Geschrieben am 2. Mai 2023 von für Crimemag, CrimeMag Mai 2023

Dietrich Leder seziert Crime im TV (13): Politthriller

Der Fernsehkrimi im deutschen Fernsehen boomt. Ungezählt all die Verbrechen, die jeden Tag auf dem und für den Bildschirm begangen und die fast ausnahmslos in maximal 89 Minuten aufgeklärt werden. Dietrich Leder, der viele Jahre für die „Medienkorrespondenz“ über das Fernsehen schrieb, ehe dieses zweiwöchentliche Periodikum im Dezember 2021 eingestellt wurde, nimmt sich jeden Monat eine Erscheinung des laufenden Krimi-Programms vor und seziert, wie es die Darsteller der Pathologinnen und Pathologen in den Serien versprechen. 

Folge 13: Der „Tatort“ als Politthriller

Der Start von Corinna Harfouch als neuer „Tatort“-Kommissarin des RBB an der Seite von Mark Waschke und damit als Nachfolgerin von Meret Becker, deren Figur am Ende der letzten Folge aus Berlin erschossen worden war – siehe auch meine Kolumne „Der Tod der Kommissarinnen“ – erschien vielversprechend. Harfouch ist sicher einer der besten deutschen Schauspielerinnen, deren Auftritte in Krimiserien bislang eher rar waren, sieht man von ihrer Titelrolle „Blond. Eva Blond“ ab, die von 2002 bis 2006 bei Sat1 zu sehen war und dort auch dank der Drehbücher von Sascha Arango für einen überraschenden Qualitätssprung des Programms auf Zeit sorgte. 

Im „Tatort“ startete Corinna Harfouch nun in einer der seltenen Doppelfolgen, die über Ostern 2023 (9./10. April) jeweils um 20.15 Uhr ausgestrahlt wurden. Geschrieben hatten den Zweiteiler, der den Titel „Nichts als die Wahrheit“ trug, Stephan Kolditz und Katja Wenzel. Regie führte Robert Thalheimer. Harfouch spielt die einstige Kriminalbeamtin Susanne Bonard, die seit Jahren an der Polizeiakademie junge Polizistinnen und Polizisten unterrichtet. Sie kehrt in den Polizeidienst und auf den vakanten Posten in der von Waschke geleiteten Mordkommission zurück, als eine ihre ehemaligen Schülerinnen ermordet wird. Die junge Beamtin hatte sich kurz vor ihrem Tod bei Bonard mit einer Telefonnachricht gemeldet. Dass sie nicht direkt antwortete, sorgt bei der Kommissarin für ein schlechtes Gewissen und verstärkt die berufliche Aufklärungsabsicht durch ein gewisses Schuldgefühl. 

Nun steht aber die Aufklärung dieses Mordfalls gar nicht im Mittelpunkt des zweiteiligen Films. Denn in der Hauptsache geht es um rechtsradikales Netzwerk, das sich in der Berliner Polizei gebildet hat, in das auch Teile der Polizeiakademie, an der Bonard unterrichtete, verwickelt ist. Dieses Netzwerk plant ein Attentat auf den frisch gewählten Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts, damit auf dessen Posten seine Stellvertreterin aufrücken kann, die in einem Vortrag vor eben der erwähnten Polizeiakademie Positionen vertritt, wie man sie aus der Wirklichkeit kennt, weil sie heute beispielsweise vom ehemaligen Verfassungsschützer Hans-Georg Maaßen vertreten werden. Die Polizistinnen und Polizisten des Netzwerks tauschen in Chatgruppen zudem rechtsradikale Sottisen aus, wie sie in den letzten Jahren immer wieder aus Polizeikreisen bekannt wurden. 

© Tatort, ARD/ rbb

Dieser „Tatort“ versuchte sich also am Sub-Genre eines in der Gegenwart angesiedelten Politthrillers, in dem sich die Aufklärung eines Mordes zur Verhinderung einer rechtsradikalen Verschwörung gegen eine der tragenden Institutionen des Landes ausweitete. Das hatte erzähltechnisch den Vorteil, dass die klassische, aber halt routinierte Aufklärungsarbeit von Forensik, Zeugenbefragung und Verdächtigen-Überwachung immer stärker zugunsten von Actionszenen, in denen es um die Verhinderung des Attentats geht, in weicht. Die Aufklärung des Mordes, der die Handlung startete, geschah dann schon fast eher nebenbei. 

