
Der Fernsehkrimi im deutschen Fernsehen boomt. Ungezählt all die Verbrechen, die jeden Tag auf dem und für den Bildschirm begangen und die fast ausnahmslos in maximal 89 Minuten aufgeklärt werden. Dietrich Leder, der viele Jahre für die „Medienkorrespondenz“ über das Fernsehen schrieb, ehe dieses zweiwöchentliche Periodikum im Dezember 2021 eingestellt wurde, nimmt sich jeden Monat eine Erscheinung des laufenden Krimi-Programms vor und seziert, wie es die Darsteller der Pathologinnen und Pathologen in den Serien versprechen.
Kommissar Maigret: Da schlummert ein Schatz in den Archiven
Im März startete in den deutschen Kinos eine neue Verfilmung eines Kriminalromans von George Simenon. Der Film, der den schlichten Titel „Maigret“ trägt, basiert auf dem Roman „Maigret et la jeune morte“ (seit der Diogenes-Ausgabe von 1997 heißt er auf Deutsch „Maigret und die junge Tote“), den Simenon 1954 veröffentlichte. Er wurde von Patrice Leconte inszeniert. In der Titelrolle ist Gérard Depardieu zu sehen, der sich damit in die Gruppe der männlichen Filmstars einreiht, die alle irgendwann einmal – ob für das Kino oder das Fernsehen – den von Simenon erfundenen Kommissar spielten. Zu ihnen gehören neben vielen anderen Pierre Renoir, Michel Simon, Jean Richard, Jean Gabin in Frankreich, Gino Cervi in Italien, Charles Laughton und Rupert Davies in Großbritannien und Heinz Rühmann in Deutschland.

Leconte lässt die Geschichte seines Films in der Zeit spielen, in der auch der Roman erschien, hat aber das Paris der 1950er-Jahre in dunkle, oft verschattete Farben getaucht. Einige Erzählmomente des Romans hat er modernisiert. So ist die junge Tote, mit deren Fund die Geschichte anfängt, nicht mehr so sexuell unerfahren wie im Roman. Auch ist die Beziehung, in die hineingezogen wurde, erotisch komplexer als in der Vorlage. Aber es bleibt bei der Grundidee, dass das Opfer, dass die junge Frau aus der Provinz nach Paris kam, um ihr Glück zu finden und der ländlichen Armut zu entfliehen. Hier wird sie wie viele andere ausgebeutet, um am Ende, als sie ihr Glück einklagen will, zu sterben. Das weckt bei Maigret Erinnerungen.
Die radikalste Wandlung vollzieht der Regisseur mit seiner Hauptfigur. Das beginnt schon damit, dass ein Arzt den Kommissar untersucht und ihm das Rauchen verbietet. Maigret ohne Pfeife ist aber wie ein Sherlock Holmes ohne Dr. Watson oder Poirot ohne kleine graue Zellen – eine ungewohnte Erscheinung. Zudem verleiht Depardieu dem Kommissar eine breite, wuchtige Gestalt, die man als Folge all der Brote und Biere wähnt, die er sich in fast allen Romanen von der Brasserie Dauphine in sein Büro am Quai des Orfèvres kommen ließ. Bei ihm ist der Kommissar ein sichtlich ermüdeter Mann, der sich seiner Pensionierung eher entgegen schleppt, als dass er sie erwartet. Das hat nichts mit dem Roman zu tun, in dem Maigret wie in vielen anderen eher alterslos erscheint, als mit dem Alter des Darstellers. Depardieu war bei den Dreharbeiten schon 72 Jahre alt und gibt sich in den Szenen des Filmes auch keine Mühe, das zu verbergen.
Das verstärkt die Melancholie, die Maigret in vielen Romanen und den meisten Verfilmungen umwölkt. Eine Melancholie, die aus einer gewissen Vergeblichkeit resultiert, die der kriminalistischen Aufklärung eigen ist; der Kommissar handelt meist immer erst dann, nachdem etwas geschehen ist, dass er also nicht verhindern konnte. Seine Arbeit besteht nicht nur in der Identifizierung der Täter, sondern in der Suche nach den Ursachen, die zu den jeweiligen Verbrechen führte. Er betreibt somit in den besten Roman und Filmen eine Art gesellschaftlicher Selbstaufklärung. Es sei nicht verhohlen, dass im Blick von heute auffällt, dass in den Romanen von Simenon Frauen zwar selten die Täterinnen sind, aber oft im Hintergrund als verhärmte Ehefrauen, drangsalierende Mütter und als gebieterische Geliebte die Fäden spinnen.
Depardieu spielt diesen Beobachter der meist bürgerlichen Verhältnisse, in denen die Verbrechen geschehen, mit reduzierter Mimik und Gestik. So zurückgenommen hat der Schauspieler, der privat gerne über die Stränge schlägt und auch sexueller Übergriffe beschuldigt wird, vielleicht zuletzt unter Regie von Marguerite Duras gespielt. Sein Maigret handelt weniger, als dass er Handlungen anderer provoziert. Das vitalisiert eine Figur, die einem durch die vielen Kinofilme und Serien auserzählt erschien.
Für diesen Eindruck hatte nicht zuletzt eine britische Serie aus dem Jahr 2016 gesorgt, deren vier Folgen zuerst im Ersten Programm, und zuletzt im Juli auf dem ARD-Ableger One zu sehen waren. In ihnen spielt Rowan Atkinson den Kommissar und hielte er nicht ständig die Pfeife in der Hand, würde man ihn kaum für Maigret ansehen, es sei denn, man identifizierte die Romane, die hier mal wieder verfilmt wurden. Unter ihnen ist auch der 1931 veröffentlichte Roman „La nuit carrefour“ („Maigrets Nacht an der Kreuzung“), der als erster auf die Leinwand gebracht worden war. Den gleichnamigen Film inszenierte Jean Renoir 1932 mit seinem Bruder Pierre in der Hauptrolle, der Maigret ähnlich minimalistisch anlegte Depardieu.

