Geschrieben am 27. Dezember 2018 von für Allgemein, Crimemag, Highlights 2018

CulturMag Highlights 2018, Teil 4 (Disher – Doerksen – Friederici)

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Garry Disher
Anita Djafari
Katrin Doerksen
Werner Dütsch
Joachim Feldmann
Michael Friderici

garry-disher-autor-276x300Garry Disher: The Central Role of Rural Settings in Recent Australian Crime Fiction

The city is the primary site for most contemporary crime novels, and while readers might find themselves entering a chaotic world, it’s in the certain knowledge they’ll be guided by a detective rooted to the setting and in possession of wide-ranging and penetrating insider knowledge. The Los Angeles of Michael Connelly’s Bosch, for example; the Edinburgh of Ian Rankin’s Rebus.

                  disher_bitter wash road4In contrast, the setting is an unknown for the lead investigators in a growing sub-genre of crime novels located in rural Australia.  These works include Peter Temple’s The Broken Shore, Jane Harper’s The Dry, Chris Hammer’s Scrublands, Sarah Bailey’s The Dark Lake, and my ‘Hirsch’ novel, Bitter Wash Road.  Most have several elements in common: a rural/country town location; a murder and the resulting investigation; an investigator working with, against or instead of local police; hot, dry conditions with the risk of bushfires; past events impinging on the present.

                  Most importantly, the lead characters are, in varying ways, outsiders, and not all are detectives.  Chris Hammer’s Scarsden is a Sydney journalist; Hirsch a lowly constable from Adelaide; Jane Harper’s Falk returns to his home town after a long period away; Peter Temple’s Cashin, once a Melbourne-based detective, has retired to a rural area south-west of the city.  And while they might seek a connection with local people, they don’t find full acceptance.                 9781760632984 And unlike city-based detectives like Rebus, they’re obliged to learn the facts of the setting as they learn the facts of a crime.  Lacking experience, and full or recent local knowledge, they must start their investigations from scratch, and as they operate, every surface is charged with latent meanings.

                  They are journeying characters.  The back story of the crime, and the current, ongoing reconstruction of the movements of victims, suspects and witnesses, are plot stages revealed through their restless movements from location to location.  And, for some of them, ‘home’ is a circumscribed place—for Falk a hotel room, Cashin a fireside armchair, Hirsch a couple of rooms behind the police station.  From their home base they travel to a periphery (a crime scene, a witness’s house) and back again.  Even the cars they travel in and the highways they traverse are settings, while also symbolising invasion, incursion or discovery.  And far from the job groundingthese investigators, it reinforces their placelessness.

                  The setting are dynamic in these novels, I argue, not just sites to locate the action.  Settings generate suspense: how will the lead characters fare at each new place? Settings play a role in characterisation: reactions to the setting reveal aspects of personality.  And settings influence plot: even the act of journeying from location to location drives the story forwards.  Then at each destination the investigators discover new information, make mistakes, find dead ends, encounter resistance and resentment, set off repercussions, tackle the bad guy.

And you end up with a novel.

Garry Disher has won the German „Krimi Preis“ as often as James Lee Burke. Like in 2017, with „Bitter Wash Road“, he is again among our „CrimeMag Top Ten 2018“, with „Whispering Death“.  His Website. His Jahresrückblick 2017 bei CrimeMag. Alf Mayers Besuch bei ihm auf der Mornington Peninsula: „Der Schauplatz als Charakter.“  Bloody Questions von Marcus Münterfering. Reading ahead: Bitter Wash Road. Textauszug aus „Leiser Tod„.

