Geschrieben am 1. September 2023 von für Crimemag, CrimeMag September 2023

Reading ahead (24): „Orphan Road“ von Andrew Nette

Ein Gesicht wie fünf Meilen ungeteerter Straße

Alf Mayer über Räuberroman Nr. 3, „Orphan Road“, von Andre Nette

Zuerst begegnet bin ich Andrew Nette in einem von ihm mit herausgegeben Pulp-Band, schlicht „Lee“ betitelt, in einem Buchladen auf der Mornington Peninsula gefunden. Der Inhalt: Hard-boiled Storys mit Lee Marvin, das gefiel mir. Crime Factory hieß der in Melbourne angesiedelte Kleinverlag, Derek Raymonds dunkelschwarze „factory“-Romane unter den Ahnen, aber ob viele Exemplare dieses Bandes je nördlichere Breitengrade erreichten, wage ich zu bezweifeln.

„Gone Fishing“ hieß die Kurzgeschichte, die Andrew Nette in dem Band beisteuerte. Lee Marvin ist darin hinter einem großen schwarzen Marlin her, allein auf einem Boot vor der Küste von Nord-Queensland, er döst und träumt vom Krieg auf den Pazifik-Inseln, wo er seine Portion japanische Soldaten getötet hat. Döst und träumt davon, wie es danach war, Toshirô Mifune kennenzulernen, den großen Schauspieler, und dann auf einer Pazifikinsel mit ihm einen Film zu machen, weit weg von den Studios, weit weg von der Kontrolle der Buchhalter, nur zwei Männer, Feinde im Krieg, fast nackt und allein auf einer Insel. Trotz des dann umgebogenen Endes immer noch einer der besten Filme seiner Karriere, denkt Marvin. Jetzt will das Studio, dass er einen Western macht, in dem er singen muss. Heiliger Strohsack.

Die Geschichte nennt nicht den Titel des Insel-Films, der zu meinen Lieblingen gehört. Es war „Die Hölle sind wir“ (Hell in the Pacific, 1968), Regie John Boorman. Benennt auch nicht „Cat Ballou“. Oder irgendetwas nahe einer Anspielung von altem Mann und einem Meer. Der Fisch beißt an. Lee Marvins Kater vom Vorabend in einer Bar – auch das wird lakonisch-schön erzählt – verfliegt beim Kampf an der Angelrute. Dann aber wird die Leine plötzlich schlaff. Ein noch größerer Fisch hat sich die Beute geschnappt… „I’ll be a son of a bitch“, lacht Marvin, zündet sich eine Zigarette an und zieht den Anker hoch.

Ein paar Jahre später, wieder in Melbourne, traf ich Andrew Nette persönlich. Schöner Abend, feine Kneipentour im noch nicht von der Gentrifizierung zerstören Viertel Brunswick. Mittlerweile wusste ich, was für ein Crack in all things Noir & Pulp er ist und wie unsere Filmvorlieben sich gleichen. Für CrimeMag hatte ich ihn bereits einige Male als Autor gewinnen können (siehe hier und hier oder über U-Boot-Filme oder Altmeister Peter Corris), und ich schätze ihn als Autor von Girl Gangs, Biker Boys, and Real Cool Cats: Pulp Fiction and Youth Culture, 1950 – 1980 (PM Press, 2017). Bald kamen noch dazu: Sticking It to The Man: Revolution and Counterculture in Pulp and Popular Fiction, 1950 to 1980 (PM Press, 2019), und: Dangerous Visions and New Worlds: Radical Science Fiction 1950 to 1985 (PM Press, 2021).

Seine Website pulpcurry.com bietet immer wieder Überraschungen, für Anfang 2024 ist eine Publikumsausgabe seiner reich illustrierten Doktorarbeit „Horwitz Publications, Pulp Fiction & The Rise oft he Australien Paperback“ avisiert. Und nach sechs Jahren Wartezeit ist nun sein dritter Roman erschienen. „Als Sachbuchautor bin ich ganz okay“, sagt Andrew, „als Erzähler bin ich schneckenlangsam.“ 2012 erschien sein Debüt „Ghost Money“, 2016 folgte „Gunshine State“. Es sind pulpige Noir-Thriller. Schinderhannes down under…

„Orphan Road“ bringt ein Wiedersehen mit dem Berufsverbrecher Gary Chance aus seinem zweiten Roman, wirft uns sofort mitten hinein in eine Trance-Session im australischen Urwald. Chance hat sich in einen Kult eingeschlichen, der seinen Mitgliedern vornehmlich ihr Geld abknöpft. „Warum nicht einen Kult überfallen?“, hatte ihm Tremont gesagt, der ihm den Auftrag vermittelte. Chance stellt sich so etwas wie den Manson Clan vor, aber es wird mehr Rave-Party trifft „Herr der Fliegen“, mit einem Kultführer namens Cornelius als Billigausgabe von Jim Morrison. Der Raub geht schief, das Geld ist schon weg, Chance fliegt auf, bekommt eine plötzliche Verbündete, die den Kultboss niedersticht, das Geld spielt doch noch Bäumchen wechsel dich, noch mehr Durcheinander bei der Verfolgung, das Geld in alle Winde, Räuber zu sein hat seine Tücken.