Der Spielfilm „Maigret“ ist nach dem Kinostart mittlerweile über eine Reihe von Plattformen online abzurufen. Das gilt auch für die vermutlich beste Serien-Verfilmung, in der Bruno Cremer den Kommissar spielte. (Sie ist allerdings nur in einer SD-Abtastung abzurufen.) Die in den 1990er-Jahren gedrehte Serie „Maigret“, die im Auftrag des öffentlich-rechtlichen Sender France 2 entstand und die in Deutschland erst auf dem damaligen Pay-TV-Sender Premiere und dann im Ersten Programm zu sehen war, verpflanzte alle Romane in die 1950er-Jahre.
Schaut man sich einige der insgesamt 54 Folgen dieser Serie heute an, ist man über die Sorgfalt verblüfft, mit der sowohl die Außenszenen, die meist wohl in Tschechien gedreht wurden, wie die Innenszenen ausgestattet wurden. Da wurde an keinem Dekor, an keiner Kleidung, selbst der Statisten gespart. Wichtiger noch, es gibt in fast jeder Folge eine umfassende Hintergrundinszenierung. Um nur ein Beispiel zu geben: Wenn in der Verfilmung des 1941 erschienen Romans „La maison du juge“ („Maigret im Haus des Richters“) die Geschichte in der Gegend des Muschelfangs an der Atlantikküste spielt, dann sieht am Rande der kriminalistischen Handlung, wie die Boote täglich ausfahren, wie sie heimkehren, wie die Fischer die Muscheln aus- und zum Weitertransport verladen. Das sind keine touristischen Bilder, die für eine Landschaft werben, sondern Zeugnisse einer Arbeit, ohne die Gesellschaft nicht denkbar wäre.

Cremer legt nach Pierre Renoir und vor Depardieu Maigret als einen Kommissar an, der mehr beobachtet denn handelt, der seine Schlüsse auf der Basis der Erkenntnisse zieht, die er in seinen Berufsjahren gewonnen hat. Aber er darf gelegentlich aus der selbstauferlegten Zurückhaltung ausbrechen, wenn ihm die Scheinheiligkeit von Beteiligten zu viel wird, oder ihn ein Geschehen allzu sehr mitnimmt. In den von mehreren Regisseuren – unter ihnen auch Claude Goretta – inszenierten Folgen allein der ersten beiden Staffeln spielen viele bekannte französische, aber auch deutsche Schauspielerinnen und Schauspieler wie Aurore Clement, Myriam Boyer, Marie Dubois, Bernadette Lafont, Sunnyi Melles, Heinz Bennent, Michel Bouquet, oder Michael Lonsdale mit. Ihnen wieder zu begegnen erhöht die Freude an dieser handwerklich so gut gearbeiteten Serie.
Bleibt die Frage, welcher Sender in Deutschland sich des Schatzes annimmt, der in den Archiven schlummert und der doch so viel reicher erscheint als vieles, was aktuell produziert wird.
Dietrich Leders Kolumne bei uns:
Folge 1: Zur Tatort-Kommissarin Martina Bönisch (Anja Schudt)
Folge 2: „Der Kommissar“ – Mehr Retro ist kaum vorstellbar
Folge 3: Aus dem Streaming-Dschungel
Folge 4: Der Tod der Kommissarinnen
Folge 5: Erzählkonventionen
Folge 6: Die Erzählfäden von Michael Connelly
Crime im TV (7): „We Own This City“
Crime im TV (8): „Schimanski“ machen
Crime im TV (9): Zur Serie „Berlin Babylon“ und zu den Romanen von Volker Kutscher
Crime im TV (10): Retro im „Tatort“
Crime im TV (11): Friedrich Dürrenmatt
Crime im TV (12): Influencer als Thema im Fernsehkrimi
Crime im TV (13): Der Tatort als Polithriller?
Crime im TV (14): Kommissar Van der Valk
Crime im TV (15): Wie ein faules Ei dem anderen: Plots wie mit KI
Über abgründiges Erzählen: George Perec und das Gift das Originals, und in dieser und der vorletzten Ausgabe sein großer Essay „Proust übersetzen“ (Teil I und Teil II).