Zudem deutete sich am Schluss an, dass manches noch in zukünftigen Folgen eine Rolle spielen wird. Jede Wette, dass das Bild, in dem die von Corinna Harfouch gespielte Kommissarin den gerade von der Gewehrkugel getroffenen Verfassungsrichter auffängt, noch oft zu sehen sein wird. Horizontales Erzählen ist ja schwer in Mode, auch wenn dieses bei den weit auseinanderliegenden „Tatort“-Episoden nicht ohne Probleme ist. Wer erinnert sich beispielsweise noch beim jüngsten Dortmunder-„Tatort“ „Love ist Pain“ (23. April) noch an die Ursachen der privaten Probleme der beiden Kollegen von Peter Faber (Jörg Hartmann), die hier minutenlang für retardierende Szenen sorgten? 

Die Absicht von „Nichts als die Wahrheit“ war also hehr, aber leider blieb das, was man dann in zweimal 90 Minuten sah, weit hinter den Ansprüchen zurück. Jeder gute Politthriller besitzt präzise Vorstellungen dessen, wie Politik und Verbrechen miteinander verbunden sind. Ob die Verbrechen auf politischen Intrigen basieren oder Geschäftsinteressen durchsetzen sollen, ist egal. Wichtig ist, dass sowohl Ziel und Zweck der Intrige als auch des Geschäftsmodells evident erscheinen. Man muss also als Zuschauerin, als Zuschauer die Motive nachvollziehen können, die zu den Taten führt, die von den Filmen geschildert wird. Doch das gelang hier nicht im mindesten. 

Das rechtsradikale Netzwerk wirkte angesichts seiner Ambitionen und Mittel – etwa ihrer Waffen – unstrukturiert und unprofessionell. So rückte beispielsweise ein junger Polizist – selbstverständlich gleich auch der Sohn des Leiters der Polizeiakademie – schnellstens in den inneren Kreis des Netzwerks auf, nur damit sich die verschiedenen Erzählebenen des zweiteiligen Films besser miteinander verbanden. Noch obskurer war der Einsatz von diversen Verfassungsschützern, die auf allen Ebenen des Netzwerks mitmischten und immer dann auftauchten, wenn es galt, die Geschichte um eine Drehung weiterzuschrauben. 

Dieser fernsehkritische Einwand will nicht negieren, dass in der Wirklichkeit viele Jahre die bundesdeutschen Geheimdienst auf vielfache Weise mit rechtsradikalen Gruppen und Verbrechen verbunden waren, und dass dieses Zusammenwirken, das vom Wegschauen bis zur Kollaboration reichte, meist nie aufgeklärt wurde. Aber wenn man von solchen Verflechtungen erzählen will, muss man sie absolut ernst nehmen und darf sie nicht nur als spannungssteigernde oder retardierende Erzählmittel be- und damit vernutzen. 

Als weiterer Beleg für die mangelnde Sorgfalt dieser Erzählebene sei auf die Darstellung des obersten Verfassungsschützers hingewiesen, der wie eine Karikatur aller Figuren wirkte, die im „Tatort“ seit vielen Jahren als Vorgesetzte, als Staatsanwälte, als übergeordnete Kollegen von Landeskriminalämtern oder vom Bundeskriminalamt die ebenso emsige wie fleißige  Ermittlungsarbeit der Serienhelden zu blockieren oder verhindern zu suchen. Höhepunkt der immer absurder werdenden Handlung war das Ende, als einer der vom Verfassungsschutz ins Netzwerk eingeschleusten Männer den ersten Mordversuch am Richter mittels eines ausgetauschten Medikaments noch dirigiert, um dann, als das gescheitert war, den zweiten Mordversuch mittels eines Präzisionsgewehres noch verhindern zu wollen, und, als ihm das nicht gelingt, den Scharfschützen erschießt. 

Eine Räuberpistole, mehr nicht. 

Dietrich Leders Kolumne bei uns:

Folge 1: Zur Tatort-Kommissarin Martina Bönisch (Anja Schudt)
Folge 2: „Der Kommissar“ – Mehr Retro ist kaum vorstellbar
Folge 3: Aus dem Streaming-Dschungel
Folge 4: Der Tod der Kommissarinnen
Folge 5: Erzählkonventionen
Folge 6: Die Erzählfäden von Michael Connelly
Crime im TV (7): „We Own This City“
Crime im TV (8): „Schimanski“ machen
Crime im TV (9): Zur Serie „Berlin Babylon“ und zu den Romanen von Volker Kutscher
Crime im TV (10): Retro im „Tatort“
Crime im TV (11): Friedrich Dürrenmatt
Crime im TV (12): Influencer als Thema im Fernsehkrimi

Über abgründiges Erzählen: George Perec und das Gift das Originals, und in dieser und der vorletzten Ausgabe sein großer Essay „Proust übersetzen“ (Teil I und Teil II).

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