
Der Fernsehkrimi im deutschen Fernsehen boomt. Ungezählt all die Verbrechen, die jeden Tag auf dem und für den Bildschirm begangen und die fast ausnahmslos in maximal 89 Minuten aufgeklärt werden. Dietrich Leder, der viele Jahre für die „Medienkorrespondenz“ über das Fernsehen schrieb, ehe dieses zweiwöchentliche Periodikum im Dezember 2021 eingestellt wurde, nimmt sich jeden Monat eine Erscheinung des laufenden Krimi-Programms vor und seziert, wie es die Darsteller der Pathologinnen und Pathologen in den Serien versprechen.

Folge 8: Ein neues Fernsehzeitalter
Das Fernsehbild (im Format 4:3 und in Farbe) zeigt unmittelbar, nachdem der Vorspann der Serie ein Ende fand, in einer Nahaufnahme einen schweren Radio-Kassettenrekorder, der auf einer Fensterbank steht. Im Anschnitt ist der Arm eines Mannes zu sehen, der ein rotes T-Shirt trägt. Die linke Hand drückt die Play-Taste und startet eine Kassette. Während die Kamera langsam leicht nach rechts und vor allem nach oben schwenkt, ertönt die Musik: „Leaders of the Pack“ von den The Shangri-Las. Die Kamera erfasst nun hinter der Fensterscheibe eine Industrielandschaft. Sie bleibt aber unscharf, die Schärfe liegt auf dem Mann, dessen schnauzbärtiges Gesicht nun zu erkennen ist. Der Titel des Films und die Namen der Drehbuchautoren, des Regisseurs werden eingeblendet.
Die Kamera fährt zurück, während sich der Mann, den man auf Mitte dreißig schätzen könnte und der über einen sportlich ausgebildeten Oberkörper verfügt, nach einem Blick in die Industrielandschaft sich abwendet und die von einer Neonröhre beleuchtete Küche betritt, in der sich dreckiges Geschirr stapelt und leere Bierflaschen herumstehen. Der Mann sucht – das wird rasch deutlich – nach etwas Essbarem. Er findet zwei Eier, die er sich mangels Alternativen in ein Glas schlägt und dann in einem Rutsch herunterschluckt. Anschließend verzieht er die Miene; geschmeckt hat es ihm offensichtlich nicht.
Er sammelt leere Bierflaschen erst in der Küche, dann im Wohnzimmer ein, von dem man dank der engen Kameraführung nur einen Stapel Bücher auf einer Anrichte, Bilder an der Wand (ein Gemälde, eine Schwarz-Weiß-Photographie) und einen Lautsprecher mehr erahnt als sieht. Die Plastiktüte in der Hand zieht sich der Mann einen blauen Pullover über den Kopf. Um in die Ärmel zu finden, muss er die Plastiktüte von der linken in die rechte Hand wechseln. Die freie Hand greift nach einer grauen Jacke. Er geht nach rechts durch eine Tür. Noch ehe er durch sie verschwunden ist, endet die Plansequenz und mit ihr die Musik.
Die folgende Einstellung zeigt eine Straße mit Wohnhäusern, die auf eine Flußbrücke im Hintergrund zuläuft. Es ist hell, aber die Neonreklame einer Gaststätte ist erleuchtet. In der Mitte der Straße, an deren Seiten Autos parken, liegen zerbrochene Möbel und ein Pappkarton. Links vor der Gaststätte steht eine Gruppe von Frauen und Männern auf dem Bürgersteig. Sie schauen nach rechts oben hoch. Man hört, dass jemand etwas ruft. Aber das bleibt unverständlich. In der nächsten Einstellung geht der Mann aus der Plansequenz, er hat sich mittlerweile die graue (oder beige) Jacke angezogen, auf eine Gesangsgruppe der Heilsarmee zu, die zu den Menschen gehört, die vor der Gaststätte stehen. Als der Mann die Gaststätte betreten will, weist ihn jemand mit den Worten „Der schon wieder“ daraufhin, was im gegenüberliegenden Haus geschieht. Es schließt sich eine Nahaufnahme an, die in einer Untersicht ein geöffnetes Fenster dieses Wohnhauses zeigt. Jemand wuchtet ein schweres Röhren-Fernsehgerät auf den Rahmen, um es auf die Straße zu werfen.
Nach dem Schnitt schreit der Mann in der grauen Jacke nach oben schauend: „Du Idiot! Hör auf mit der Scheiße!“ Doch der, den er da anschreit, hält, das sieht man nach dem Rücksprung des Bildes, nicht inne, sondern wirft erst recht mit den Worten „Scheiß-Fernsehen! Taugt sowie so nichts!“ den Kasten aus dem Fenster. Nach einem weiteren Schnitt sieht man, wie der Apparat auf dem Boden aufprallt und in viele Einzelteile zerfällt.
