Anti-traditionell, avantgardistisch
– Doris Wieser über ein aufregendes und vielseitiges Buch, das sich im Bereich zwischen Roman, Kurzgeschichte und Lyrik bewegt.
„Es waren viele Pferde“ des Brasilianers Luiz Ruffato (*1961 Caraguases, Minas Gerais) ist – das sei vorweggenommen – ein ganz erstaunliches und unkonventionelles Werk. Angekündigt wird es als „Roman“, erfüllt aber keineswegs die gängigen Erwartungen an dieses Genre. Das Werk besteht aus 69 Kapiteln. Alle spielen in São Paulo, doch in jedem werden Figuren eingeführt, die gleich darauf wieder verschwinden. Ein Roman ist das Werk also nicht, wenn man einen durchgängigen Plot erwartet. „Es waren viele Pferde“ zerfällt in viele Miniplots, die auch unabhängig voneinander und in einer anderen Reihenfolge gelesen werden können, denn jedes Kapitel für sich hat seinen ganz besonderen ästhetischen Eigenwert. Dennoch gibt es eine Klammer, die alles zusammenhält: Zeit und Ort. All die Ereignisse spielen sich an einem bestimmten Tag ab, am Dienstag, den 9. Mai 2000 (Kap. 1). Vor dem letzten Kapitel befindet sich eine dunkelgrau gefärbte Seite: die Nacht, das Ende des Tages. Aber genügt dies, um ein so extravagantes Werk als Roman zu klassifizieren? Vielleicht nicht. Akzeptiert man aber die Stadt São Paulo als eine literarische Figur, als die Protagonistin, so entsteht doch so etwas wie ein zusammenhängender Plot. Der „Roman“ handelt dann von all dem, was die Megastadt São Paulo an einem Tag erlebt, durch ihre Bewohner.
Diese Bewohner stammen überwiegend aus niedrigeren Schichten, aber nicht nur. Jeder Abschnitt ist eine poetisch kondensierte Momentaufnahme, die paradigmatisch für die Lebenssituation all dieser Leute steht. Der Verlag Assoziation A nennt diese Miniplots „Shortcuts“, wahrscheinlich in Anlehnung an den Kurzgeschichten-Zyklus „Short Cuts“ von Raymond Carver und den gleichnamigen Film von Robert Altman. Zugegebenermaßen verbinde ich mit diesem Begriff in erster Linie eine Tastenkombination beim Computer für ein bestimmtes Kommando und keine Momentaufnahme (snapshot). Einer meiner Lieblingsshortcuts ist allerdings Alt+Tab. Damit wechselt man von einem offenen Fenster zu einem anderen und das kommt dem Kompositionsprinzip des Romans sehr nahe: ein Hin und Her zwischen verschiedenen offenen Fenstern, durch die wir einen kurzen Blick auf die Bewohner werfen können. Vergleichbar ist das Verfahren auch mit einem Fotomosaik aus vielen kleinen Thumbnails (etwa wie beim Filmplakat zu „The Truman Show“).
Zu den häufigsten Themen der Shortcuts oder Snapshot gehören: zwischenmenschliche Konflikte, zerfallende Familien, Gewalt, Drogen, Binnenmigration, Arbeitslosigkeit, Prostitution, Armut, Verwahrlosung oder einfach Alltagsbegebenheiten. Da ist zum Beispiel eine ältere Dame, die mit dem Überlandbus aus Pernambuco kurz vor São Paulo den Druck auf der Blase nicht mehr aushält (Kap. 6); eine Frau aus ärmsten Verhältnissen, die ihren cracksüchtigen Mann mit Spiritus übergießt und anzündet, nachdem er die 13jährige Tochter vergewaltigt hat (Kap. 9); eine Beziehung, die nicht mehr zu retten ist, weil der Mann sich als Foucault lesender, „zufriedener Nonkonformist“ eingerichtet hat und seiner Frau kaum noch Aufmerksamkeit schenkt (Kap. 10); ein Indigener, der sich mit Gelegenheitsjobs über Wasser hält und in der Megametropole ein Fremder bleibt (Kap. 14); eine junge Frau, die den Traum vom Showbiz träumt, es aber nur bis zum Whiskeyglas und zur Therapeutenpritsche schafft (Kap. 15) undsoweiterundsofort. Alles in allem zeigt der „Roman“ viel Gewalt, aber kein Entsetzen über Gewalt; viel Desillusionierung, aber auch ein Gewohntsein der Enttäuschung, ein Sich-Arrangiert-Haben; viel Not, aber keine Abhilfe. Wer schon einmal in einer lateinamerikanischen Großstadt war, erkennt sie an unzähligen Realitätspartikeln sofort wieder. Auf Schritt und Tritt, von Seite zu Seite, spürt man, dass diese Stadt ganz anders pulsiert als Berlin, München oder der Ruhrpott.
