Geschrieben am 1. April 2023 von für Crimemag, CrimeMag April 2023

Dietrich Leder seziert Crime im TV (12): Influencer

Der Fernsehkrimi im deutschen Fernsehen boomt. Ungezählt all die Verbrechen, die jeden Tag auf dem und für den Bildschirm begangen und die fast ausnahmslos in maximal 89 Minuten aufgeklärt werden. Dietrich Leder, der viele Jahre für die „Medienkorrespondenz“ über das Fernsehen schrieb, ehe dieses zweiwöchentliche Periodikum im Dezember 2021 eingestellt wurde, nimmt sich jeden Monat eine Erscheinung des laufenden Krimi-Programms vor und seziert, wie es die Darsteller der Pathologinnen und Pathologen in den Serien versprechen. 

Influencer als Thema im Fernsehkrimi

Die signifikante Überproduktion von Kriminalfilmen und -serien im deutschen Fernsehen – allen voran das ZDF – führt zu einer sinnlosen Vermehrung ähnlicher Themen und Plots. So konnte man im März 2023 innerhalb von 14 Tagen drei zur besten Sendezeit ausgestrahlte Krimi-Folgen bestaunen, in denen es um jene Reklameagenten ging, die sich selbst Influencer nennen und die mittels kleiner Videos eine möglichst große Gemeinde von den Waren überzeugen wollen, für deren anbiedernde Präsentation sie bezahlt werden. Der Reigen begann mit der Folge „In voller Absicht“ der ZDF-Serie „Der Alte“, die am Samstag, den 4. März, um 21.45 Uhr ausgestrahlt wurde, setzte sich am nächsten Tag mit der „Tatort“-Folge „MagicMom“ um 20.15 Uhr fort und endete am Samstag, den 18. März, im ZDF mit der Serie „Wilsberg“ und der Folge „Folge mir“, ebenfalls um 20.15 Uhr. 

Influencerin Valerie Spechter (Ruby O.Fee, l.) nutzt den Medienrummel wegen des Mordes an ihrem Manager zu ihren Gunsten. Hauptkommissar Richard Voss (Jan-Gregor Kremp, M.) und Tom Kupfer (Ludwig Blochberger, r.) versuchen die junge Frau davon abzuhalten, Selfies für ihren Blog zu machen. © ZDF und Erika Hauri

„Der Alte“ ist eine der ältesten Krimi-Serien des deutschen Fernsehens. Sie startete 1977. Damals spielte Siegfried Lowitz die etwas griesgrämige Titelfigur, die eine Mordkommission in München leitet. Er war 100 Folgen aktiv, ehe er im Dienst erschossen wurde. Ihm folgte für viele Jahre Rolf Schimpf, der 2008 in Pension ging. Er wurde von Walter Kreye abgelöst, der schon nach vier Jahren seinen Job los wurde. Seitdem ist Jan-Gregor Kremp für die Aufklärung von Mord und Todschlag in der bayerischen Landeshauptstadt zuständig. Doch auch für ihn naht das Ende, denn die Folge „In voller Absicht“ war eine seiner letzten. Am 24. März nahm Thomas Heinze als der neue „Alte“ in der Folge „Abstiegsangst“ seine Arbeit auf. So jung war der „Alte“ jeden falls noch nie. Wenige Tage zuvor hatte der Schauspieler im RTL-Kriminalfilm „Miss Merkel – Ein Uckermarkkrimi“, in dem Katharina Thalbach als Titelfigur im Stil von Miss Marple einen Mord aufklärte, die Leiche gegeben. 

