
Der Fernsehkrimi im deutschen Fernsehen boomt. Ungezählt all die Verbrechen, die jeden Tag auf dem und für den Bildschirm begangen und die fast ausnahmslos in maximal 89 Minuten aufgeklärt werden. Dietrich Leder, der viele Jahre für die „Medienkorrespondenz“ über das Fernsehen schrieb, ehe dieses zweiwöchentliche Periodikum im Dezember 2021 eingestellt wurde, wird sich jeden Monat eine Erscheinung des laufenden Krimi-Programms vornehmen und so sezieren, wie es die Darsteller der Pathologinnen und Pathologen in den Serien versprechen.
Folge 2: „Der Kommissar“ – Mehr Retro ist kaum vorstellbar
Zuerst war da die Idee, in einen der Serien-Krimis, die das Zweiten Deutschen Fernsehen (ZDF) freitags um 20.15 Uhr ausstrahlt, hineinzuschauen. Es handelt sich um den ältesten Serientermin des deutschen Fernsehens. Gedacht, getan. Doch angesichts eines holprigen Beginns einer routinierten Folge einer sichtlich ermüdeten Serie, deren Name hier bewusst verschwiegen sei, wurde klar, dass erst einmal die Geschichte dieses Sendeplatzes im ZDF, das im April 1963 seinen Sendebetrieb aufgenommen hatte, zu rekapitulieren wäre, ehe die Gegenwart zu kritisieren sei. Auf diesem Sendeplatz startete am 3. Januar 1969 die in München angesiedelte Polizei-Serie „Der Kommissar“, die so sehr für Aufmerksamkeit sorgte, dass man im WDR überlegte, wie das Erste Programm dem kontern könne. Aus Überlegungen, die Günter Rohrbach, damals WDR-Fernsehspielchef, anstieß, entwickelte der Redakteur Gunter Witte die Idee einer Krimi-Reihe, die bewusst föderal angelegt sein sollte. Ihr Name: „Tatort“.
Der Grund für die föderale Erzählstruktur lag zum einen an den Eifersüchteleien der ARD-Anstalten untereinander. Eine Krimireihe, für die allein der WDR viele Plätze zur besten Sendezeit für sich beansprucht hätte, wäre nicht durchzusetzen gewesen. Zum anderen daran, dass die Polizei in Deutschland mit dem Rundfunk mindestens eines gemeinsam hat: Beide sind föderal strukturiert. Das ZDF wiederum brauchte viele Jahre, bis sie weitere Polizeiermittler in anderen Bundesländern denn in Bayern auf die Jagd nach Mördern schickte. Vor allem nach der Wiedervereinigung, als sich das ZDF als „nationale Anstalt“ verkaufte, nahmen die Postkartenkrimis zu, in denen die Leichen stets an besonderen Schauplätzen abgelegt wurden. München verlor so das Monopol auf den Serienkrimi. Die bayerische Landeshauptstadt war von den Mainzern Redakteuren nicht zuletzt deshalb lange bevorzugt wordem, weil hier viele Produktionsfirmen angesiedelt waren, denen sich der Sender verbunden zeigt; viele von ihnen gehörten zum Imperium des 2002 zusammengebrochenen Konzerns von Leo Kirch.

„Der Kommissar“ wurde von Helmut Ringelmann für seine Neue Münchner Fernsehproduktion entwickelt. Autor aller 97 einstündigen Folgen war Herbert Reinecker, der seine Karriere als Propagandist der Nazis begonnen hatte. Hauptdarsteller war Erik Ode, der vor dem Krieg seine Schauspielerkarriere startete, während des Kriegs die Wehrmachtstruppen unterhielt und in der jungen Bundesrepublik viele Musikfilme für das Kino inszenierte. Dem Kommissar wurden drei jüngere Kollegen (Günther Schramm, Reinhard Glemnitz und Fritz Wepper) und eine Sekretärin (Helma Seitz), die nur mit dem Nachnamen Rehbein gerufen wurde, zur Seite gestellt. Es ging stets um die Aufklärung eines Mordes, der sich meist vor dem Vorspann ereignete.
