
Der Fernsehkrimi im deutschen Fernsehen boomt. Ungezählt all die Verbrechen, die jeden Tag auf dem und für den Bildschirm begangen und die fast ausnahmslos in maximal 89 Minuten aufgeklärt werden. Dietrich Leder, der viele Jahre für die „Medienkorrespondenz“ über das Fernsehen schrieb, ehe dieses zweiwöchentliche Periodikum im Dezember 2021 eingestellt wurde, nimmt sich jeden Monat eine Erscheinung des laufenden Krimi-Programms vor und seziert, wie es die Darsteller der Pathologinnen und Pathologen in den Serien versprechen.

Folge 6: Die Erzählfäden von Michael Connelly
In einer der zehn Folgen der US-Serie „The Lincoln Lawyer“, die seit Mai auf Netflix zu sehen ist, erinnert sich die Hauptfigur Mickey Haller (Manuel Garcia-Rulfo) an seinen Vater, der in den 1970er-Jahren ebenfalls als Strafverteidiger in Los Angeles tätig war. In dieser Erinnerungsszene tritt der Vater aus einem Gerichtssaal und wird von Journalisten umringt. Einen, von dem die Rede ist, er schreibe für die Los Angeles Times, spricht er mit Namen an. Er nennt ihn Connelly.
In einer der zehn Folgen der US-Serie „Bosch: Legacy“, die auf dem neuen und kostenfreien, da durch Werbeunterbrechungen finanzierte Streaming-Kanal Freevee seit August angeschaut werden kann, erinnert sich die Hauptfigur, der nun mehr als Privatdetektiv arbeitende Ex-Polizist Hieronymus „Harry“ Bosch (Titus Welliver) daran, wie er in den 1970er-Jahren zum ersten Mal seinen leiblichen Vater aufsucht, denn er bislang nicht kannte, da er nach dem Tod der Mutter in einem Kinderheim aufwuchs. Vater und Sohn haben sich nicht viel zu sagen. Als Bosch geht, sieht er im Garten einen kleinen Jungen; es ist sein Halbbruder, von dem er bislang noch nichts wusste.

Zwei Serien, zwei Erinnerungsszenen, die aber enger zusammenhängen, als man auf Anhieb annimmt. Denn die beiden Väter sind ein- und dieselbe Person, auch wenn sie in den beiden Serien von verschiedenen und zudem vom Typus her sehr unterschiedlichen Schauspielern verkörpert werden. Beim Halbbruder, den Bosch in der einen Serie zum ersten Mal sieht, handelt es sich zudem um die Hauptfigur der anderen Serie, Mickey Haller.
Dieser verwirrende Zusammenhang erklärt sich daraus, dass die Romanvorlagen beider Serie von ein und demselben Autor stammen: Michael Connelly, der mit hoher Wahrscheinlichkeit mit jenem Journalisten identisch ist, der in der erwähnten Szene von „The Lincoln Lawyer“ den Vater von Haller befragt. Connelly arbeitete, bevor er 1992 seinen ersten Roman „Black Echo“ veröffentlichte, als Reporter der Los Angeles Times, der sich vor allem um Verbrechen in der Stadt kümmerte. Hauptfigur dieses ersten von heute 37 Romanen war der Detektiv Bosch, der als Mordermittler arbeitet.