Zwischen die narrativen Passagen geschaltet werden Anzeigen und Flugblätter zum Thema Lebenshilfe im weitesten Sinn: z.B. ein Horoskop (Kap. 12), ein Gebet für Sankt Expeditus (Kap. 31), eine Anleitung zum Einsatz von Psalmen (Kap. 38). Des Weiteren finden sich fingierte Ready-mades wie ein alphabetisches Verzeichnis von Berufen oder Stellenausschreibungen (Kap. 18), die Auflistung von Titeln aus einem Bücherregal (Kap. 24), Kontaktanzeigen (Kap. 42), die Taufurkunde einer Freikirche (Kap. 54) oder Sexannoncen (Kap. 65). All diese Textsorten fügen sich zu einem Ganzen zusammen, da die einen die Kontexte zu den anderen bilden. Der arbeitssuchende Jugendliche aus Kap. 17 liest vielleicht ja die Stellenanzeigen aus Kap. 18. Die Prostituierte aus Kap. 58 hat vielleicht eine der Kontaktanzeigen aus Kap. 43 geschaltet. Der Leser kann eine Vielzahl solcher Verbindungen herstellen, übrigens auch über die wiederkehrenden Straßennamen und Stadtviertel, in denen sich die verschiedenen Figuren bewegen, ohne einander zu kennen.
Besonders die Ready-mades und die graphisch wie Gedichte gestalteten Kapitel (z.B. Kap. 32, 47, 62) erinnern an Werke wie Peter Handkes „Die Innenwelt der Außenwelt der Innenwelt“ (1969) und damit an die Avantgarde. Um was ging es bei Handke im Wesentlichen? Um die Sprache und mehr noch: um das Innenleben der Sprache. Und genau das spielt auch bei Ruffato eine wichtige Rolle: das Wie ist ihm genauso wichtig wie das Was. In jeder Momentaufnahme arbeitet Ruffato mit anderen narrativen und poetischen Mitteln. Er verwendet Fettschrift, Kursivschrift, Unterstreichungen, verschiedene Schriftenfonts. Der Wechsel zwischen den Schriftarten markiert mal den Wechsel zwischen Erzählerbericht und Gedanken einer Figur, mal die Rede zweier Dialogpartner, oder zeigt den Unterschied zwischen Gesprochenem und Geschriebenem an. Manche Kapitel hält Ruffato komplett in Kleinschreibung und verzichtet auf jegliche Zeichensetzung, Sätze brechen einfach ab, Satzteile fehlen. Vorzeitige Zeilenumbrüche und Einrückungen geben einigen Kapiteln eine bildhafte, graphische Form, die in Dialog mit dem Inhalt tritt.
Tatsächlich erklärte Ruffato kürzlich bei seiner Lesung in Berlin, wo er von seinem Übersetzer Michael Kegler präsentiert wurde (14.11.2012), dass die französische Avantgarde zu seinen Inspirationsquellen zählt. Er sieht sich aber auch in der Linie gewisser anti-traditioneller Romane: Über „Die nachträglichen Memoiren des Bras Cubas“ von Machado de Assis (zur CM-Rezension vom 15. August 2012) sei er auf Laurence Sternes „Tristram Shandy“ und Xavier de Maistres „Voyage autour de ma chambre“ aufmerksam geworden. Wichtig für sein Schaffen seien außerdem Cervantes, Joyce und der „nouveau roman“.
Aufschluss darüber, was der Titel bedeutet – oder zumindest, woher er stammt –, gibt ein Blick auf die erste Seite. Als Epigraph sind drei Verse der brasilianischen Dichterin Cecília Meireles abgedruckt: „Es waren viele Pferde / doch niemand kennt mehr ihre Namen / ihre Fellfarbe, woher sie kamen“. Natürlich sagt das einem deutschen Leser zunächst nicht allzu viel. Das Gedicht stammt aus dem Band „Romanceiro da Inconfidência“ (1953), der Titel lautet „Romance LXXXIV ou Dos Cavalos da Inconfidência“ [dt. Romanze 84 oder Über die Pferde der Verschwörung]. In ihrem Gedichtzyklus besingt die brasilianische Dichterin die Taten der Helden der sogenannten „Inconfidência Mineira“, eine separatistische Revolte im Bundesstaat Minas Gerais gegen die portugiesische Krone, die 1789 scheiterte (im Jahr der Französischen Revolution). Das Gedicht preist die Pferde, welche die Helden der Revolte getragen haben. Wer sind wohl bei Ruffato die Pferde und wen tragen sie? Das Fußvolk, das von den Machthabern geritten wird? Alle Bewohner São Paulos, denen die Stadt ihr Zaumzeug angelegt hat? Jedenfalls ist das anschlussfähig…
Das Buch ist wunderbar modular lesbar, Stück für Stück in Häppchen von wenigen Minuten, eine wirklich lohnenswerte, höchst anregende und kurzweilige Lektüre, die sich im Bereich zwischen Roman, Kurzgeschichte und Lyrik bewegt. Rasen Sie also nicht durch den Band, sondern genießen Sie seine ungewöhnliche, vielstimmige Ästhetik, die Michael Kegler mit viel Feingefühl ins Deutsche übertragen hat.
Doris Wieser
Luiz Ruffato: Es waren viele Pferde (Eles eram muitos cavalos, 2001). Deutsch von Michael Kegler. Berlin: Assiziation A, 2012. 158 Seiten. 18,00 Euro.
Mehr über Ruffato: Zur Buchmesse 2013 (Gastland Brasilien) geben Susanne Klengel, Christiane Quandt, Peter W. Schulze und Georg Wink (FU Berlin) einen Sammelband mit dem Titel „Novas Vozes. Zur brasilianischen Literatur im 21. Jahrhundert“ heraus. Darin auch ein Artikel zu Ruffato.