Da das ZDF-Publikum durchschnittlich eher alt ist und die der angestammten Krimiserien vielleicht noch älter, ging die Redaktion wohl davon aus, dass man das, was gegenwärtig in den sozialen Medien geschieht, erst einmal erklären muss. In dieser Folge hatte Claus Stirzenbecher, der das Drehbuch schrieb, gleich eine ganze Familie aufgeboten, die im Internet und im Fernsehen aktiv ist: Der Vater ist in Quizsendungen Stammgast, die Mutter ist Werbebotschafterin mit eigenem Videokanal und die Tochter befeuert als Influencerin mit ihren Videobotschaften eine wachsende Gemeinde. Damit diese Erklärungen nun nicht vollends aus der zu erzählenden Kriminalgeschichte herausfallen, deklarierte man die Titelfigur für so ahnungslos, dass seine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ihn und somit auch die Zuschauerinnen und Zuschauer über die Aufgaben und Rollenmuster dieser Medienfamilie in braven Dialogsätzen – Regie: Matthias Kiefersauer – aufzuklären haben. 

Zudem sieht man immer wieder, wie die die Familienmitglieder für Kameras aller Art in die Rollen schlüpfen, mit denen sie bekannt wurden und mit denen sie ihr Geld verdienen. Das ist so penetrant, dass irgendjemand verzweifelt ausruft: „Seid endlich doch mal wieder Ihr selbst!“ Was einfacher klingt, als es ist, da diese für ihre sozialen Rollen schauspielernden Menschen ja wiederum von Schauspielern dargestellt werden, die aber mit diesem „selbst“ nicht gemeint sind. 

ARD/WDR TATORT: MAGIC MOM – Boerne (Jan Josef Liefers) und Kommissar Thiel (Axel Prahl) sprechen mit Thekla Cooper (Monika Oschek). Sie war die Nachbarin der Getöteten. © WDR/Bavaria Fiction GmbH/Thomas Kost

Noch älter als „Der Alte“ ist der „Tatort“ (seit 1970), und selbst die Figuren Boerne (Jan Josef Liefers) und Thiel (Axel Prahl), die in der Folge „MagicMom“ aktiv waren, ermitteln schon seit über 20 Jahren als Pathologe und als Kommissar in Münster. Dank der komischen Kabbelei zwischen dem ehrgeizigen und stets gut angezogenen Mediziner und dem gesellschaftlich wenig ambitionierten und etwas schludrig gekleideten Kommissar sind die beiden unter den „Tatort“-Ermittlern nach den Zuschauerzahlen die erfolgreichsten. „MagicMom“ sahen denn auch 14,46 Millionen Zuschauer, was am 5. März einen Marktanteil von über 40 Prozent bedeutete. Das erreicht keine andere Krimiserie. 

Das Problem, den Zuschauerinnen und Zuschauer die Influencer-Welt vorzuführen und zu erklären, haben die Drehbuchautorin Regie Bielefeldt und die Regisseurin Michaela Kezele besser, da filmischer gelöst als ihre Kollegen beim „Alten“. Denn in die Filmhandlung sind Videos integriert, in denen Boerne im Stil eines Influencers Begriffe oder Sachverhalte der gerade verhandelten Kriminalgeschichte erläutert. Er weiß also Bescheid. Auch die Serienfigur Thiel muss nicht aufgeklärt werden, was beispielsweise die titelgebende Influencerin in ihren Videos so trieb. Nur einmal weiß er nicht weiter, als eine Zeugin erklärt, dass ihr Streit mit dem späteren Opfer ein „inszenierter Beef“ gewesen sei. Thiel fragt nach, wie man bitte Rindfleisch inszeniere, um dann aufgeklärt zu werden: „Beef ist Neudeutsch für Ärger!“

„Wilsberg“ Staffel 08, Folge 08: Eine tote Journalistin führt Georg Wilsberg in die Welt der Influencer © ZDF