Nach elf Romanen mit Bosch (und drei weiteren mit oder um den FBI-Profiler Jack McEvoy) veröffentlichte Connelly 2005 einen ersten Roman, in dem der Strafverteidiger Haller im Mittelpunkt steht. Der Roman heißt so wie nun die von David E. Kelly, einem Spezialisten für Anwaltsserien (u.a. „Ally McBeal“, „Boston Legal“, „Goliath“), konzipierte Serie: „The Lincoln Lawyer“ (dt. „Der Mandant“). Der Titel erklärt sich daraus, dass Haller im Roman über kein separates Büro verfügt, sondern seiner Arbeit vom Auto – eben einem Lincoln Town Car – aus nachgeht. In der Fernsehserie hat man davon Abstand genommen; ein Auto als Handlungsort ist drehtechnisch schwerer zu handhaben als ein klassisches Büro, in das Haller denn auch in der ersten Folge einzieht, als er die Kanzlei und vor allem die Fälle eines Kollegen erbt, der zu Beginn umgebracht worden war. Auch wenn die Serie den Titel des ersten Romans trägt, entstammt ihr Hauptplot dem zweiten um Haller mit dem Titel „The Brass Verdict“ (auf deutsch hieß er „So wahr uns Gott helfe“).
Dass Haller ein Halbbruder von Bosch ist, stellte sich erst im Lauf der Romane heraus. Ein Erzähltrick, der Connelly erlaubte, dass beide gelegentlich aufeinandertreffen und sogar zusammenarbeiten. Dieses Verfahren erinnert an die großen Romanzyklen des 19. Jahrhunderts von Balzac oder Zola, in denen einzelne Figuren mal in Haupt-, mal in Nebenrollen, mal als Randerscheinungen vorkommen, die sich begegnen oder kennen oder eben auch nicht kennen. In seinen besten Momenten halten Connellys Romane so etwas wie die Gesellschaftsgeschichte von Los Angeles und der USA fest, wenn etwa – aus der Sicht weißer Männer des Mittelstands – die rassistischen Übergriffe der Polizei, die Traumatisierung der Vietnam-Veteranen, die Immobilienkrise nach dem Platzen der Kreditblasen, die Diskriminierung von Frauen im Polizeiapparat und dortige sexuelle Übergriffe, die Opioid-Sucht, die politischen Kämpfe um die Posten von Staatsanwaltschaft und Polizei immer miterzählt werden.

In der Romanvorlage der Haller-Serie ist Bosch als Ermittler beteiligt. In der Serie wird diese Rolle und Funktion von einem anderen Detektiv namens Griggs übernommen, den Ntare Mwine mit minimalistischen Mitteln und mit einer wunderbaren Reibeisenstimme (im Original) darstellt. Dass Bosch in der Netflix-Serie nicht mitwirkt, hat seinen einfachen Grund darin, dass er von 2014 bis 2021 eine der wichtigsten Figuren des Streamingangebots von Amazon Prime war. In insgesamt sieben Staffeln klärte er in „Bosch“ Fälle auf, die Connelly vorher in seinen Romanen ausgebreitet hatte. Die Serie hatte Eric Overmyer entwickelt. Connelly selbst war als Koproduzent und stellenweise auch als Drehbuchautor beteiligt, so wie er es in „The Lincoln Lawyer“ und „Bosch: Legacy“ ebenfalls ist.

Viele seiner Romane lesen sich ohnehin in ihrer Spannungskonstruktion (vulgo: Dramaturgie) bereits wie Filmvorlagen. Dass Connelly das bewusst so angelegt hat, kann man auch daran erkennen, dass Bosch in seinem ersten Roman Besitzer eines Hauses über den Dächern von Los Angeles ist, das er mit dem Geld erwarb, das er als Detektiv für die Persönlichkeitsrechte eines Falles erhielt, der zu einem Spielfilm verarbeitet wurde. Dieses Haus war wiederum so sehr ein Kennzeichen der sieben Staffeln von „Bosch“, dass die Leser es in deren Beschreibung der frühen Beschreibung erkennen, ehe die Locations-Scout es für die Serie fanden.
„Bosch: Legacy“ schreibt „Bosch“ fort. Die neue Serie, die Overmyer mit Connelly entwickelte, soll den neuen Streamingdienst Freevee anschieben. Da in Deutschland dessen Werbebuchungen noch karg ausfallen – derzeit gibt es nur Spots der Telekom und Autopromotion – unterbrechen viele Schwarzstellen den filmischen Fortlauf, an denen in den USA vermutlich schon Werbespots sitzen. Über sie kann man ja schnell mit der Fernbedienung hinweghuschen. „Bosch: Legacy“ will aber auch etwas Neues, denn hier spielt Boschs Tochter Maddie (Madison Lintz) eine wichtige Rolle, die eine Ausbildung als Polizistin durchläuft. Leider erinnern ihre Erzählpassagen sehr den Geschichten, wie sie die Serie „The Rookie“ – die dritte Staffel derzeit auf ZDFneo – erzählen. Ihre Erfahrungen werden zu wenig mit denen von Bosch rückgekoppelt, wie auch der Strang um die Anwältin Honey Chandler (Mimi Rogers) zu wenig Autonomie besitzt. Fatal auch, dass die Serie das Ende des Hauptplots durch eine professionelle Killerin, die wie ein Transfer aus einem Videospiel anmutet, mit einem absurden Showdown aufputscht.
Ähnlich absurd ist die Schlusseinstellung von „The Lincoln Lawyer“, in der sich ein Mann am Surfer-Strand von Los Angeles ins Bild schiebt, dessen Unterarmtätowierung darauf hinweist, dass es sich um einen gesuchten Serienmörder handelt, der also, wenn es denn eine nächste Staffel geben wird, in dieser eine gewichtige Rolle spielen wird. Bei solchen Szenen weiß man nie, ob sie von den Produzenten gewollt sind, die so dem jeweiligen Auftraggeber, ob Sender oder Streamer, signalisieren, dass es unbedingt weitergehen soll, oder ob es die Auftraggeber hineinschreiben lassen, um die Abonnentinnen und Abonnenten bei der kostenpflichtigen Stange zu halten.