Zugegeben, der Fernsehfilm, der so beginnt, ist alt, was man nicht nur am Format erkennen kann, sondern vor allem an den Medienapparaturen (und nicht etwa an der Kleidung oder an der Sprache). Kassettenrekorder und Röhren-Fernsehgeräte entstammen der vor-digitalen Zeit. Aber der Film, der am 28. Juni 1981 so beginnt, eröffnete ein neues Fernsehzeitalter. Es handelt sich um die ersten Einstellungen aus jener „Tatort“-Folge „Duisburg-Ruhrort“, mit der ein gewissser Horst Schimanski als Kriminalhauptkommissar etabliert wurde. Regie führte Hajo Gies. Das Drehbuch verfassten Horst Vocks und Thomas Wittenburg. Produziert wurde der Film von Bernd Schwamm für die Bavaria. Und der Mann mit dem markanten Schnäuzer und dem gut ausgebildeten Oberkörper ist Götz George, der damals 42 Jahre alt ist.

Ein neues Fernsehzeitalter eröffnete dieser Fernsehkrimi aus mehreren Gründen. Nur einer kann hier erwähnt werden: Mit Schimanski agierte zum ersten Mal ein eher körperlich handelnder Kommissar auf der Fernsehbühne. Dass der Schauspieler Götz George die rohen Eier tatsächlich verspeist, was in der Plansequenz auch nicht anders zu drehen war, dass er seinen Oberkörper beiläufig zur Schau stellt, während im Popsong zum Gesang der Frauen-Band das Geräusch eines schweren Motorrads hinzugemischt wird, dass ihm Kleidung so wenig wichtig ist wie eine kleinbürgerliche Ordnung, das zeigt allein die erste Einstellung. Schimanski war für das an noch an Normen und Werten orientiere Fernsehprogramm des öffentlich-rechtliche Fernsehen eine Provokation.
Die Plansequenz ist mehrfach beschrieben und bildet auch den Ausgangspunkt eines Buches, das unter dem Titel „Schimanski machen“ die „Erfindung und Etablierung einer erfolgreichen Serienfigur“ – so der Untertitel – untersucht. Verfasst haben das Buch Gabriele Mehling, Axel Block, Michael Hild und Bernd Schwamm. Schon diese Angabe deutet die Perspektive an, aus der das Buch verfasst wurden. Denn Schwamm war, wie gesagt, Produzent dieses ersten Schimanski-Films. Axel Block war für dessen Bildgestaltung verantwortlich und sorgte also auch für die wunderbare Plansequenz, in der allein das Tageslicht und die Neonröhre für ein tendenziell dunkles Bild sorgten. Michael Hild war in der Bavaria unter anderem für die Serie „Der Fahnder“ verantwortlich, die ab 1979 im ARD-Vorabendprogramm einen anderen Ton im Krimieinerlei anschlug. Es sind also in der Hauptsache Beteiligte selbst, die sich zur Sache äußern. Und so besteht der Band aus vielen Interviews, die von ihnen mit weiteren Beteiligten auf Autoren-, Regie- und Produktionsseite geführt wurden.
Sie verbindet zudem, dass sie alle an der Hochschule für Fernsehen und Film in München (HFF) studierten. Dort arbeitete von 1998 bis 2006 zunächst als wissenschaftliche Mitarbeiterin und dann als Lehrbeauftragte die Vierte im Bunde, Gabriele Mehling. Und so kann man das Ganze auch als eine Art von Selbstfeier bezeichnen, zu der die Absolventen und die Mitarbeiterin der HFF hier angetreten sind. Es sind sicher nicht die interessantesten Passagen, in denen sich hier eine Generation von Filmstudenten im Rückblick ihrer verblichenen Jugend erinnert. Hier fehlen die Widersprüche und gegenläufigen Erzählungen, etwa derjenigen, die es nicht in die Bavaria zog oder die es nicht schafften, von dieser Produktionsfirma, die ja mehrheitlich damals wie heute öffentlich-rechtlichen Sendern gehört, beschäftigt zu werden.