Die ZDF-Serie „Wilsberg“ spielt ebenfalls seit vielen Jahren, genauer gesagt, seit 1995 in Münster und lebt ebenfalls von einer gewissen Komik, die sich zwischen der Titelfigur, einem als Amateurdetektiv agierenden Antiquar, seinem Buddy, der ihm bei den Ermittlungen hilft, und der leitenden Kommissarin entwickelt. Leonard Lansink spielt seit der zweiten Folge diesen Bücher-Liebhaber, der dann und wann mal sein Wissen in Dialogsätzen preisgibt. (In „Folge mir“ spricht er so über die englische Erstausgabe von Thackerays „Vanity Fair“ und nennt den deutschen Titel „Jahrmarkt der Eitelkeiten“; einmal ist im Hintergrund ein Band des einst bei 2001 erschienenen Reprints der Zeitschrift „Akzente“ zu sehen.) Den Buddy gab zu Anfang Heinrich Schafmeister, eher er durch Oliver Korritke ersetzt wurde, dessen Figur Ekki im Hauptberuf im Finanzamt angestellt ist. Als Kriminalkommissarin ist Rita Russek von Beginn an dabei.

Auch hier wird manches im Dialog erklärt: Eine der Figuren der Folge wird einmal als „Top-Influencerin“ bezeichnet. Ergänzt um den Nachsatz in Richtung von Wilsberg: „Wenn Sie wissen, was ich meine“. Worauf dieser – vermutlich auch im Sinne der Zuschauerinnen und Zuschauer – souverän kontert: „Auch ich bin schon im 21. Jahrhundert angekommen!“ Leider fällt die Figur, die diese Erklärung absondert, schon seit einer Reihe von Folgen aus dem Rahmen der Serie. Es handelt sich um Overbeck (Roland Jankowsky), den leicht begriffsstutzigen Assistenten der Kommissarin, der seit einiger Zeit selbst mit eigenen Videos im Internet herumgeistert, in denen er sich mit Sonnenbrille bewaffnet als supercoolen Verbrechensaufklärer feiert. 

Mehrfach werden in den Dialogen (Drehbuch: Mariann Kaiser) Abkürzungen aus der digitalen Welt wie LARP, FACS oder FNG den anderen Serienfiguren und damit den Zuschauerinnen und Zuschauer erläutert. Das muss der Autorin irgendwann selbst auf den Keks gegangen sein, denn PNG meint in einer komödiantischen Wendung an dieser Stelle nicht das Digitalformat „Portable Network Graphics“, sondern ist hier die Abkürzung des lateinischen Begriffs „Persona non grata“ (Unerwünschte Person). 

Regisseur Martin Enlen lässt den erwähnten Assistenten der Kommissarin bei der Suche nach einer vermissten Person so agieren, als trete dieser in seinen eigenen Videos – also mit Sonnenbrille als Actionheld – auf, was ja bedeutet, dass sich die Figur selbst inszeniert, obgleich doch auch das durch den Regisseur dieser Folge inszeniert wurde. Damit nicht genug: Am Ende inszeniert Enlen dann Wilsberg, der seinen Buddy Ekki für ein Werbevideo des Finanzamtes inszeniert. So viel Inszenierung war selten. 

Jeder, der das sah, wird nun begriffen haben, was Influencerinnen und Influencer so treiben. 

Dietrich Leders Kolumne bei uns:

Folge 1: Zur Tatort-Kommissarin Martina Bönisch (Anja Schudt)
Folge 2: „Der Kommissar“ – Mehr Retro ist kaum vorstellbar
Folge 3: Aus dem Streaming-Dschungel
Folge 4: Der Tod der Kommissarinnen
Folge 5: Erzählkonventionen
Folge 6: Die Erzählfäden von Michael Connelly
Crime im TV (7): „We Own This City“
Crime im TV (8): „Schimanski“ machen
Crime im TV (9): Zur Serie „Berlin Babylon“ und zu den Romanen von Volker Kutscher
Crime im TV (10): Retro im „Tatort“
Crime im IV (11): Friedrich Dürrenmatt

Über abgründiges Erzählen: George Perec und das Gift das Originals, und in dieser und der vorletzten Ausgabe sein großer Essay „Proust übersetzen“ (Teil I und Teil II).