Das ZDF hat die Folgen regelmäßig wiederholt. Zunächst im Hauptprogramm, später dann auf 3sat. Als Mitte der 1990er-Jahre wegen der privaten Senderkonkurrenz die Werbeeinnahmen wegbrachen, garantierten die Wiederholungen alter Serien am frühen Abend eine große Zuschauerzahl bei geringen Kosten. Das führte zu der heutigen Krimistruktur des Mainzer Senders, die fast das gesamte Wochenprogramm dominiert. Selbst der klassische Fernsehfilmplatz am Montag wird seit Jahren mit kriminalistischen Reihen und Einzelfilmen gefüllt.
In seiner Mediathek hat das ZDF seit einiger Zeit eine Sparte eingerichtet, die sich „Retro-Serien und -Filme“ nennt. Die „Kommissar“-Folgen, in denen die Telefone noch eine Wählscheine, die Protagonistinnen in Frauen und Fräuleins unterschieden werden, und der Dienstwagen ein klassischer Volkswagen ist, passen dort bestens hin. Mehr Retro ist kaum vorstellbar.

Dort finden sich derzeit 11 Folgen von „Der Kommissar“, darunter auch die erste mit dem Titel „Toter Herr im Regen“, die Wolfgang Becker inszenierte, der bei der Ufa einst Filmschnitt lernte und in den 1950er-Jahren zum Regiehandwerk wechselte. (Er darf nicht mit dem Regisseur gleichen Namens verwechselt werden, der durch Filme wie „Schmetterlinge“ und „Good Bye, Lenin“ bekannt wurde.)
„Toter Herr im Regen“ wurde auf Schwarz-Weiß-Material und im Format 4:3 gedreht. Dem verdankt die Startfolge starke Kontraste etwa in den Nacht- und Regenszenen sowie markante Großaufnahmen. Diese werden vor allem dann eingesetzt werden, wenn es um wichtige Sätze der Figuren geht. Sie ähneln so einem Ausrufezeichen, mit denen die Regie Aufmerksamkeit erheischen will. Ohnehin ist hier fast alles den Dialogen untergeordnet. Einmal dirigiert der Satz, mit dem der Kommissar seinen Untergebenen den entscheidenden Schuss erklärt, sogar die Kamerabewegung. Sie schwenkt in einer subjektiven Einstellung zu den Worten „Ziehen wir mal die Linie – vom Auto über die Mordstelle direkt auf das Haus!“ mit dem Arm, der die Linie andeutet mit.
In den Dialogen wird alles erklärt: Das Soziale, denn der Mord ereignet sich in einem Viertel, „wo man nur mit dem Beil aus dem Fenster schauen kann“ – so der Kommissar zu seiner Frau (Rosemarie Fendel), von der er sagt, sie sei dumm, aber lieb. Das Gesellschaftliche, denn eine Prostituierte wird umständlich als eine „Dame, die registriert ist“, bezeichnet. Und die Polizeiarbeit, denn der Kommissar erklärt einem Verdächtigen, dass dieser nicht so schnell in Untersuchungshaft käme, da das ihm und seinen Kollegen einige bürokratische Arbeit abverlange. Gleich zwei Mal wird ausgesprochen, was die Aufgabe der Krimimalbeamten sei. Auf die Nachricht des Todes reagieren die Befragten mit der Frage: „Von wem denn erschossen?“, worauf der Kommissar oder einer seiner Helfer antwortet: „Das wissen wir noch nicht.“ Womit die Erzähllogik ausgesprochen wird: Im „Kommissar“ geht es um die Suche nach dem Täter, der in dieser Folge sogar klassisch am Ende in einer Versammlung aller verdächtigen Personen überführt wird.
