
Der Fernsehkrimi im deutschen Fernsehen boomt. Ungezählt all die Verbrechen, die jeden Tag auf dem und für den Bildschirm begangen und die fast ausnahmslos in maximal 89 Minuten aufgeklärt werden. Dietrich Leder, der viele Jahre für die „Medienkorrespondenz“ über das Fernsehen schrieb, ehe dieses zweiwöchentliche Periodikum im Dezember 2021 eingestellt wurde, wird sich jeden Monat eine Erscheinung des laufenden Krimi-Programms vornehmen und so sezieren, wie es die Darsteller der Pathologinnen und Pathologen in den Serien versprechen.
Folge 4: Der Tod der Kommissarinnen
Jetzt ist schon wieder das passiert, womit bereits am 20. Februar eine andere „Tatort“-Folge endete: Auch im „Tatort: Das Mädchen, das allein nach Haus‘ geht“ (ARD/RBB, 22. Mai 2022; in der Mediathek hier), zu dem Günter Schütter das Drehbuch schrieb und den Ngo The Chau inszenierte, stirbt am Ende die ermittelnde Kommissarin Nina Rubin an einer Schussverletzung. Ihr Tod ist die Konsequenz der Tatsache, dass die sie darstellende Schauspielerin Meret Becker aus der in der Berlin angesiedelten „Tatort“-Variante nach 15 Folgen aussteigen wollte. Aus einem ähnlichen Grund musste ja schon die von Anja Schudt gespielte Kollegin Martina Bönisch in der Dortmunder Variante des WDR sterben. Zweimal das selbe Problem, zweimal die selbe Lösung.

Von Einfallsreichtum oder geschweige denn Koordination innerhalb der ARD-Redaktionen, die den „Tatort“ produzieren, zeugt das nicht, zudem die Hinleitung zu den Szenen, in denen die tödlichen Schüsse fallen, von notwendigen Zufällen nur so strotzen. In „Das Mädchen, das allein nach Haus‘ geht“ muss nicht nur eine russische Mafiabande über Verbündete auf dem neuen und im Film schon alt aussehenden Berliner Flughafen verfügen und sogar einen Polizisten dergestalt gut bezahlen, dass der auf seine Kollegin schießt, sondern eben diese muss umständlich ihre Schussweste erst aus- und dann ihrer bedrohten Kronzeugin anlegen, damit sie im Showdown auf dem Flugfeld tödlich getroffen werden kann.
Aber problematischer als diese deutlich bemühte Konstruktion eines produktionstechnisch notwendigen Tods ist die Situation, in der sich die Berliner Kommissarin in dieser ihrer letzten Folge befindet. Denn sie hat sich in die erwähnte Kronzeugin verliebt und durchlebt seit einem nächtlichen Flirt einen Gefühlstaumel. Es ist, als sei ihr ein anderes Leben und Lieben möglich. Und prompt wird sie erschossen. Ähnliches galt ja schon für den Dortmund-„Tatort“: Dort waren die Gefühle, die Martina Bönisch für ihren Kollegen Faber besaß, stetig angewachsen, dass einer Liebesbeziehung beider nur durch den Tod abgeholfen werden konnte. Dass die Liebe der beiden Kommissarinnen einmal einem Mann (und Kollegen) und einmal einer Frau (und Kronzeugin) galt, ist dabei weniger wichtig, als dass die durch Liebe provozierten Exaltationen so zu Vorboten eines frühen Todes wurden. Und vor allem dass es beides Mal Frauen sind, die diesen Tod erleiden.
Fernseh-Kommissare, deren Schauspieler den Dienst in der wichtigsten ARD-Serie quittieren. scheiden deutlich friedvoller aus dem Dienst. Sie werden pensioniert oder geben den Dienst freiwillig auf wie jüngst im Januar Alexander Buckow (Charly Hübner) im „Polizeiruf 110“ aus Rostock. Der dramatische Tod ist in deutschen Krimi-Serien also Kommissarinnen vorbehalten, die sich zudem zuvor stark verliebt haben müssen. Als reichte ein normaler Tod nicht aus.
Dietrich Leder, in Köln lebender Publizist, wirkte von 1994 bis 2021 als Professor für den Fächerbereich Fernsehen/Film an die Kunsthochschule für Medien (KHM) in Köln. Schon während seines Studiums wurde er im Bereich Medienkritik und -analyse aktiv, schrieb dann viele Jahre für Tageszeitungen („Kölner Stadt-Anzeiger“, „Süddeutsche Zeitung“) und Wochenzeitungen („Die Woche“, „Freitag“), für Fachdienste („Funkkorrespondenz“, „Filmdienst“) und Fachzeitschriften („Medium“, „Agenda“, „Sportkritik“), für Hörfunk (WDR, Radio Bremen) und Fernsehen (WDR). 1977 gründete er die medientheoretische Zeitschrift „Zelluloid“, die er Jahre hindurch redaktionell betreute. Er ist Autor mehrerer Dokumentarfilme, so „Blindgänger“ (1984, zusammen mit Fosco Dubini), „Kanalarbeiter“ (1988), „Vom Bekenntnis zum Widerruf“ (1993) und „Jagd nach Sensationen“ (1993). Er war Jurymitglied der Duisburger Filmwoche und gehörte mehrfach der Jury des Adolf-Grimme-Preises an.
Folge 1: Zur Tatort-Kommissarin Martina Bönisch (Anja Schudt)
Folge 2: „Der Kommissar“ – Mehr Retro ist kaum vorstellbar
Folge 3: Aus dem Streaming-Dschungel