Anita Djafari, Geschaeftsfuehrerin Litprom im Rahmen einer Pressekonferenz zu den Ergebnissen des Projektes " Cairo Short Stories " der KfW Stiftung in Zusammenarbeit mit dem Goethe Institut in Kairo und der Frankfurter Litprom (Gesellschaft zur Förderung der Literatur aus Afrika, Asien und Lateinamerika) am Montag, 28.07.2014 in den Räumen der KfW Bank in Frankfurt am Main

Anita Djafari: Unwort „Narrativ“

Das Jahr war proppenvoll, die Zufriedenheit am Ende groß,  hier nur ein paar Schlaglichter mit persönlichen Highlights.

djafari 36752Musik, z.B. Joan Armatrading: Ich hab sie gehört, rauf und unter. Ende der 1970/80er Jahre. „Show some emotion“ zum Beispiel oder „Willow“  waren meine Hymnen auf Platte, auf Kassette. Diese unverkennbar „schwarze“ Stimme mit der enormen Bandbreite: jazzig, bluesig, rockig, poppig, in keine Schublade zu stecken. Texte von Liebe und Herz und Schmerz und Selbstbehauptung, so zärtlich wie klug, so rebellisch wie verletzlich. Sie macht alles selbst. „Me, myself, I.“ Und sie ist immer noch da. Better than ever. Mit 68 Jahren hat sie ein neues Album veröffentlicht „Not too far away“, eines von vielen inzwischen, und ich durfte sie auf ihrer Großbritannien-Tournee bei einem Konzert in Cardiff erleben. Damit habe ich mich belohnt an den freien Tagen nach der Buchmesse. Diese grandiose Lady, die alles selbst arrangiert, einspielt, steht mit ihren Gitarren und dem Loop ganz allein auf der Bühne oder setzt sich ans Klavier und unterhält einen mit ihren alten Hits und brandneuen Songs auf das Feinste. Ich wusste es damals und ich weiß es heute erst recht: eine starke Frau, die das tut, was sie tun will und kann und nicht stehenbleibt. „I’ll never retire“, hat sie gesagt. Passt.

z.B mit dem Chor in Irland.  Irland und Musik, das ist ja fast ein Synonym. Wir sangen in der Kathedrale von Drogheda mit dem örtlichen Männerchor, wir sangen mit unserem Frauenchor „Danny Boy“ und rührten die Gastgeber, wir sangen gemeinsam unsere jeweiligen Hymnen (ähm, wir mussten bei unserer noch mal schnell in den Text…) und mit dem Publikum „Hey Jude“. Und waren beglückt.  Und neben vielem anderen fuhren wir auch nach Belfast  einfach über die Grenze, die keine mehr ist, und nach diesem Erlebnis verfolgt man das leidige Thema Brexit noch etwas intensiver…

471b4639cf467299330bed855183aa72f6547093Film: Happy Hour (auf arte) eine zufällig gefundene Einstimmung auf Irland war diese lustige Geschichte: Drei alte Freunde im mittleren Alter fahren ins Ferienhaus des einen in Irland, sie wollen ihren Kumpel trösten. Der hat gewaltigen Kummer, seine Frau will ihn mitsamt Kindern verlassen. Der übergewichtige Trauerkloß und intellektuelle Schöngeist  zieht am liebsten die Decke über den Kopf, während seine Kumpels – der eine ein Womanizer, wie er im Buch steht, der andere zackig mit Sport und Holz hacken, kernig unterwegs sind. Abends im Pub, bei Guiness und Musik öffnen sich so manche einsamen Herzen, für eine Nacht. Aber alles kommt anders, als man denkt, die Superheroes enttarnen sich selbst, und als der Trübsinnige im Pub eine wunderschöne Ballade vorträgt, hat er sie plötzlich alle in der Tasche. Vergnüglich, wie die Männerklischees aufs Korn genommen werden.

transit-film-index-480Im Kino: „Transit“ von Christian Petzold im Kino. Allerdings was für eins: Im Nachbarort betreibt ein Apotheker in seiner Freizeit in einem ehemaligen umgebauten Tanzsaal ein arthouse-Kino mit einer feinen Auswahl. Wenn man Karten reserviert, findet man sein Namensschild auf ausgesuchten Plätzen vor, mit Vorrichtung für ein gepflegtes Getränk, das  an der Kasse erworben werden kann. Solche Orte sind ein Geschenk des Himmels, solche Idealisten dürfen niemals aussterben. Ach so ja, der Film: Ich war skeptisch, ob das funktionieren kann: Die Handlung von Anna Seghers’ Roman „Transit“ ins heutige Marseille zu verlegen. Und siehe da: Es gelingt, die Zeit förmlich aufzuheben und eine historisch verbürgte Geschichte aus dem Jahr 1941, einen Roman quasi nachzuerzählen, und alles ins Heute und damit Allgemeingültige zu transportieren. Das Warten aufs Weiterkommen und Entkommen, das für jede einzelne Figur (allesamt von großartigen Schauspielern verkörpert) in diesem Zwischenreich aus Vergangenheit und Zukunft etwas anderes bedeutet mehr oder weniger aushaltbar ist, vermittelt sich auf verstörende Weise und hallt noch lange nach.

