Geschrieben am 26. Mai 2012 von für Bücher, Crimemag

Sara Gran: Die Stadt der Toten

 Down in New Orleans …

„Die Stadt der Toten“ von Sara Gran ist ein sensationell guter Roman. So wie er präsentiert und aufgemacht ist, käme niemand auf diese Idee. Aber Qualität setzt sich eben doch durch. Manchmal. Eine Rezension von Thomas Wörtche.

Abgerundete Buchecken (wenn das Paradox erlaubt ist), eine deutlich auf „Frauenkundschaft“ setzende Grafik, ein neckisch-alberner Untertitel: „Ein Fall für die beste Ermittlerin der Welt“, keine besonders cleveren Aktivitäten des Verlags, das Buch zu platzieren – geht man über die Kritik, geht man über den Buchhandel? –, Paperback mit Klappenbroschur (was uns sagt: Hardcover trauen wir uns nicht, aber wir wollen uns die Verwertungskette offenhalten), nichtssagende Klappentexte, Null-acht-fünfzehn-Blurb von Sue Grafton, irgendwo in der Vorschau versackt.

Alles völlig normal für eine Autorin, über die man noch nichts so richtig weiß, die noch nicht abgesichert ist und über deren Qualitäten man sich noch nicht so ganz klar ist. Dabei könnte man ja wissen: Sara Gran hatte mit „Komm näher“ schon 2005 ein (naives?) deutsches Publikum verstört (es gibt noch zwei weitere, bisher nicht übersetzte Romane von ihr). Also versucht man, sie als junges, neues, frisches Talent aussehen zu lassen. Die Zielgruppe, die flockige, unterhaltende Spaß-Lektüre mit Wellness-Faktor suchenden Leserinnen, wird sich vermutlich als die völlig falsche herausstellen. Business as usual, also … ja, wenn … wenn „Die Stadt der Toten“ nicht einer der ästhetisch spannendsten, großartigsten Romane der letzten Jahrzehnte wäre. Jerome-Charyn-Klasse, James-Lee-Burke- Gewicht und sehr, sehr eigen. Aber von vorne:

Katrina

2005 zerstörte Hurrikan Katrina große Teile von New Orleans. Was auf die „Naturkatastrophe“ folgte, war ein vermutlich noch größeres Desaster – ein gigantisches Krisenmissmanagement, gespeist aus den trüben Quellen von Inkompetenz, Indolenz, Rassismus, Gier, Gewalt, politischem Kalkül und Profitstreben. Ungefähr 1.800 Menschen kamen ums Leben. Ertrunken, von „Bürgerwehren“ erschossen, zugrunde gegangen. 60.000 Menschen im Louisiana Superdome, 10.000 im Convention Center, die weder evakuiert noch versorgt wurden.

Überhaupt Pfusch bei der Evakuierung, gezieltes Nicht-Evakuieren schwarzer und ärmerer Stadtteile, Plünderungen, an denen auch die Ordnungsmacht beteiligt war, ein Mega-Debakel, das schließlich eine der schönsten und kulturhistorisch wichtigsten Städte der Welt zu Grunde richtete und dessen Folgen auch heute noch lange nicht behoben sind. Dringend empfohlen sei „Treme“, die HBO-Serie von David Simon und Eric Overmyer, die einen guten Eindruck von der Zeit unmittelbar nach Katrina gibt.

2007, also zwei Jahre danach, spielt unser Roman: Ein Trip durch die verwüsteten Stadt- und Seelenlandschaft mit Claire DeWitt, eine der rätselhaftesten und seltsamsten Privatdetektiv-Figuren aller Zeiten. Einerseits eine entfernte Verwandte der toughen, weiblichen PIs wie V.I. Warshawksi, andererseits eine tätowierte, trinkfeste Mittdreißigerin mit unklarer sexueller Präferenz, dem Hang zur Gewalt („Ich hatte auf vier Menschen geschossen und zwei getötet, keinen davon aus Notwehr“), aus unklaren Gründen mit Hausverbot in Las Vegas belegt, eine fröhliche Drogen-Userin (nur schlechte Drogen verträgt sie nicht) und Mythomanin beträchtlichen Ausmaßes.

