Geschrieben am 1. Mai 2022 von für Crimemag, CrimeMag Mai 2022

Alf Mayers Reading ahead (23): John Byron „The Tribute“

Unter die Haut/ Under the skin

John Byron: The Tribute. Affirm Press, Melbourne 2021. 414 Seiten.

So dezidiert habe ich das noch in keinem australischen Buch gelesen: „This book was written on Aboriginal land. Always was, always will be.“ Man stelle sich das bei Steinbeck, Cormac McCarthy, Poe oder Ellroy vor: Dieses Buch wurde auf dem Land der Ureinwohner geschrieben, es wird immer ihres sein und bleiben.

Der Respekt, den John Byron (nicht nur) im Nachwort seines Erstlingsromans der Wahrheit zollt, zeichnet sein ganzes Buch aus, beschließt es mit einem BANG. „The Tribute“ ist ein Roman, der lange nachhallt. Und er geht – buchstäblich – unter die Haut.

Das Buch beginnt australischer wie es nicht sein kann, nämlich mit dem jährlichen „Coogee Island Ocean Swim“ Wettbewerb rund um die Hochzeitskuchen-Insel vor Sydney. Nur wenig südlich davon liegt die Botany Bay, wo am 29. April 1770 unter Captain Cook die ersten Briten an der Ostküste Australiens landeten, dem dann im Januar 1788 die sogenannte „erste Flotte“ folgte, die „First Fleet“, mit elf Schiffen und insgesamt 756 Strafgefangenen und 550 Besatzungsmitgliedern an Bord. Der Nukleus der weißen Eroberung des Kontinents. Die Landung in Sydney Cove am 26. Januar 1788 wird bis heute als Australia Day gefeiert. (Zufällig habe ich an diesem Tag Geburtstag, Feuerwerk also immer, wenn ich dann in Australien bin, aber auch Lackmus-Test dafür, wie meine Aussie-Freunde diesen Tag sehen; für viele von ihnen wird er auf immer der „Invasion Day“ bleiben.)

John Byron kennt sein Sydney, das merkt man wieder und wieder – bis hin zu im Dialog verhandelten Alltags-Ratschlägen, wo in der Stadt man denn sein Rad sicher abstellen könne. Gewiss nicht vor einer Polizeiwache, heißt es, vor jeder Milchbar wäre es sicherer. „The Tribute“ ist Thriller und Polizeiroman. Schon im sechsten Absatz des ersten Kapitels sind wir bei „dirty cops“ und warum Detective Senior Sergeant David „Snurf“ Murphy nicht über die Anzac-Brücke fahren kann, ohne an Polizeikorruption zu denken. 

John Byron kennt seinen Wambaugh und McBain und all die anderen Cop-Romane, von den Cop-Filmen zu schweigen. Bis Seite 25 sind wir schon einem halben Dutzend Referenzen begegnet –  „hoping we all go True Detective, start chasing shadows“ inklusive –, und schnell wird dies auch ein Meta-Serienkiller-Roman:

„Every now and then, someone goes the full Hannibal… ugly, ritualistic, methodical, wellplanned, done for effect … everybody knows the set-up.“

Ein Mörder lässt seine Opfer methodisch seziert zurück. „He’s not particularly intact“, begegnen wir Forensiker-Humor und dem ersten Mordopfer. „Most of him upstairs.“ Körperteile überall, die Leiche dekonstruiert, dies geradezu lehrbuchhaft. 

Unmöglich, das über 400 Buchseiten durchzuhalten, denkt man. Das wird ja eine schaurige Parodie, das kann nicht funktionieren. Und doch, vom ersten Toten an schreibt John Byron auf der Kante einer Rasierklinge – eines Skalpells, sollte man besser sagen. Und da hat man noch keine Ahnung, wohin und wie tief dieser Autor schneiden wird.

Erst einmal ist viel schwarzer Humor. „Surely that can’t be all from one body“, heißt es einmal. Ab Seite 37 kennen wir den Serienmörder, ab Seite 60 wissen wir, was er noch vorhat. Und all die Zeit dabei im Schnellgang die ganze Palette dessen, was wir schon aus Millionen Serien und Krimis wissen und kennen: der Druck von oben, von Politik und Vorgesetzten, aus den Medien, das kollegiale Geplänkel, die Sackgassen der Ermittlung, das Prozedere. Das Genre.

All das in klarer, knapper Prosa. Trocken und lakonisch, mit witzig-klugen Filmreferenzen angereichert. Immer klarer auch das personelle Tableau. Der Polizist aus der Mordkommission, seine sich ihm entfremdende Ehefrau, seine kunsthistorisch geschulte Schwester und auf Distanz: der Killer. Ein Tanz mit Vieren. Und dazu, ganz wichtig und zentral, ein Buch von 1543.

