wie übrigens auch meine Osterprimeln, die selbst im Advent noch blühen. Lauter kleine Highlights eines rasant verbrachten Jahres.

Der Sound der letzten Monate war definitiv dänisch – eine Sprache, die mit ganz eigener Harmonie reizt. Dazu gab es viel Retro auf die Ohren. Und ein pickepacke-vollgepacktes Video, das auch einem zweiten Blick standhält. Ganz frei nach Herrn Eminescu halte ich mich vorzugsweise an das Motto: ‘Die Natur lügt nie’, obwohl man bei solch uneingeschränkten Absolutheiten immer skeptisch bleiben sollte. Bei Kultur jedoch erscheint Misstrauen von vornherein angebracht, da kann man auch mal ganz unzivilisiert schwänzen. Wo ich dennoch war? Ich möchte mich nicht daran erinnern. Da trauere ich lieber der verpassten Diana Vreeland Ausstellung nach, die im Frühjahr in Venedig gezeigt wurde. Warten wir also gespannt auf die seit längerem angekündigte Dokumentation über die Grande Dame des Stils.

In diesem Jahr fiel aus unterschiedlichen Gründen selbst die Lektüre von Druckfrischem vergleichsweise spärlich aus. Manchmal lassen sich die alten Lieblingsbücher einfach besser verschmökern. Was aber den Krimi betrifft, ist vor allem dieser feine Lesestoff in Erinnerung geblieben: Stuart MacBride: „Knochensplitter“. Don Winslow: „Kings of Cool“ (zur CM-Rezension). Howard Linskey: „Crime Machine”(zur CM-Rezension) Christine Lehmann: „Totensteige“.  James Sallis: „Driver 2“ (zur CM-Rezension).

David_Drebin_Girl_on_the_Red_Steps_351Im TV werden die Ladies aus der Wisteria Lane fehlen. „Die Brücke – Transit in den Tod“, die erste wie auch die zweite Staffel von „Borgen“ ,„Romanzo Criminale“ sowie „Boardwalk Empire” bieten hervorragende DVD-Alternativen zu manch unerfreulichem Fernseh-Abend-Programm. Und um den mit Anmut, Liebreiz und Geheimnis eröffneten Rückblick-Reigen mit einem echten Volltreffer für die Sinne abzuschließen, sei auf David Drebin: „Beautiful Disasters“ verwiesen. Nichts als Verführungen.

Zu den CM-Beiträgen von Anna Veronica Wutschel.

Michael ZellerMichael Zeller

2012? DER FINNE! Natürlich war es der andere Name, ein großer Name, der mich im Frühsommer 2012 in den Düsseldorfer KUNSTPALAST zog: zu El Greco, und ich wusste, was ich dort zu erwarten hatte: einen Maler, dessen formale Kühnheit weit über seine Zeit (das 16.Jahrhundert) hinausgeworfen war. „El Greco und die Moderne“ hieß die Ausstellung deshalb zu Recht. Sie zeigte, wie viele Maler der Grieche bis in unsere Gegenwart beeinflusst und angeregt hat.

Ich war beglückt nach den drei Stunden und hätte gut nach Hause gehen können. Doch da gab es, am Ende der El Greco-Räume, noch einen versteckten Hinweis auf eine weitere kleine Ausstellung im Haus: Bilder von Akseli Gallen-Kallela, eines Finnen.

Den Namen hatte ich noch nie gehört, und überhaupt: Hatte ich jemals ein finnisches Gemälde gesehen? Die Neugier überwog die Trägheit – und wurde reich belohnt.

AkseliDie Bilder dieses Akseli fesselten mich auf Anhieb, zumal ich so gut wie allein mit ihnen (und ihm) hier oben war. Natur und mythologisches Wurzelwerk der finnischen Heimat, schwer und dunkel: Das hat ihn zeitlebens an der Staffelei gehalten. Auch als er, mit Fünfzig bereits, den engen Kreis seines Landes überschritt und sich für drei Jahre in Nordamerika niederließ, in der Künstlerkolonie Taos, ließ ihn Finnland nicht los. Auch in der Wüste Neumexikos malte er seine finnischen Bilder weiter, Mythisches und die Natur, sie vor allem.

Wenn ich heute an den Düsseldorfer Museumsbesuch vom Frühsommer Zwölf zurückdenke: Ja, natürlich, El Greco! Doch als intimer hat sich mir die ungeplante Begegnung mit Akseli in der Erinnerung eingenistet. Der brütende finnische Mensch, der das schwere alte Europa verkörpert.

Wie hieß er noch gleich?

Bild: Akseli Gallen-Kallela: Kalevala im Winter, 1896 (Privatsammlung)
Zu den CM-Beiträgen von Michael Zeller.

Zu Teil I des großen CM-Jahresrückblicks: hier (zu Teil II hier).