Drogen

Ihr persönlicher Mythos heißt Jacques Silette, die Heilige Schrift ist ein Traktat mit dem Titel „Détection“, das schräge Antworten auf alle Fragen gibt, die man sich lieber nicht stellt. 1959 erschienen taucht das Buch epiphanieartig immer wieder in der Handlung auf – seitdem die junge Claire und ihre beiden besten Freundinnen Kelly und Tracy es in ihrer Heimat Brooklyn entdeckt hatten. Der irgendwann verschollene Silette war der Lover von Constance Darling, Superdetektivin und Übermutter aller Private Eyes, bei der Claire später in New Orleans ihren Beruf lernte. Durch Zufall – oder Fügung? – wurde Darling bei einem banalen Raubüberfall erschossen und Claire wurde die Number One im Business. Teuer, exzentrisch und bizarr.

Als Figur eine atemberaubend plausible Mischung aus Legende, Zitat, Authentizität und Ikone. Uneindeutig, oszillierend, eine Frau von heute, ein Männchen-Schreck wie Lisbeth Salander (nur realitätstüchtiger und viel gebrochener), eine Traditionsträgerin des guten, alten Privatdetektivromans als Ort der skeptischen Aufklärung. Claire DeWitt hat für jede Lebenslage ein Silette-Zitat, sie wirft sich das I Ging, sie vertraut auf Visionen, Träume und Halluzinationen und Eingebungen. Ihre ganze Person ist ein einziger Aufruf zu sinnvollem Drogengebrauch.

Alle diese Dinge helfen ihr, den Fall des schwulen Staatsanwaltes Vic Willing zu klären, der in den Wirren „des Sturms“ (niemand nennt Katrina Katrina, alle sprechen vom „Sturm“) verschwunden ist und dessen Neffe bereit ist, Unsummen an Claire zu zahlen, wenn sie sein Schicksal rekonstruieren, ihn gar wiederfinden kann. Sara Grans erzählerischer Trick dabei ist, dass wir in Claires Rückblenden und Visionen, in ihren Träumen und Räuschen seltsame Fragmente ihres Lebens kennenlernen und beinahe den Eindruck haben könnten, all diese Phänomene seien unabdingbar und essentiell für den „Fall“, den sie zu bearbeiten hat. Dafür spräche auch, dass sie Visionen und Realitäten, Traum und Wirklichkeit auch auf der Ebene des Erzählens gleichberechtigt nebeneinander her laufen lässt, so wie Vergangenheit und Gegenwart. In welcher Zeit und in welchem Modus wir uns befinden, das müssen die Leser selbst herausfinden. Wobei es alles andere als egal ist. Realität ist – glücklicherweise! – bei Sara Gran Realität und Traum ist Traum.

Scharfsinn und Ratio sind sinnvolle Instrumente, das I Ging oder andere Techniken sind es auch – aber eben zur Bearbeitung und Verarbeitung der Welt.  Und eine Garantie für Effektivität und Wahrheit können beide Systeme nicht geben. Halluzinationen können in die Irre führen, deduktives Denken genauso. Sprüche mythischer Privatdetektive und Lebensweisheiten genialer Detektivinnen schützen vor dem Walten der Kontingenz kein bisschen, während Nachdenken und detektivisches Handwerk zum Ziel führen können. Sara Gran ist eine Großmeisterin des Paradoxes und des (unaufgelösten) Widerspruches.

Gut und Böse

Gran zerwürfelt und zerhackt die kategorialen Hierarchien, mit denen man sich üblicherweise einer durchgeknallten Welt annehmen kann. Gut und Böse sind bei ihr nicht in Grautöne verwischt, sondern bleiben als Pole stehen – notfalls in einer Person. Der verschwundene Staatsanwalt war ein Heiliger, ein Menschenretter –und er war gleichzeitig ein total übler Mensch. Das geht bei Sara Gran zusammen, ohne dass seine guten Seiten ein bisschen gut, seine schlechten nur ein bisschen schlecht gewesen wären.  Der „Haupttäter“ des Buches ist ein Mörder, ganz und gar. Und seine Tat war ganz und gar richtig. Keine Grauwerte. Die jungen schwarzen gewalttätigen Männer sind genau das: gewalttätig, mörderisch, skrupellos. Sie sind aber auch – genauso glasklar – Produkte einer bösartigen Politik und einer noch bösartigeren politischen Ökonomie.

