Geschrieben am 1. November 2023 von für Crimemag, CrimeMag November 2023

Dietrich Leder seziert Crime im TV (18): Die Sörensen-Filme

Der Fernsehkrimi im deutschen Fernsehen boomt. Ungezählt all die Verbrechen, die jeden Tag auf dem und für den Bildschirm begangen und die fast ausnahmslos in maximal 89 Minuten aufgeklärt werden. Dietrich Leder, der viele Jahre für die „Medienkorrespondenz“ über das Fernsehen schrieb, ehe dieses zweiwöchentliche Periodikum im Dezember 2021 eingestellt wurde, nimmt sich jeden Monat eine Erscheinung des laufenden Krimi-Programms vor und seziert, wie es die Darsteller der Pathologinnen und Pathologen in den Serien versprechen. 

Die Figur Sörensen als komplettes Medienpaket

Am 18. Oktober wurde im Ersten Programm zur besten Sendezeit der Kriminalfilm „Sörensen fängt Feuer“ gezeigt und zwar auf einem Sendeplatz am Mittwochabend, der normalerweise dem klassischen Fernsehfilm vorbehalten ist. Leider wird dieser Termin immer öfter mit Kriminalfilmen besetzt, denen ja schon längst andere Sendeplätze des Ersten am Sonntag oder am Donnerstag vorbehalten sind. Dennoch mochte man gegen diese konkrete Programmierung nicht protestieren, denn „Sörensen fängt Feuer“ erschien auf den ersten Blick zwar als ein klassischer Polizeifilm, stellte sich aber bei fortlaufender Betrachtung zugleich als ein düsterer Heimatfilm heraus, der an der friesischen Küste spielt und in dunklen Farben von Morden innerhalb einer religiösen Sekte erzählt. Eine Woche zuvor hatte die ARD „Sörensen hat Angst“ aus dem Jahr 2021 wiederholt, in der die Titelfigur das erste Mal in der norddeutschen Provinz bei Kapitalverbrechen ermittelte. 

Bei näherem Hinsehen fiel einem auf, dass es sich bei den beiden Fernsehfilmen um Teile eines umfangreichen Multimediapakets handelt. Denn die Krimi-Serie von Sven Stricker um den Kriminaloberkommissar (KOK) Sörensen begann zunächst in der Form des klassischen Buchromans. 2015 erschien bei Rowohlt „Sörensen hat Angst“. Als drei Jahre später der Nachfolgeroman „Sörensen hat Feuer“ herauskam, hatte Stricker bereits den ersten und bald auch diesen zweiten zu je einem Hörspiel für Deutschlandradio Kultur verarbeitet. 2021 kam nicht nur der dritte Roman unter dem Titel „Sörensen am Ende der Welt“ heraus, sondern auch bereits das gleichnamige Hörspiel und schließlich die Verfilmung des Startromans. In diesem Jahr publizierte Stricker den vierten Roman mit dem Titel „Sörensen sieht Land“ und nun wurde die erwähnte Verfilmung des zweiten ausgestrahlt und die des ersten wiederholt. Nicht vergessen die beiden Hörbücher, für die der Autor seine ersten beiden Romane eingelesen hat. 

Manche medialen Übergänge liegen nahe. Denn der Schriftsteller Sven Stricker ist zunächst vor allem als Hörspielregisseur bekannt geworden. Er hat seit Anfang der 2000er-Jahre eine Fülle von Romanen der Welt- wie der Gegenwartsliteratur zumeist für den Hörfunk des NDR als Hörspiele eingerichtet und inszeniert. Zuletzt beispielsweise im August beim NDR den Kriminalroman „Ballade einer vergessenen Toten“ von Liza Cody. Dieses Hörspiel ist in der Audiothek der ARD noch zu hören. Hingegen sind die drei Sörensen-Hörspiele von 2018 und 2021 in der Mediathek Deutschlandfunk nicht mehr präsent. 

Wichtigste Entscheidung der Hörspielproduktion von Stricker war die Besetzung des Sörensen mit Bjarne Mädel. Es war 2018 spannend zu hören, wie schnell sich der Schauspieler die Figur anverwandelte. Spätestens mit dem zweiten Hörspiel wurde Mädel zu Sörensen. Wer danach die Romane las, hatte von nun an die Stimme von Mädel im Ohr, wenn er las, was der allwissende Erzähler Sörensen in den Mund legte oder als dessen Gedanken formulierte. Klar, dass Bjarne Mädel auch in den Verfilmungen die Hauptrolle übernahm. Mehr noch: Beide Fernsehfilme wurden vom Schauspieler höchst selbst inszeniert; es sind seine ersten Regiearbeiten. Die Drehbücher dazu schrieb wiederum Sven Stricker, so dass man von einer engen Zusammenarbeit zwischen beiden sprechen muss. 