Michael Connelly hat längst eine neue Serienfigur erfunden: Renée Ballard, die als Detektiv an der Seite von Bosch ermittelt. Dieser Tage erschien der dritte Roman unter dem Titel „Glutnacht“ auf Deutsch. (In den USA gibt es längst einen vierten Band mit dem Titel „The Dark Hours“.) An diesem vorletzten Roman kann man gut studieren, wie das Schreiben für die Serien auf das Verfassen der Romane zurückwirkt: In „Glutnacht“ taucht beispielsweise wie am Ende von „Bosch: Legacy“ eine Profi-Killerin auf, ohne dass diese Figur überzeugender als in der Serie erschiene. Connelly gesteht diese Rückwirkung der Schreibvorgänge ein, denn dem Roman ist folgende Widmung vorangeschrieben: „Für Titus Welliver, der Harry Bosch Leben eingehaucht hat. Halt die Ohren steif.“
In Deutschland hat der Kampa-Verlag nach Heyne und später Droemer die Rechte von Connelly übernommen, was dazu führt, dass viele seiner alten Romane vergriffen sind; sie werden erst allmählich vom neuen Verlag wieder aufgelegt. Markttechnisch ist das von Kampa nicht allzu clever, wenn etwa der Roman, dessen Plot die Serie „The Lincoln Lawyer“ erzählt, nicht erhältlich ist.
Dietrich Leder, in Köln lebender Publizist, wirkte von 1994 bis 2021 als Professor für den Fächerbereich Fernsehen/Film an die Kunsthochschule für Medien (KHM) in Köln. Schon während seines Studiums wurde er im Bereich Medienkritik und -analyse aktiv, schrieb dann viele Jahre für Tageszeitungen („Kölner Stadt-Anzeiger“, „Süddeutsche Zeitung“) und Wochenzeitungen („Die Woche“, „Freitag“), für Fachdienste („Funkkorrespondenz“, „Filmdienst“) und Fachzeitschriften („Medium“, „Agenda“, „Sportkritik“), für Hörfunk (WDR, Radio Bremen) und Fernsehen (WDR). 1977 gründete er die medientheoretische Zeitschrift „Zelluloid“, die er Jahre hindurch redaktionell betreute. Er ist Autor mehrerer Dokumentarfilme, so „Blindgänger“ (1984, zusammen mit Fosco Dubini), „Kanalarbeiter“ (1988), „Vom Bekenntnis zum Widerruf“ (1993) und „Jagd nach Sensationen“ (1993). Er war Jurymitglied der Duisburger Filmwoche und gehörte mehrfach der Jury des Adolf-Grimme-Preises an.
Folge 1: Zur Tatort-Kommissarin Martina Bönisch (Anja Schudt)
Folge 2: „Der Kommissar“ – Mehr Retro ist kaum vorstellbar
Folge 3: Aus dem Streaming-Dschungel
Folge 4: Der Tod der Kommissarinnen
Folge 5: Erzählkonventionen