Geschrieben am 1. Juni 2023 von für Crimemag, CrimeMag Juni 2023

Dietrich Leder seziert Crime im TV (14): Van der Valk

Der Fernsehkrimi im deutschen Fernsehen boomt. Ungezählt all die Verbrechen, die jeden Tag auf dem und für den Bildschirm begangen und die fast ausnahmslos in maximal 89 Minuten aufgeklärt werden. Dietrich Leder, der viele Jahre für die „Medienkorrespondenz“ über das Fernsehen schrieb, ehe dieses zweiwöchentliche Periodikum im Dezember 2021 eingestellt wurde, nimmt sich jeden Monat eine Erscheinung des laufenden Krimi-Programms vor und seziert, wie es die Darsteller der Pathologinnen und Pathologen in den Serien versprechen. 

Folge 14: Kommissar Van der Valk – und seine literarische Vorlage

Im Mai 2023 zeigte das Erste Programm am späteren Abend die dritte Staffel der Krimiserie um den holländischen Kommissar Van der Valk mit drei Folgen und stellte zugleich auch die anderen sechs Folgen der ersten beiden Staffeln in die Mediathek. Wer will, kann sich also einen guten Überblick über diese holländisch-britisch-deutsche Produktion verschaffen, die im Reihentitel an eine der wichtigsten Polizeiromanserien der 1960- und 1970er-Jahre erinnert. 

Der Brite Nicholas Freeling, der viele Jahre in den Niederlanden und in Frankreich verbracht hatte, veröffentlichte 1962 den ersten Roman dieser Reihe, der einige Jahre später auch ins Deutsche übersetzt wurde. Erst Rowohlt, dann vor allem Ullstein und später Goldmann nahmen sich der Kriminalromane an, die damals üblich nur in preiswerten Taschenbuchausgaben veröffentlicht wurden. Insgesamt neun Van der Valk-Romane erschienen bis ins Jahr 1972, die bald zunehmend rascher ins Deutsche übertragen wurden. Im letzten unter dem Titel „A Long Silence“ (deutsch: „Van der Valk muss schweigen“) erschienen Roman wird er – etwa in der Hälfte des Textes – erschossen; andere übernehmen die Aufklärung. Zu ihnen gehört seine aus Frankreich stammende Witwe, die in drei weiteren Romanen Verbrechen aufklärte. Durch seine Ehe mit Arlette hatte sich zuvor sein Horizont erweitert; anders als Maigret agierte Van der Valk auch im Ausland wie selbstverständlich. Er war so etwas wie der erste Polizeikommissar mit europäischem Bewusstsein.

Piet van der Valk ähnelt als Kommissar, der zunächst in Amsterdam, später auch anderswo ermittelte, noch am stärksten jenem Kollegen Maigret aus Paris, den Georges Simenon in 75 Romanen und vielen Erzählungen in Paris und anderswo ermitteln ließ. Er agiert weniger körperlich als vielmehr intuitiv. Er kennt die holländische Gesellschaft und vor allem die Amsterdamer Bourgeoisie gut, lässt sich aber nicht korrumpieren, selbst wenn Vorgesetzte Druck auf ihn ausüben. Gleichzeitig kennt er sich den Straßen der größten Stadt der Niederlande gut aus. Er ist eher ein intellektueller Einzelgänger, denn ein Mitglied eines Teams. In dem erwähnten Roman „Van der Valk muss schweigen“ schreibt er gar an einer Dissertation, in der er auch über Kriminalromane und Unterschiede zwischen denen urteilt, in denen Polizisten die Hauptrolle spielen, und jenen, in denen Privatdetektive agieren. Der Berufspolizist „ist Teil einer schwerfälligen Maschinerie, ein Rädchen, das für andere Rädchen weder Interesse noch Verständnis aufbringt“. Damit definiert sich die Figur selbst besser, als es eine Leserin oder ein Leser könnte. Van der Valk handelt denn mitunter eher als Privatdetektiv denn als Staatsangestellter.