Kühn

Die Kühnheit und Souveränität des Konzepts wird glücklicherweise auch erzählerisch eingelöst. Gran wechselt nicht nur blitzschnell und souverän die Zeitebenen und die Realitätsmodi, sie weiß auch extrem unterhaltsam und pointensicher die wahrlich komplexe Story zu inszenieren. Mal benutzt sie ihre eigene Geschichte (und die von Silette und Constance Darling) als Cliffhanger für die nächsten Kapitel, mal die aktuelle Queste nach Vic Willing und hält so den narrativen Drive hoch. Kleine eingebaute Irritationen und surreal anmutende Nebenhandlungen wie die vom Papagei und dem professionellen Vogelmörder schieben sich plötzlich in dem Maß in den Vordergrund, als auch sie Dimensionen entwickeln, die weit über den dekorativen Einfall hinausgehen. Grans Roman ist das, was man gerne „dicht“ nennt – nichts ist überflüssig, alles hat seinen Platz in der Erzählung.

Erfreulich auch, dass Gran wenig erklärt, die Sachverhalte und Hintergründe der Handlung aus ihr und den (oft sehr komischen, wisecrackenden) Dialogen hervorgehen lässt.  Und die Figuren reden miteinander anstatt mit den Lesern. Den Leser verwirren darf Jacques Silette mit seinen Maximen und Reflexionen zu den letzten Dingen, die immer wieder mit dem Beruf des Aufklärers zu tun haben. Aber auch der fiktive Silette steht nicht alleine als Repräsentant fiktionaler Positionen – die Reverenzen an Donald Goines, Julie Smith, Jim Thompson und andere Größen sind ebenso wichtige Elemente des Kosmos von Claire DeWitt, wie auch immer Echos von Jerome Charyn und James Lee Burke in der Prosa Sara Grans aufscheinen, ohne dass sie je epigonal rüberkäme.

Das überschwemmte New Orleans mit dem Superdome am 31. August 2005

Warm

Dazu kommt ein empathischer Blick, mit dem Gran das gequälte und geschundene New Orleans beschreibt – fern von den touristischen und berufsbetroffenen Klischees. Wie in ein paar Szenen der schon oben erwähnten HBO-Serie „Treme“ lässt auch Sara Gran ihre Figuren gegen die üblichen Stadtklischees pöbeln, gegen die niedlichen, medientauglichen Bilder von „schwarzen Straßenkindern, die durch die Pfützen steppen. Und einen alten Schwarzen, der im French Quarter Gitarre spielt“.

Kalt

Präzise und kalt wird ihre Perspektive, wenn sie den destruktiven Wahnsinn beschreibt, der über New Orleans nicht erst mit Katrina hereingebrochen ist, sondern schon immer für die Stadt konstitutiv war – die totale korrupte Polizei und die Staatsanwaltschaft, deren Verluder- und Verlotterung und die reine Willkür, mit der man nicht einmal Morde aufklären möchten, vor allem nicht, wenn das Opfer schwarz ist. Die radikal-kritische, angriffslustige Grundhaltung des Buches gegenüber dem psychopolitischen Zustand einer Nation (und damit einer Gesellschaftsordnung) lässt – in Kombination mit den sympathetischen Zügen der Opfer dieser Situation – eine glasklare Position der Autorin erkennen, die auch ästhetisch gedeckt ist.

Sara Gran (Quelle: saragran.com)

Nicht nur deswegen ist „Die Stadt der Toten“ ein grandioses Stück Literatur, von dem – weil es so viele Vektoren bündelt – enorme Strahlkraft ausgehen wird. Bei Sara Gran und hoffentlich vielen anderen Autoren, die sich trauen, den Formeln und Klischees der Betriebsmechanismen zu entrinnen.

Thomas Wörtche

Sara Gran: Die Stadt der Toten: Ein Fall für die beste Ermittlerin der Welt
(Claire DeWitt and the City of the Dead, 2011). Roman. Deutsch von Eva Bonné. München: Droemer 2012. 361 Seiten. 14,99 Euro. Verlagsinformationen zum Buch. Homepage der Autorin, ihr Blog und ihre Facebook-Seite.

 

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