Kapitel 2 sieht Chance im CBD (central business district) von Melbourne, der immer mehr mit Hochhäusern zuwächst – solche Veränderungen sind beim wachen Andrew Nette immer Thema –, vor dem Eingang zu einem der letzten Pornokinos im Viertel. Leibwächter Angel bringt ihn hoch zu Vera Leigh, mit der Chance schon in „Gunshine State“ zu tun hatte. Sie war die „Madam“ eines SM-Clubs, ist mit der Unterwelt bestens vernetzt und seine Kontaktfrau für Aufträge, hat ihn auch mit Tremont und dem Kult zusammengebracht. Jetzt ist es Loomis, der die Infos für einen neuen Job hat. Und der ist nicht von Pappe. Richtig Geld wird er bringen, Kohle satt. Auch Vera braucht einen Anteil davon, sie muss raus aus ihrem Dungeon, ein Investor aus Dubai hat das Gebäude gekauft, will teure Eigentumswohnungen daraus machen, also ob es davon in Melbourne nicht schon genug gäbe.

„Let’s cut to the case, Gary“, sagt Vera. A hardness crept into her voice. „I need money and I need it fast or I’m done for.“
„If you are looking for a loan, Vera, I’m not excactly flush these days.“
„No. I have a job. It’s lucrative, and I need someone I can trust. I’m even prepared to forgo the usual arrangements and offer you an even split“
„Jesus, you must be desparate.“
„Don’t be unpleaseant, dear“, she said, exaggerated hurt in her voice. „But, yes, I am.“
„What are we talking about?“
„Let’s just say I am confident it will suit your particular skills.“
„Thats not good enough“, said Chance. „You want me to work for you, tell me everything, or you find someone else.“
„It’s a heist“, she whispered.
„Go on.“
„There’s one catch.“
„Which is?“
„It already happened. Nearly fiffty years ago.“

Ein Überfall vor fast fünfzig Jahren also im Mittelpunkt des Plots. Australiens größter und bis heute ungeklärter Raubüberfall: Melbourne, Mittwoch 21. April 1976, wenige Tage nach Ostern, The Great Bookie Robbery. Sechs Maskierte stürmen den Victorian Jockey Club in der Queens Street, der Raum voller Buchmacher (und ihrem Geld), die das Osterrennen abrechnen wollen. Es gibt keine Verletzte, die Räuber sind gut organisiert und vorbereitet. Aus Steuergründen gibt der Club bei der Polizei nur eine Million als Beute an, vermutlich waren es 14 bis 16 Millionen australische Dollar (heute würde das dem Zehnfachen entsprechen). Die Beteiligten sind heute allesamt bekannt, kein einziger Täter aber wurde je für den Raub angeklagt oder verurteilt. Zu Tode jedoch kamen sie alle. Die Suche nach der Beute gehört bis heute zu den True Crime-Mythen Australiens und zur Populärkultur. Andrew Nette lässt auch einen Beutel mit Diamanten unter dem Raubgut sein. Danach wird nun mit jeder Menge Verwicklungen gejagt, sogar mit Abstecher nach New York und Philadelphia und Recherchen im Mafiamilieu. 

Chance stellt auf seiner Reise fest: „Say what you want about America… they know how to do bars.“ Es gibt Soprano-Witze, der Leibwächter des alten Mafioso Luchese heißt Vinnie „The Wire“ Angellini. Der Pass, mit dem Chance reist, ist auf den Namen Paul Egan ausgestellt. So hieß der Anführer bei der „Great St. Louis Bank Robbery“, einem amerikanischen Heist-Film von 1959, in dem der junge Steve McQueen den Fluchtfahrer spielt. Überhaupt schwebt stets der Geist der Hardboiled-, Film Noir- und Pulp-Ära über Andrew Nettes Romanen: von W.R. Burnett, Jim Thompson, Harry Whittington, Charles Williams (dazu ein Porträt von Frank Göhre in dieser Ausgabe) bis Willeford. In seiner Detailkenntnis können ihm höchstens Affionados wie Wallace Stroby oder Nick Kolakowski das Wasser reichen.

