
Der Fernsehkrimi im deutschen Fernsehen boomt. Ungezählt all die Verbrechen, die jeden Tag auf dem und für den Bildschirm begangen und die fast ausnahmslos in maximal 89 Minuten aufgeklärt werden. Dietrich Leder, der viele Jahre für die „Medienkorrespondenz“ über das Fernsehen schrieb, ehe dieses zweiwöchentliche Periodikum im Dezember 2021 eingestellt wurde, nimmt sich jeden Monat eine Erscheinung des laufenden Krimi-Programms vor und seziert, wie es die Darsteller der Pathologinnen und Pathologen in den Serien versprechen.
Wie der Zufall so spielt. Kaum hatte ich hier etwas über historische Kriminalhörspiele geschrieben, die ich über Podcasts 2022 hörte, und dabei dummerweise gesagt, ich sollte angesichts eines Hörspiels nach einem Dürrenmatt-Texte mal wieder die Kriminalromane dieses Schweizers Schriftstellers lesen, zeigte Arte die Verfilmung eines dieser Romane: „Es geschah am hellichten Tag“. Er ist noch bis zum 8. März über die Arte-Mediathek anzuschauen.

Ich sah mir also den Film nach vielen Jahren noch einmal an, und las den Dürrenmatt-Roman „Das Versprechen“, nach dem er laut Vorspann gedreht sein soll. Doch sie unterschieden sich gewaltig.
Die Recherche brachte hervor, was die Erinnerung verdrängt hatte. Der erwähnte Kinofilm, den Ladislao Vajda inszeniert hatte, beruhte auf einem Drehbuch, das der Produzent Lazar Wechsler, der für die CCC-Film in Berlin arbeitete, bei Friedrich Dürrenmatt in Auftrag gegeben hatte. Heinz Rühmann übernahm die Hauptrolle des Kriminalisten Dr. Matthai, der grandiose Michel Simon war als Hausierer zu sehen, Gerd Fröbe als Mörder kleiner Mädchen und Siegrid Lowitz als weiterer Kommissar.
Dürrenmatt hatte zuvor bereits einen ersten Kriminalroman geschrieben, der erfolgreich medial weiterverarbeitet wurde. „Der Richter und sein Henker“ erschien zuerst 1950/51 als Fortsetzungsroman, dann 1952 in einer Buchausgabe. Der Roman wurde 1957 vom Süddeutschen Rundfunk für das ARD-Fernsehen verfilmt – nach einem Drehbuch, an dem Dürrenmatt neben Hans Gottschalk und Franz Peter Wirth mitschrieben. Gottschalk war der Produzent des Films und Wirth sein Regisseur. Manche bezeichnen diese Schwarz-Weiß-Produktion als ersten deutschen Fernsehfilm, weil er anders als die damals üblichen Fernsehspiele nicht auf einem Theaterstoff basierte und nicht ausschließlich in einem Studio, sondern auch in Außenaufnahmen realisiert wurde. Den Film brachte Studio Hamburg Enterprises 2016 in der DVD-Reihe „Straßenfeger“ heraus. Dieser Reihentitel trifft die Sachlage bei diesem Film selbstverständlich nicht, gab es doch bei dessen Erstausstrahlung gerade einmal erst 681.000 Fernsehgeräte in der Bundesrepublik. Die DVD ist mittlerweile vergriffen und nur noch gebraucht erhältlich. Das gilt auch die DVD- und Bluray-Ausgabe des Remakes, das Maximilian Schell 1974 in Deutschland in Englisch realisierte.
Dürrenmatt wollte und musste mit seinen Kriminalromanen Geld verdienen, um „mich und meine Familie durchzubringen“, wie er selbst sagte Literarisch strebte er nach anderem und, wie er sicher meinte, höherem. Bekannt und vor allem literarisch akzeptiert wurde er dann dank seiner Theaterstücke wie „Der Besuch der alten Dame“ und „Die Physiker“, denen neben ihrem schwarzen Humor auch stets etwas Pädagogisches anhaftet, wie sie über den Verlauf der Geschichte und die Machtverhältnisse der Welt aufklären.