vollmond 3293208002Literatur: Glücksgefühle bei der Arbeit gibt es, wenn man selbst ein Buch herausgibt und die tollsten 29 Geschichten von Frauen aus aller Welt zusammensammelt un dabei die Anthologie Vollmond hinter fahlgelben Wolken“ im genau richtigen Verlag (Unions) herauskommt. Und wenn darin auch noch eine Geschichte von Maryse Condé enthalten ist, die dann glatt den Alternativen Literaturnobelpreis bekommt. Nicht nur weil sie die erste LiBeraturpreisträgerin 1988 war und wir in diesem Jahr diesen Preis zum 30. Mal vergeben haben, ist das eine schöne Bestätigung.

Und noch eine Empfehlung von vielen von unserer Bestenliste Weltempfänger: „Der Nachbar“ von Patricia Melo. Die Autorin hat mich shon in den 90er Jahren mit ihrer unnachahmlich maliziösen, gleichzeitig konzisen Art zu schreiben beeindruckt, und das hier ist die Krönung. Wir sind in Brasilien, Sao Paulo,  –  ein Biologielehrer in mittleren Jahren befindet sich in einer veritablen Krise, der Nachbar über ihm bringt das Fass zum Überlaufen mit seinem Krach (also eigentlich nur ziemlich normalen Geräuschen des Lebens). Und so wird der arme Kerl tatsächlich zum Mörder. Mehr wird hier nicht verraten, wir sind jedenfalls von Anfang an bei ihm und erfahren auf nur 160 Seiten eine Menge darüber, wie sich ein Mensch von den Umständen so in die Enge getrieben fühlt, dass es zum Äußersten kommt. Große (Krimi-?) Kunst einer großen Schriftstellerin. Im Januar kommt sie übrigens nach Frankfurt zu den Litprom-Literaturtagen „Global Crime…“

literaturtage_webUnd wer auch eine Vorliebe für noch knappere (und nur vordergründig weniger dramatische) Geschichten hat, dem empfehle ich „Bruchstücke“ der Japanerin Nanae Ayoma. Drei untergründige Beziehungsgeschichten, die es in sich haben, dabei mit ganz leichter Hand geschrieben sind.

Mein Lieblings(un)wort: Es grassiert schon seit einigen Jahren: das Narrativ. Wie konnten wir nur vorher ohne es auskommen? Weiß das jemand und kennt vielleicht die Erzählung dazu?

Vorsätze für 2019: Sehr orginell: ins Fitnesstudio gehen anstatt nur zu bezahlen. Und ernsthaft: mehr Zeit und Aufmerksamkeit für die Pflege der ganz persönlichen Freundschaften. (Eventuell brauche ich hier ein neues Narrativ…?)

Anita Djafari ist Geschäftsfuehrerin Litprom. Die aktuelle Litprom-Bestenliste „Weltempfänger“ hier. Das Programm der großen Tagung „Global Crime. Kriminalliteratur als globaler Code“ am 25. und 26. Januar 2019 im Literaturhaus Frankfurt hier.

_noch-katrin-doerksenKatrin Doerksen: Familienbilder

Es ist eigentlich gar nicht so schlecht, wenn man umkippt. Vielleicht nicht in den Minuten vorher, wenn die Übelkeit langsam an einem hoch kriecht, wenn der Tunnelblick kommt und die Gewissheit, dass es jetzt unvermeidlich ist. Vielleicht auch nicht das Gefühl hinterher, wenn man noch zittrig ist oder realisiert, worauf man gefallen ist. Aber der Moment selbst, wenn das Sichtfeld sich verengt und Stimmen nur noch von weit her zu kommen scheinen, das ist, als würde man in eine warme Decke gehüllt.