Andrew Nette hat auf seiner Seite Pulpcurry wie auch bei CrimeReads schon einmal die „10 Best Heist Films You’ve Never Seen“ wie auch „10 of the Best Heist Movies Ever Made“ vorgestellt. Er kennt seine Pappenheimer, Peckinpahs „Getaway“ (nach Jim Thompson) gehört zu seinen Lieblingsfilmen. Er verfügt über ein immenses Genre-Wissen und eine Schatzkammer voller Pulpromane. „10 unterschätze amerikanische Neo-Noirs der frühen 1970er“ heißt eine andere seiner Listen. Nette als Fiktionautor weiß: „Der Trick besteht daraus, deine Einflüsse mit einem neuen, besonderen Twist zu kombinieren, seien es die Art Raub, um die es geht, die Location, die Charaktere, wie und wo es schief geht und wie es danach immer schlechter wird.  Daran muss man sich messen lassen.“

In einem Text mit der Überschrift „Being Influenced by Your Favourite Crime Writers“ hat er einmal ausführlich Auskunft über seine Vorbilder gegeben und die Fallen, die dabei lauern: „There is a very fine line between being influenced by your favourite crime writers and falling into a straight out pastiche or imitation. Doing the former without plunging into latter is something I was very conscious of, as I was writing my novel Gunshine State and the follow up, Orphan Road.“ 

Diese beiden Romane sieht Nette als seinen Versuch, dem Topos „Raubüberfall/ schiefgegangen“, eine australische Variante beizufügen. Das Genre sei down under unterentwickelt, da hülfen auch zwei exzellente Heist-Filme von Bruce Beresford, der hardboiled Money Movers (1979) und Two Hands (1999, mit dem verstorbenen Heath Ledger) nicht.

Ausführlich bezieht Andrew Nette sich in dem Text auf die Vorbilder Wallace Stroby (und seine Räuberin Crissa Stone; deutsch bei Pendragon, Übersetzung: moi), auf die Wyatt-Romane von Garry Disher und auf den Urvater Richard Stark (Donald E. Westlake) und dessen Parker-Romane. Nette wagt es sogar, hier seine Lieblingsromane zu nennen. Und wie gesagt, setzt er als Autor die Favoriten-Marken sparsam. In New York heißt ein Barkeeper einmal „Marvin“, sein Auftraggeber Loomis ist namensgleich auch der des vornamenlosen britischen Feldagenten Quiller in einigen der (bis heute stilistisch wie in der Schilderung von action unübertroffenen) Romane von Adam Hall. (Sein Porträt von mir siehe hier. Und nur Andreas Pflüger reicht an ihn heran, dies auch im internationalen Vergleich.)

Der Raubüberfall von vor fast fünfzig Jahren und die Suche nach Teilen der damaligen Beute gibt Andrew Nette Roman ein wunderbares Vehikel zur Zeitreise durch die australische und amerikanische Verbrechensgeschichte. Es gibt schön dosierte Details. Und als besonderes „terroir“ immer wieder Verschränkungen mit dem australischen „Engagement“ in Vietnam, ein in der Kriminalliteratur noch wenig bearbeitetes Thema. Zwei Jahre vor dem offiziellen Kriegseintritt Australiens waren bereits Soldaten im klandestinen Einsatz. Das „Australian Army Training Team Vietnam“ (AATTV), kurz auch nur „The Team“ genannt, war eine Sondereinheit militärischer „Berater“ im Vietnamkrieg. Einige von ihnen, heißt es bei Nette, hatten den Auftrag, Operationen der Central Intelligence Agency gegen den Vietkong zu unterstützen: „It was real Colonel Kurtz stuff: Australian spooks working with ethnic minority tribesmen deep in the jungle… some even rumored to have taken part in a covert Agency assasination activity known as the Phoenix Program.“ Einer von ihnen war (der fiktive) George Bartholomew Mundy, 1944 in New South Wales geboren.

„Look kid, there were a lot of guys walking around after Vietnam, said they’d done all sorts of bad shit in that war. Some of them were full of it. Others were the real deal. It was kind of hard to sort out shit from the Shinola, you catch my drift? Let’s just say, Mundy felt like the real deal.“
Chance mulled over what the old man had told him, added it to what he knew about George Mundy: soldier, conman, armed robber, fence, spy.