Der Erfolg von „Der Richter und sein Henker“ trug ihm nicht nur den Auftrag zu einer Fortsetzung ein, die unter dem Titel „Der Verdacht“ erst ebenfalls als Fortsetzungsroman, dann als Buch erschien. Diese finstere Geschichte um einen KZ-Arzt, der nach dem Krieg unter anderem Namen in der Schweiz Karriere macht, bot sich anscheinend nicht zur medialen Vermarktung an. Erst im Jahr 2000 kam es zu einer eindrücklichen Hörspielfassung (Regie: Manfred Minxner) des Schweizer Radios, die eine Zeit lang im Krimi-Podcast des SRF zu hören war.
1957 „bestellte“ dann Wechsler eine „Filmerzählung“ bei Dürrenmatt. So bezeichnet der Autor selbst den Vorgang in einem „Nachwort für die erste Buchausgabe von 1958“, das auch späteren Ausgaben beigegeben wurde. Als Roman trägt „Das Versprechen“ den Untertitel „Requiem auf den Kriminalroman“, was andeutet, dass es sich nicht einfach um eine literarische Variante des Filmdrehbuchs handelt. Dürrenmatt dachte für den Roman den Plot des Films, den er mit Ausnahme des Titels in diesem Nachwort nicht kritisiert, weiter: „Aus einem bestimmten Fall wurde der Fall eines Detektives, eine Kritik an einer der typischsten Gestalten des neunzehnten Jahrhunderts (…).“ Die Mantelerzählung, die im Roman den Plot umgibt, ist also als eine Reflexion des Genres zu verstehen, dessen sich Dürrenmatt mehrfach und nun zu einem letzten Mal bediente.
Diese Mantelerzählung verändert an einem entscheidenden Punkt die Binnenerzählung und also den Plot des Rühmann-Films, der so geht: Als ein Hausierer in einem Waldstück die Leiche eines ermordeten Mädchens findet, ruft er den ihm bekannten Kommissar Dr. Matthäi zu Hilfe. Die Gemeinschaft des Dorfs, in dem das Mädchen lebte, hält ihn für den Mörder. Ähnlich geht es dem Vertreter von Matthäi, der den Hausierer beim Verhör so massiv unter Druck setzt, dass dieser sich im Gefängnis das Leben nimmt. Matthäi hatte der Mutter der Ermordeten das titelgebende Versprechen abgegeben, den Täter zu finden. Mit seinem Zweifel an der Schuld des Hausierers dringt er bei seinen Kollegen nicht durch. So verzichtet er auf eine lange geplante Auslandstätigkeit, nimmt die folgende Kündigung durch den Kommandanten der Polizei in kauf und zieht sich als Betreiber einer Tankstelle in eine Gegend zurück, in der nicht nur dieser, sondern auch zwei weitere Morde an kleinen Mädchen geschahen.
Matthäi verpflichtet eine junge Frau als Haushälterin, die ein Mädchen im Alter der Ermordeten allein erzieht. Dieses Mädchen dient ihm als Lockvogel für den Mörder, der im Film nach 48 Minuten eingeführt wird. Wie der Täter sein Opfer umkreist und es mit Tricks wie dem Spiel mit einer Kasperle-Puppe und mit dem Geschenk einer besonders geformten Trüffelschokolade für sich gewinnen sucht, wie der Kommissar diesem Täter auf die Spur kommt, wie die Falle, in der eine Puppe das Mädchen ersetzt, zuschnappt und wie am Ende der Täter erschossen wird, bestimmt den zweiten Teil des Films. An dessen Ende beruhigt der Kommissar das verwirrte Mädchen dadurch, dass er vor ihr mit der Kasperlepuppe spielt. Der Film endet versöhnlich und also mit einem Happyend.
Gegen dieses Happyend polemisiert in der Rahmenerzählung des Romans der Kommandant des Kommissars. Er hatte zu Beginn des Romans in einer Schweizer Provinzstadt einen Kriminalschriftsteller getroffen, der als Ich-Erzähler der Rahmenhandlung fungiert, die zudem mit manchen Jokes auf den Schweizer Literaturbetrieb und einigen bösen Kommentaren zur schweizerischen Provinz angereichert ist. Diesem Schriftsteller berichtet der Kommandant nun, was sich wirklich zutrug. Die Falle schnappte nämlich nicht zu, der Kommissar (der im Roman schweizerisch ein „Kommissär“ ist) wird über dieses Scheitern zum Alkoholiker, der in der Gegenwart der Rahmenerzählung immer noch an seiner Tankstelle hockt und auf den Täter wartet. Der Grund, weshalb die Falle nicht zuschnappt, wird dem Kommandanten erst Jahre später bekannt, als er von einem Priester an das Sterbebett einer sehr alten und sehr reichen Frau gerufen wird. Deren zweiter Ehemann, den sie aus rein pragmatischen Gründen geheiratet hat, hatte als Serientriebtäter die kleinen Mädchen ermordet. Sie wusste von seinen Taten, hatte sie aber wegen ihres gesellschaftlichen Rufes nicht angezeigt. Am Tag, als ihr Mann zu seiner nächsten Tat aufbrach, sei er bei einem Verkehrsunfall tödlich verunglückt. Eine „reichlich schäbige Pointe“, dass sie „in keinem anständigen Roman oder Film“ zu verwenden ist, sagt der Kommandant dem Schriftsteller.