Und es ist zu vermuten, dass die Art, wie Mädel den Sörensen sprach und spielte, auf die Figur der Romane rückwirkte. Stricker bedankt sich jedenfalls in den letzten beiden Romanen neben anderen ausdrücklich auch beim Schauspieler. Und selbstverständlich prangen seit längerem auf den Titelbildern der Romane Fotos von Bjarne Mädel in der Maske und der Kleidung des Sörensen. Zum kompletten Medienpaket fehlte nur noch, dass Sörensens Hund Cord als Plüschtier auf den Markt kommt.

Nun ist die Figur des Sörensen nicht so gänzlich anders als viele der Kommissars-Kollegen, die Romane, Hörspiele und vor allem unendliche viele Fernsehfilme bevölkern. Er ist Ende vierzig, leicht übergewichtig, Veganer, introvertiert, alleinlebend, nachdem sich seine Frau von ihm scheiden ließ; sie lebt mit der gemeinsamen Tochter weiterhin in Hamburg, während Sörensen sich zu Beginn des ersten Romans in die Provinz versetzen ließ. Er hoffte im friesischen Nest Katenbüll – einem fiktiven Küsten-Ort in der Nähe von Husum – einigermaßen zu Ruhe zu kommen, da ihn Angstzustände peinigen, die er mit Medikamenten zu bekämpfen sucht. Ein angeschlagener Held also, der zudem die Gegenwart, die ihn umgibt, kritisch beäugt und immer wieder wie ein Eulenspiegel kommentiert. Das verleiht den Texten, Hörspielen und Filmen eine besondere Komik, die durch die Art, wie Bjarne Mädel das spricht, noch einmal hinzugewinnt. 

Smalltalk beherrscht Sörensen ebenso wenig wie einen korrekten Umgang mit Vorgesetzten oder renitenten Bürgern. Das erzeugt jede Menge handlungstreibender Konflikte. Als Vorgesetzter einer kleinen Polizeieinheit tritt er zudem auch kollegial von einem Fettnäpfchen ins nächste. Die zarten Gefühle, die sich zwischen ihm und seiner Kollegin Jennifer Holstenbeck (in den Filmen: Katrin Wichmann) andeuten, drohen immer wieder dank seiner sozialen Ungeschicklichkeiten zu erkalten. Beruflich ist er erfolgreich, gerade weil er sich nichts einreden lässt. Stur muss er auch sein, da die Verbrechen weit über das klassische Maß hinausgehen: Da geht es um einen Ring von Männern, die Kinder missbrauchen. Oder um die erwähnte evangelikal anmutende Sekte, die sich von der Welt abschottet, um nach ihren eigenen strengen und unmenschlichen Regeln zu leben. Oder um eine Familie von Preppern, die sich auf den Untergang der Gesellschaft vorbereiten. Oder um ein Attentat auf ein Dorffest, dem mehrere Menschen zum Opfer fallen. 

Liest man die Romane kurz hintereinander, fällt einem auf, dass die Verbrechen gleichsam von den Schlagzeilen der Tageszeitungen in die Erzählungen kopiert wurden, und sich der allwissende Erzähler wenig für die Ursachen der Taten interessiert. Wichtiger ist ihm, dass sich die Täter mit ihren Beziehungen und ihrer gesellschaftlichen wie ökonomischen Macht gegen die Ermittlungen abzuschotten versuchen. Gegen sie hat es Sörensen als doppelter Außenseiter, den es von außen in diese Provinzwelt verschlug und der sich nichts aus dem macht, was klassisches Dorfleben auszeichnet, äußerst schwer, um am Ende dann doch klassisch zu obsiegen. Aus dem beschriebenen Zusammenstoß der Kulturen erwächst die Energie, die den kriminalistischen Stoff vorwärtstreibt und trotz einiger klassischer Irrtümer und Fehldeutungen als retardierende Momente am Ende zur Aufklärung führt. Dass der allwissende Erzähler – ähnlich wie Sörensen – skeptisch auf die Provinz blickt und diese oft böse kommentiert, führt spätestens im vierten Roman zu einer gewissen Ermüdung.