Spannender sind die vielen – durchaus auch widersprüchlichen – Erinnerungen an die Entstehung der Schimanski-Figur. Wer wusste beispielsweise, dass den Produzenten als eine Art Blaupause die Kriminalromane von Janwillem van der Wetering vorschwebten, die ab 1975 in den Niederlanden erschienen und nur kurz darauf bereits auf Deutsch in der rororo-Krimireihe (und damit als preiswerte Taschenbücher) veröffentlicht wurden. Im ersten Augenblick leuchtet das nicht ein, sind die Krimis von Janwillem van der Wetering anders als fast alle Schimanski-Filme kontemplativ erzählt, können beispielsweise Reflexionen zur Frage von Schuld enthalten und sich in Beschreibung von Wannenbädern und Katzenfütterungen ergehen. Doch auf dem zweiten Blick ist das durchaus plausibel. Denn die beiden Kommissare bei van der Wetering sind ebenfalls wie Schimanski und sein Partner Thanner (Eberhard Feik) als einander widersprechende Charaktere angelegt. Gleichzeitig sind sie, was die Handlung und die Ermittlungen angeht, fast gleichberechtigt. Und ähnlich wie bei van der Wetering sorgt in den Schimanski-Filmen ein väterlicher Vorgesetzte für Momente des Innehaltens; Ulrich Matschoss spielt diesen Krimininalrat Königsberg.

Spannend auch die Darstellung der Suche nach der Besetzung der Hauptfigur. So war aus heutiger Sicht überraschenderweise eine Zeit lang Eberhard Feik als Schimanski vorgesehen, ehe dann Ilse Hoffmann, sie dreht den zweiten Schimanski-Film mit dem Titel „Grenzgänger“, Götz George vorschlug. Wer Feik die Rolle nicht zutraut, schaue sich „Duisburg-Ruhrort“ noch einmal zur Gänze an. Denn in der überraschendsten Szene des Films werden die Pole, die Schimanski und Thanner als Widerspruchscharaktere kennzeichnen, für einen Moment getauscht. Es ist auf einem Male Thanner, der Schimanski aus der Bedrohung durch eine Rockergang mit einer Form von geradezu tänzerischer Gewalt befreit, und eben nicht umgekehrt. In dieser Szene zeigt sich, dass Eberhard Feik durchaus zu einem auch körperlichen Spiel in der Lage war, was in späteren „Tatort“-Folgen hinter den Anzügen, die er seiner Rolle als Thanner gemäß zu tragen hatte, verschwand.
Erwähnenswert auch, dass sich im Buch zum ersten Mal auch der Drehbuchautor Horst Vocks zu Wort kommt, der mit Thomas Wittenburg nicht nur diese erste, sondern auch weitere Folgen schrieb. Der Name ist ein Pseudonym. Viele Jahre blieb ein Geheimnis, dass sich hinter ihm Horst Söhnlein verbirgt, der mit Gudrun Ensslin, Andreas Baader und Thorwald Proll 1968 aus politischen Gründen Brandsätze in zwei Frankfurter Kaufhäuser legte. Nach der Verurteilung saß Söhnlein seine Strafe ab, während Ensslin und Baader in die Illegalität abtauchten und wenig später die terroristische Rote-Armee-Fraktion (RAF) gründeten. Thorwald Proll wandte sich in diesem Moment von den beiden ab, wurde Schriftsteller und gründete in Hamburg eine wunderbare Buchhandlung. Horst Söhnlein wiederum änderte seinen Namen in Vocks, studierte an der Hochschule für Bildende Künste in Hamburg und begann Drehbücher zu schreiben.

Der Skandal um den ersten Schimanski-Film, die das Buch rekonstruiert, wäre um ein Beträchtliches größer gewesen, wäre etwa Bild die Identität eines der beiden Drehbuchautoren bekannt gewesen. Vielleicht ist das Beste am 480 Seiten umfassenden Buch, dass es Lust weckt, viele der alten Schimanski-Filme wiederzusehen. Der WDR hat vor zwei Jahren eine Reihe von ihnen neu digitalisieren lassen, so dass man sie sich in guter visueller Qualität in der Mediathek der ARD anschauen kann.
Im Buch wird die Eingangsszene ebenfalls (und ein wenig anders) beschrieben. Die Beschreibung bricht aber nach der Plansequenz ab, verpasst so den durchaus selbstironischen Moment, dass zum Start einer neuen Fernsehfigur nicht nur laut ein damals noch skandalöses „Scheiße“ gerufen wird, sondern eben ein Apparat, auf dem eben diese Figur ja erscheinen sollte, aus dem Fenster geworfen und damit zerstört wird, und dieser Wurf mit dem Satz, dass das Fernsehen nichts tauge, begründet wird. Der Film dementiert in den dann folgenden Minuten diese seine Neben-Figur.
Buchhinweis: Gabriele Mehling/Axel Block/Michael Hild/Bernd Schwamm: Schimanski machen. Erfindung und Etablierung einer erfolgreichen Serienfigur. edition text + kritik, München 2022. 480 Seiten, 39 Euro.