Der Zufall (?) will es, dass ich für diese CulturMag-Ausgabe auch einem anderen wissenschaftlich wegweisenden Buch aus diesem Jahr begegnet bin, es handelt sich um „Das New Kreüterbuch“ von Leonhart Fuchs, das mit seiner systematischen Darstellung von rund 400 Wildgewächsen und über 100 Nutz- und Zierpflanzen und seinen bis heute verblüffenden Farbtafeln ein Standartwerk der Botanik ist (meine Besprechung hier). Ebenfalls aus dem Jahr 1543 stammt „De Revolutionibus Orbium Coelestium Libri VI“ von Nikolaus Kopernikus, das die ganze Erde und den Menschen neu verortet und die Sonne in den Mittelpunkt des Universums stellt. Buch Nr 3 und bei John Byron in der Hauptrolle ist das Anatomie-Standardwerk „De Humani Corporis Fabrica“ von Andreas Vesal, kurz „Fabrica“ genannt, eine ebenfalls in Basel erschienene monumentale Bestandsaufnahme vom Bau des menschlichen Körpers, die mit den Irrtümern der antiken Ärzte aufräumt und damit das Fundament für die moderne Anatomie legt. 

Auf rund 700 Seiten, in sieben Büchern, fasst der damals 28jährige Flame Vesalius (1514−1564, eigentlich Andreas Witinck) sein Wissen zusammen, beschreibt Knochenbau, Muskeln, Adern, Nerven, Unterleib, Brusthöhle und Gehirn. „De humani corporis fabrica“ (Über den Bau des menschlichen Körpers) erscheint 1543 bei Johannes Oporinus, dem berühmtesten Basler Drucker. Das mit rund 200 teilweise ganzseitigen Illustrationen ausgestattete Werk gilt als der schönste Druck dieser Offizin. Die hervorragenden Holzschnitte werden zum Teil Jan Stephan van Calcar, einem Schüler Tizians, zugeschrieben. Im Zusammenhang der Entstehung dieses Buches seziert und präpariert Vesalius 1543 in Basel den Leichnam eines geköpften Verbrechers. Dieses so genannte „Vesalsche Skelett“ ist das älteste erhalten Anatomiepräparat der Welt und heute noch im Anatomischen Museum Basel zu besichtigen. Antiquarisch wird die „Fabrica“ mit bis zu 474.000 Euro gehandelt, Versand immerhin gratis.

Der Mörder in John Byrons „The Tribute“ eifert Vesalius nach. Jedes seiner Opfer ist als Tribut einem der Kapitel nachgebildet und präpariert, man kann auch sagen: zu- oder hergerichtet. Erst mit Blick auf Knochen und Adern, dann auf Muskeln und Bänder, auf Venen und Arterien, die Nerven, die Organe der Ernährung und Fortpflanzung, das Herz und zuletzt das Gehirn. 

Das Buch wird so auch zu einer kleinen Kulturgeschichte der menschlichen Verfassung, immer mehr verengt es sich zur griechischen Tragödie, öffnet sich eine Falltür nach der anderen, fächert sich das ganze Konstrukt zu einem geradezu epischen, unsere Moderne bestimmenden Konflikt. Wie Byron das bewerkstelligt ist hohe Kunst. Der Blurb von David Whish-Wilson (siehe Bücher hier, hier und hier von mir besprochen) ist nicht übertrieben:

„One oft he best debuts I’ve read – inventive, layered and brillantly written. The Tribute is a class act.“

Ohne zu spoilern lässt sich der Showdown des Buches nicht wiedergeben. Er findet an jenem Ort statt, an dem das Buch auch begann, am Ladie’s Bath in Coogee, einem heute denkmalgeschützten Naturschwimmbecken am Strand von Sydney, wo in früheren Zeiten schon die Aboriginesfrauen Baden gingen. So viel, denke ich, kann man sagen, dass es die Frauen es sind, die dieses Buch überleben. Und nicht die toxische Männlichkeit.

Alf Mayer

Das Ladie’s Bath in Coogee – Wiki-Commons

Reading ahead mit CrimeMag:
(22) Andrew Nette & Iain McIntyre: Dangerous Visions and New Worlds. Radical Science Fiction 1950 to 1985
(21) Adam Morris: Bird
(20) David Whish-Wilson: True West
(19) Andrew Nette and Iain McIntyre (ed): Sticking it to The Man: Revolution and Counterculture in Pulp and Popular Fiction, 1950 to 1980
(18) David Whish-Wilson: The Coves
(17) Rachel Kushner: The Mars Room
(16) Stephen Greenblatt: Tyrant
(15) John Harvey: Body & Soul
(14) Iain McIntyre and Andrew Nette: Girl Gangs, Biker Boys and Real Cool Cats: Pulp Fiction and Youth Culture, 1950-1980
(13) The Illustrated Ross Macdonald Archives
(12) Peter Blauner: Proving Ground
(11) Mike Ripley: Kiss Kiss Bang Bang
(10) Stephen Hunter: G-Man
(9) James Ellroys Fotoband: LAPD ’53
(8) Richard Price: The Whites
(7) Dominique Manotti: Noir
(6) Chuck Logan: Falling Angel
(5) Tod Goldberg: Gangsterland
(4) Gerald Seymour – ein Porträt
(3) Donald E. Westlake: The Getaway-Car
(2) Garry Disher: Bitter Wash Road
(1) Lee Child: Personal

Sowie:
Liebe und Terror im Goldenen Zeitalter der Flugzeugentführungen: Brendan I. Koerner: The Skies belong to Us (2013)
Kem Nunn: Chance (2013)
R. J. Ellory: A Quiet Belief in Angels (2012)
Lee Child: Jack Reacher’s Rules (2012)
Charles Bowden: 
Murder City: Ciudad Juárez and the Global Economy’s New Killing Ground (2010)

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