Davon sind die beiden Filme frei, da sie viel von der Dorfwelt einfach nur zeigen, wenn etwa mehrfach dokumentarische Aufnahmen von Hausfassaden oder leerstehenden Einkaufsläden hintereinander geschnitten werden, oder ein durch eine Flutschutzmauer zerschnittener Ortsteil immer wieder neu erfasst wird, statt diese besonderen Ansichten noch zusätzlich durch Anmerkungen des allwissenden Erzählers zu kommentieren. Da die Filme auf diese Erzählerfigur verzichten, vermeiden sie die störenden Dopplungen der Romane. Zudem gewinnen die Nebenfiguren, die in den Romanen nur angedeutet werden, in den Filmen dank einer exzellenter Besetzung – in „Sörensen hat Angst“ etwa Peter Kurth und Matthias Brandt und in „Sörensen fängt Feuer“ Lina Beckmann, Godehard Giese und Joachim Meyerhoff – an Profil. 

Beide Filme scheuen vor Dunkelheit nicht zurück, in die weite Teile der Dorfstraßen getaucht sind. Die provinzielle Welt wird zudem in überraschend vielen Drehorten erfasst und erscheint so in einer gewissen Vielgestaltigkeit. Der Postkatenkitsch, der den deutschen Regionalkrimis von ARD und ZDF sonst eigen ist, fehlt hier vollkommen. Die Geschichten der Filme werden durch harte Schnitte immer wieder vorwärtsgetrieben. Konventionelle Bildauflösungen wie die Darstellung von Gesprächen nach dem Prinzip „Schuss-Gegenschuss“ sind eher selten. Mitunter werden diese sogar ironisiert, wenn etwa in „Sörensen hat Angst“ ein Gespräch von Sörensen mit einem Nachbar, das über eine Hecke hinweg stattfindet, so aufgenommen wird, dass der jeweilige Gesprächspartner immer mal wieder hinter dem grünen Gestrüpp unsichtbar wird. 

Solche Irritationen der Wahrnehmung haben selbstverständlich auch etwas mit der psychischen Krise zu tun, in der Sörensen steckt. Doch solche Übertragungen der Innenwelt des Protagonisten auf die Darstellung der Außenwelt bleiben dezent, statt die Erzählung zu dominieren. Die leise Komik der Filme entsteht vor allem durch die leerlaufenden Dialoge, in denen sich der Aberwitz bürokratischer Floskeln und der Werbesprache zeigt.   

Literarische Pointen wie etwa jene, dass der Erzähler in „Sörensen sieht Land“ eine Figur bis über den Tod hinaus aus dessen Innensicht schildert, hat Bjarne Mädel als Regisseur in eigenständige filmische Ideen verwandelt. So vollzieht sich die Rekonstruktion des Tathergangs in „Sörensen fängt Feuer“ als eine Art Theaterstück, das sich auf einer kargen dunklen Bühne mit wenigen Lichtpunkten abspielt. Der Verfremdungseffekt legt offen, dass die Nacherzählung der Tat nie diese selbst ist, sondern stets eine Interpretation, die um viele Informationen bereinigt ist. 

Die Vielfalt der filmischen Einfälle, der lakonische Dialogwitz, die Härte der Gewalt, die über die Dorfgemeinschaft und Sörensen hereinbricht, starke Schauspielerleistungen sowie ungewöhnliche Ansichten der friesischen Provinz sorgen dafür, dass beide Sörensen-Filme zu den besten TV-Produktionen ihres jeweiligen Jahrgangs gehören. „Sörensen hat Angst“ erhielt denn auch 2021 und 2022 zahlreiche Preise – vollkommen zurecht. Jede Wette: „Sören fängt Feuer“ wird es ähnlich ergehen. 

In den Romanen verbringt Sörensen seine Freizeit unter anderem damit, dass er auf Netflix Serien schaut. Komisch, dass das in den ARD-Fernsehfilmen fehlt. Aber: Im Fernsehen wird ja nur äußerst selten ferngesehen. Diese Feststellung könnte Sörensen gefallen. 

Dietrich Leders Kolumne bei uns:

Folge 1: Zur Tatort-Kommissarin Martina Bönisch (Anja Schudt)
Folge 2: „Der Kommissar“ – Mehr Retro ist kaum vorstellbar
Folge 3: Aus dem Streaming-Dschungel
Folge 4: Der Tod der Kommissarinnen
Folge 5: Erzählkonventionen
Folge 6: Die Erzählfäden von Michael Connelly
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Crime im TV (13): Der Tatort als Polithriller?
Crime im TV (14): Kommissar Van der Valk 
Crime im TV (15): Wie ein faules Ei dem anderen: Plots wie mit KI
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Über abgründiges Erzählen: George Perec und das Gift das Originals, und in dieser und der vorletzten Ausgabe sein großer Essay „Proust übersetzen“ (Teil I und Teil II).

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