Die zweite deutsche Verfilmung des Stoffs wurde ebenfalls unter dem Titel „Es geschah am hellichten Tag“ 1998 von Sat1 ausgestrahlt. Sie folgt weitgehend dem Plot des Kinofilms. Im Vorspann heißt es denn auch, dass Bernd Eichinger und Uwe Wilhelm das Skript „nach dem Drehbuch von Friedrich Dürrenmatt“ verfassten. Produziert wurde der Film von der Constantin für eine Reihe, die Eichinger entwickelt hatte und die den pompösen Titel „German Classics“ trug. Es entstanden so insgesamt vier Remakes von Kinofilmen der 1950er-Jahre. Die Produktionsfirma Constantin wie der Sender Sat1 gehörten damals zum Konzern von Leo Kirch. Eichinger selbst inszenierte „Das Mädchen Rosemarie“ nach dem gleichnamigen Film von Rolf Thiele (1958), Sönke Wortmann nahm sich „Charleys Tante“ vor und Urs Egger „Die Halbstarken“. Die Regie bei „Es geschah am hellichten Tag“ übernahm Nico Hofmann. Es sollte sein vorletzter eigener Film sein; danach arbeitete er bis heute nur noch als Produzent für die UFA, die zum Bertelsmann-Konzern gehört, der wiederum viele Jahre der größte Konkurrent des 2002 insolvent gehenden Kirch-Imperiums gewesen war.
Unter den vier Remakes war der Film von Hoffmann sicher der Beste. Bei ihm spielt Joachim Król den Kommissar, Heino Ferch den Hausierer und Axel Milberg den Täter. Auch in den Nebenrollen ist der Film gut besetzt – Martin Lüttge als Kommandant, Monica Bleibtreu als Mutter des zu Beginn ermordeten Mädchens und Barbara Rudnik als Mutter des Kindes, das als Lockvogel fungiert. Die Geschichte war in die Gegenwart und von der Schweiz in die süddeutsche Provinz verlagert worden. Auf die ohnehin umständliche Geschichte der Auslandstätigkeit des Matthäi wurde verzichtet. Und wegen der Besetzung ist der Kommissar deutlich junger; Rühmann war Mitte 50, Król gerade mal 40 Jahre alt, als sie ihn spielten. Die Figuren von Król und Rudnik kommen sich deutlich näher als die in der ersten Verfilmung.
Es wird auch mehr getrunken, geschwitzt, geschrien. Und das Blut leuchtet in einem intensiven Rot, während es im Schwarz-Weiß-Film von 1958 kaum angedeutet war. Alles ist in ein grelles, fast unwirkliches Licht getaucht. Dramaturgisch ist das Remake nach den Regeln des Fernsehens durchgetaktet, dass man nach der Exposition, der ersten Zuspitzung und der Peripetie die Uhr stellen könnte. Und der Konflikt unter den Kriminalbeamten wird nun als einer mit der vorgesetzten Behörde eines Landeskriminalamtes ausgegeben. Anders als im Kinofilm ist das Ende nicht ganz so versöhnlich. Zwar wird der Täter auch hier erschossen, aber die Figur von Barbara Rudnik nimmt dem Kommissar das Unternehmen, ihr Kind als Lockvogel zu benutzen, übel und trennt sich und ihr Kind von ihm.