Gelegentlich gewinnen die Bilder eine eigene Bedeutung, wenn etwa der neue Reichtum des jugendlichen Erben gezeigt werden soll, dann darf sich die Kamera für die Hollywoodschaukel, den tragbaren Schallplattenapparat – „recht gewagt – diese Musik“, so der Kommissar -, den Swimmingpool und für das knappe Beinkleid einer jungen Frau interessieren. Bildentdeckungen, wenn sie denn für die Handlung relevant sind, werden aber sicherheitshalber von Dialogen abgestützt. In einer Wohnung, in der eine Tatverdächtige mit ihrer Mutter, einer Witwe, lebt, erkennt man, während der Kommissar dort ein Telefongespräch annimmt, hinter ihm das Porträt eines Mannes in der Uniform eines Wehrmachtsoffiziers. Damit die Bedeutung dieses Bildes auch ja begriffen wird, muss Erik Ode vor ihm stehenbleiben, es demonstrativ betrachten und dann nachfolgend zur Sprache bringen.
Diese Überdeutlichkeit scheint von Nöten, da dieses Bild einen Hinweis auf den geistigen Zusammenhang liefern soll, aus dem heraus der Mord geschah. Denn dieser erfolgte aus einem hier behaupteten „Ehrgefühl“, dem sich die Offizierskaste verpflichtet fühle und das ansonsten in der Gegenwarts-Gesellschaft flöten gegangen sei. Man könnte diese jähe und überraschende Wendung am Ende dieser Folge als Kritik an der Wehrmacht deuten, die sich ja massiv an den Verbrechen von Nazi-Deutschland beteiligt hatte und Träger des mörderischen Eroberungskriegs in Europa war. Es klingt aber bei genauem Betrachten eher nach einer Kritik, wie sie einst die Nazis selbst an den überkommenen Strukturen des deutschen Militärs übten. Das Mordopfer jedenfalls ist ein Emporkömmling des Wirtschaftswunders, der gleichermaßen „ironisch und zynisch“ mit seinen Mitmenschen umging. Ironie ist dem Kommissar ebenso fremd wie dem Autor, der ihn erfand.

Fr 06.02.1970, ZDF
Verglichen mit dieser Startfolge ist die mit dem Titel „Tod einer Zeugin“, die ebenfalls in der Mediathek abgerufen werden kann, nahezu avantgardistisch. Inszeniert hat sie Zbynek Brynych, den Dominik Graf angelegentlich öffentlich lobte (etwa im Text „Ein wundersamer fröhlicher tschechischer Herr“). Ein Film, der die eigene Logik von Raum und Zeit spielerisch zerlegt, der Schauspielern wie Götz George Raum und Zeit für wilde Manierismen lässt, der mit fröhlichen Zooms, die auf nichts besonderes hinweisen, spielt.
Dietrich Leder, in Köln lebender Publizist, wirkte von 1994 bis 2021 als Professor für den Fächerbereich Fernsehen/Film an die Kunsthochschule für Medien (KHM) in Köln. Schon während seines Studiums wurde er im Bereich Medienkritik und -analyse aktiv, schrieb dann viele Jahre für Tageszeitungen („Kölner Stadt-Anzeiger“, „Süddeutsche Zeitung“) und Wochenzeitungen („Die Woche“, „Freitag“), für Fachdienste („Funkkorrespondenz“, „Filmdienst“) und Fachzeitschriften („Medium“, „Agenda“, „Sportkritik“), für Hörfunk (WDR, Radio Bremen) und Fernsehen (WDR). 1977 gründete er die medientheoretische Zeitschrift „Zelluloid“, die er Jahre hindurch redaktionell betreute. Er ist Autor mehrerer Dokumentarfilme, so „Blindgänger“ (1984, zusammen mit Fosco Dubini), „Kanalarbeiter“ (1988), „Vom Bekenntnis zum Widerruf“ (1993) und „Jagd nach Sensationen“ (1993). Er war Jurymitglied der Duisburger Filmwoche und gehörte mehrfach der Jury des Adolf-Grimme-Preises an.
Folge 1: Zur Tatort-Kommissarin Martina Bönisch (Anja Schudt)