Der Erfolg der Romane führte zu ersten Verfilmungen. An ihren ersten war der Westdeutscher Rundfunk (WDR) beteiligt, so dass zwei dieser Fernsehfilme von deutschen Regisseuren inszeniert wurden: So führte bei „Van der Valk und die Reichen“ der junge  Wolfgang Petersen die Regie, der nach seinem Abschluss an der Deutschen Film- und Fernsehakademie bereits einige Folgen der ARD-Reihe „Tatort“ realisiert hatte. (Um mit einem Missverständnis aufzuräumen, das eher mit männlichen Sexualfantasien denn mit filmischer Qualität zu tun hat, unter den Petersen „Tatort“-Folgen ist „Reifenzeugnis“ ist eindeutig nicht die beste.) „Van der Valk und die Mädchen“ wurde 1972 von Peter Zadek inszeniert, der damals nicht nur einer der wichtigsten Regisseure für das Theater, sondern auch für das Fernsehen war. Eine Wiederentdeckung von Zadek als Film- und Fernsehregisseure stünde an!

Die Filme dieser ersten Verfilmungen der Romane um Van der Valk hielten sich noch eng an die Textvorlagen. Das änderte sich mit einer nächsten Reihe an Fernsehfilmen, die den Namen Van der Valk benutzten. Sie entstanden ein wenig später als die Produktionen, an denen der WDR noch maßgeblich beteiligt waren. In ihnen spielte Barry Foster die Hauptrolle. Mit Freelings Romanen hatten sie wenig gemein. Mit ihnen verband sie nur die Idee, Amsterdam als eine Großstadt des Verbrechens zu imaginieren, was vielleicht das Interesse der DDR, in deren Fernsehen diese Serie als erstes in Deutschland lief, erklärt. Ähnliches gilt für die 2020 gestartete Reihe, in der Marc Warren die Rolle des Van der Valk übernahm und an der sich die ARD über die Degeto beteiligte. 

Hier ist der Titelheld kein eher introvertierter Mann, geschweige denn, dass er verheiratet ist oder Kinder hat. Warren legt ihn als einen Helden an, der bei aller Introspektion auch körperlich agiert. Er stellte sich dem Publikum in der ersten Folge denn auch gleich mit einer Verfolgungsjagd auf dem Fahrrad vor. Er ist Einzelgänger, den man als beziehungsunfähig bezeichnen könnte. Sein Umgang mit seinen Kolleginnen und Kollegen ist eher ruppig. Nur eine Vorsetzte und eine Kollegin wissen, wie sie mit ihm umzugehen haben. Die Kriminalfälle, in denen er zu ermitteln hat, sind vielfältig und vor allem an möglichst obskuren Verbrechen interessiert. Die lassen sich visuell spannend entwickeln, so dass es die Zuschauerinnen und Zuschauer erschaudern mag, wenn sie visuell und akustische Bereiche gelangen, die ihnen fremd erscheinen und die doch viel mit ihrem Träumen zu tun haben. Manche von ihnen haben mit aktuellen Themen wie etwa der Restitution von Kunstschätzen zu tun, ohne sie aber wirklich ernst nehmen. 

Besser schon, dass das Team der Ermittler für eine gesellschaftliche, kulturelle und sexuelle Vielfalt steht, die hier gar nicht im Detail der redaktionellen Konstruktion nachbeschrieben sei. Das sorgt für (auch erotische) Abwechslung wie für manche Pointe, wenn die von manchen Figuren beschworene Zauberwelt von der Figur des Van der Valk ironisch und zugleich filmisch ernstgenommen wird, was an den Beginn des Erzählkinos bei Georges Méliès erinnerte, der ja als erster die Tricks der Bühnenzauberei auf den Film übertrug. Bleibt der Gedanke, Nicholas Freeling neu und wieder zu lesen.  

Dietrich Leders Kolumne bei uns:

Folge 1: Zur Tatort-Kommissarin Martina Bönisch (Anja Schudt)
Folge 2: „Der Kommissar“ – Mehr Retro ist kaum vorstellbar
Folge 3: Aus dem Streaming-Dschungel
Folge 4: Der Tod der Kommissarinnen
Folge 5: Erzählkonventionen
Folge 6: Die Erzählfäden von Michael Connelly
Crime im TV (7): „We Own This City“
Crime im TV (8): „Schimanski“ machen
Crime im TV (9): Zur Serie „Berlin Babylon“ und zu den Romanen von Volker Kutscher
Crime im TV (10): Retro im „Tatort“
Crime im TV (11): Friedrich Dürrenmatt
Crime im TV (12): Influencer als Thema im Fernsehkrimi
Crime im TV (13): Der Tatort als Polithriller?

Über abgründiges Erzählen: George Perec und das Gift das Originals, und in dieser und der vorletzten Ausgabe sein großer Essay „Proust übersetzen“ (Teil I und Teil II).

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