Der 2001 realisierte Kinofilm „Das Versprechen“ (Originaltitel „The Pledge“) von Sean Penn, als DVD weiter erhältlich, übernimmt das unversöhnliche Ende vom Roman, auf dessen Mantelgeschichte er aber verzichtet. Der Krimimalbeamte, der mittels eines Lockvogels den Serientäter fassen will, ist hier noch einmal älter als im Film von 1957. Jack Nicholson spielt ihn in einer seiner besseren unter den späten Rollen. Angesichts des Alters des Schauspielers von 64 Jahren ist plausibel, dass die von ihm gespielte Figur zu Beginn aus Altersgründen aus dem Dienst scheidet. Seine Lockvogelfalle funktioniert aber nicht, weil der Täter wie im Roman bei einem Autounfall auf dem Weg zur Tat stirbt. Das erfahren aber nur die Zuschauerinnen und Zuschauer des Films durch eine Parallelmontage und durch einen Zoom auf eine Art Talisman, der den Täter verrät. Der Ex-Polizist erfährt es nicht. Und so wartet er am Ende des Films, so heruntergekommen wie der Ex-Kommissär des Romans, immer noch an seiner Tankstelle,
Es ist spannend zu vergleichen, wie unterschiedlich einzelne Szenen und Figuren in den Filmen angelegt sind. Die Verortung in einem verschneiten und streng religiösen Nevada erscheint dank vieler szenischer Erfindungen ungleich gelungener als das stets nach Kulisse riechende Schweizer Dorf der CCC-Produktion oder die süddeutsche Provinz der Constantin mit ihren Rockern und ihrer Fronleichnam-Prozession. Der Hausierer (Benicio Del Toro) muss sich im Film von Penn dramatisch vor der Kamera in den Kopf schießen, während in den anderen beiden Filmen nur die Nachricht des Suizids vermeldet wird. Diesen Hausierer spielt Heino Ferch bei Hofmann äußerst outriert, während ihn Michel Simon im Film von 1957 zurückhaltend anlegt. Robin Wright Penn – noch vor ihrer Rolle in „House of Cards“ – ist stärker eine Außenseiterin als Barbara Rudnik bei Hofmann. Gerd Fröbe bei Vajda verkörpert als Täter mit seiner wuchtigen Gestalt, die sich in einem schwarzen Mantel verbirgt, vom ersten Auftritt an das Böse, während Axel Milberg bei Hofmann schon einigen mimischen Aufwand treibt, um als Triebtäter zu erscheinen. Bei Penn bleibt der Täter ein in der Unschärfe bleibender Schemen, also ein Geist, der nur den Opfern konkret als Person erscheint, aber nicht allen anderen.
Bei Rühmann wirkt die Suche nach dem Täter und die Konstruktion der Falle wie eine objektive Notwendigkeit, mit welcher der Kriminalist die objektive Wahrheit ans Tageslicht bringen kann; er erscheint also eher als Simenons Maigret, den er später dann auch mal spielte. Bei Król kommt als Motiv die Diskriminierung durch den Beamten des LKA hinzu, dem er es nun zeigen will; sein Matthäi mutiert also zu einer deutschen Serienkrimi-Figur. Bei Jack Nicholson schimmert eine gewisse Obsession durch, mit der er den Täter so ködert wie die Fische im Fluss, nach denen er angelt; der Schauspieler gemeindet die Figur also in die Filmwelt vieler Nicholson-Figuren ein.
Das Versprechen, das dem Roman und dem Film von Penn den Titel gab, bleibt in allen drei Filmen eine reine Behauptung. Ähnlich wie die Bestimmung, die Dürrenmatt-Romane seien philosophische Krimis. Die Rahmenerzählung des Romans „Das Versprechen“ ist denn auch eher als ironische Variante mit vielen zeitkritischen Kommentaren auf die Schweiz interessant denn als Requiem auf den Kriminalroman. Der Kriminalroman starb nur bei und für Dürrenmatt.
Dietrich Leders Kolumne bei uns:
Folge 1: Zur Tatort-Kommissarin Martina Bönisch (Anja Schudt)
Folge 2: „Der Kommissar“ – Mehr Retro ist kaum vorstellbar
Folge 3: Aus dem Streaming-Dschungel
Folge 4: Der Tod der Kommissarinnen
Folge 5: Erzählkonventionen
Folge 6: Die Erzählfäden von Michael Connelly
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Crime im TV (9): Zur Serie „Berlin Babylon“ und zu den Romanen von Volker Kutscher
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Über abgründiges Erzählen: George Perec und das Gift das Originals, und in dieser und der vorletzten Ausgabe sein großer Essay „Proust übersetzen“ (Teil I und Teil II).