Nach solchem Holz ist Chance auch geschnitzt, wie wir Stück für Stück erfahren. Er sei Armeefahrer gewesen, okay, in Afghanistan. Ach ja, Ost-Timor auch. Keine Strafakten, was von Kontrahenten wie einem harten Ex-Army-Typ namens Hardigan als Zeichen von Intelligenz gelesen wird. Bei Nette kennen sich auch Frauen mit muscle cars aus. Auf Seite 141 wird die Plane von einem Ford XB GS Falcon (senffarben mit einem schwarzen racing strip an der Seite, V 8 Motor) gezogen, er hat der Bordell-Domina Leigh gehört. Als Waffe findet auch eine Luger Verwendung, die Loomis in der Normandie einem deutschen Offizier abgenommen hat…

Hat das schönere Gesicht: Mr. Inbetween

Und dann ist da noch die Sache mit dem Aussehen. Der linke Zeigefinger, in Thailand von bösen Männern mit einer Gartenschere abgeschnitten, wurde durch den entsprechenden kleinen Zeh ersetzt. Und – möglicherweise als Verbeugung vor Richard Starks Parker und David Goodis’ „Dark Passage“ (1946, dt. Die Schwarze Natter, verfilmt mit Humphrey Bogart in der Hauptrolle, Regie Delmer Daves) – hat sich auch Gary Chance einer Gesichtsoperation unterzogen. Muss aber nicht so ganz gelungen sein. Sein Gesicht, ebenfalls in Thailand rearrangiert, lässt Leigh immer noch schaudern. „That job the Thai plastic surgeon did on your face makes you look deliciously cruel. Honestly, it gives me goosebumps every trime, especially in this light.“ … a botched job that had taken away his everyman features, replaced them with a face best described as like an identikit picture in a tabloid newspaper … Andere finden es „a face like five miles of unpaved road“ oder „a face like a side of beef“.

Das hört sich nicht an, ols ob wir von Ray Shoesmith reden, der Hauptfigur in „Mr. Inbetween“, von Serienautor Scott Ryan selbst gespielt und seit dem frühen Mel Gibson als Mad Max (wir reden von 1979) so ziemlich das Coolste im Filmbereich aus Australien – aber seelenverwandt ist er mit Gary Chance. Die 26 Serien-Episoden sind, so Andrew Nette in einem Text für CrimeReads, „30 minute masterclasses in less-is-more storytelling“.

Doch zurück zur „Orphan Road“. Die fünf Meilen ungeteerter Straße finden schließlich den lange gesuchten Mundy, tief im Outback. Ob es die Diamanten je gegeben hat, bleibt offen. Einer der letzten Dialoge dieses feinen Noir-Romans geht so:

„A lot of people are dead because of you, George.“
„Did I ask any oft hem to follow me and the diamonds?“ Mundy said and sipped his drink. „I just want to be left alone.“

Dann fahren Chance und Loomis davon, im Radio „London Calling“ von The Clash, überall verärgerte Geister aufgewirbelt, die sich nicht so schnell beruhigen werden. Ein Noir-Ende, wie man es sich träumen mag:

The night outside swirled and churned with the angry ghosts they’d conjured over the past months. Chance knew they wouldn’t be able to shake them, no matter how far they drove.

Andrew Nette: Orphan Road. Down & Out Books, Lutz/ Florida 2023. 208 Seiten.

Siehe auch die bisher erschienenen Rezensionen:

Reading ahead mit CrimeMag:
(23) John Byron: The Tribute
(22) Andrew Nette & Iain McIntyre: Dangerous Visions and New WorldsRadical Science Fiction 1950 to 1985
(21) Adam Morris: Bird
(20) David Whish-Wilson: True West
(19) Andrew Nette and Iain McIntyre (ed): Sticking it to The Man: Revolution and Counterculture in Pulp and Popular Fiction, 1950 to 1980
(18) David Whish-Wilson: The Coves
(17) Rachel Kushner: The Mars Room
(16) Stephen Greenblatt: Tyrant
(15) John Harvey: Body & Soul
(14) Iain McIntyre and Andrew Nette: Girl Gangs, Biker Boys and Real Cool Cats: Pulp Fiction and Youth Culture, 1950-1980
(13) The Illustrated Ross Macdonald Archives
(12) Peter Blauner: Proving Ground
(11) Mike Ripley: Kiss Kiss Bang Bang
(10) Stephen Hunter: G-Man
(9) James Ellroys Fotoband: LAPD ’53
(8) Richard Price: The Whites
(7) Dominique Manotti: Noir
(6) Chuck Logan: Falling Angel
(5) Tod Goldberg: Gangsterland
(4) Gerald Seymour – ein Porträt
(3) Donald E. Westlake: The Getaway-Car
(2) Garry Disher: Bitter Wash Road
(1) Lee Child: Personal

Sowie:
Liebe und Terror im Goldenen Zeitalter der Flugzeugentführungen: Brendan I. Koerner: The Skies belong to Us (2013)
Kem Nunn: Chance (2013)
R. J. Ellory: A Quiet Belief in Angels (2012)
Lee Child: Jack Reacher’s Rules (2012)
Charles Bowden: 
Murder City: Ciudad Juárez and the Global Economy’s New Killing Ground (2010)

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