Keine Ahnung, warum mir das im Sommer im Café passiert ist. Vielleicht zu wenig Sauerstoff in der Luft. Sicher lag es aber auch ein bisschen daran, dass dem namenlosen Ich-Erzähler aus Haruki Murakamis Hard-Boiled Wonderland und das Ende der Welt gerade der Bauch aufgeschlitzt wurde. Murakami macht daraus überhaupt keine blutige Angelegenheit, er schildert nüchtern die Dimensionen des Schnitts, ein bisschen wie ein Beamter. Mich macht er damit eher fertig als mit ausufernden Splatterorgien. Überhaupt: Murakami, der Schriftsteller, auf den ich in diesem Jahr wohl am häufigsten zurückgekommen bin. Auf den ich nichts kommen lasse, da kann er noch so oft völlig ungerechtfertigt, weil entkontextualisiert auf der Shortlist für den Bad Sex Award landen. Haruki Murakami ist mir 2018 auch im Kino begegnet. In Lee Chang-dongs Burning, der beweist, dass selbst Murakamis Kurzgeschichten dicht genug sind und gleichzeitig genügend Raum lassen, um sie in beinahe dreistündige Slowburner zu verwandeln.

Burning_1Alles Gejammere und alle realen Probleme mal dahingestellt. 2018 war ein ziemlich toller Kinojahrgang. Ein paar Momente fühlten sich beinahe so an wie im Café umzufallen, in eine warme Decke gehüllt zu werden.

Burning: Zwei Männer, einer verliebt und voller Zweifel, der andere ein Spielertyp, undurchsichtig, und eine Frau, die bald spurlos verschwunden sein wird. Hier ist sie aber noch vollends präsent, auf einem kleinen Hof irgendwo außerhalb von Seoul, nicht weit von der Grenze zu Nordkorea. Als Miles Davis aus dem nebenan geparkten Auto ertönt, beginnt sie wie weggetreten zu tanzen, zieht ihren Pullover aus und hebt die Hände über den Kopf, ihr Körper eine geschmeidige Silhouette vor dem Licht der untergehenden Sonne. Ein einziger Moment des Loslassens, des einfachen Seins in diesem sonst ständig unter Anspannung stehenden Film.

Shoplifters von Hirokazu-Kore-eda: Wieder eine Abrechnung mit traditionellen Familienstrukturen in Japan. Eine in prekären finanziellen Verhältnissen lebende Tokioter Familie nimmt ein vernachlässigtes kleines Mädchen bei sich auf. Auf ein Drama in der Tradition Yasujirō Ozus folgt der vielleicht niederschmetterndste Twist des ganzen Kinojahres. Und dann Sakura Andô, die in einer polizeilichen Befragung, es kommt einem vor wie Stunden, direkt der Kamera gegenüber sitzt, versucht die Tränen wegzuwischen, sobald sie ihr aus den Augen treten. „Children need their mothers.“ -„That’s just what mothers imagine.“ -„Giving birth automatically makes you a mother?“ -„You can’t become a mother unless you do.“ Grausamkeit auf so vielen Ebenen. Herz gebrochen.

782155.1024Roma-Poster-2018-rcm589x842uKönigin von Niendorf von Joya Thome: Ein Mädchen auf seinem Fahrrad fährt wehenden Haares dem Dorf entgegen, ihr hinterher die Jungs ihrer Clique. Ein kleines Juwel, bestehend fast nur aus Warmen-Decken-Momenten. Ein Film, der in ehemaligen Dorfkindern etwas zum Klingen bringt. Das alte Gefühl dafür, warum man damals so schnell wie möglich weg wollte. Und warum man nach einigen Jahren aus der Ferne heraus beginnt die Erinnerungen an seine wilde Kindheit auf den Feldern und in den Bäumen rückwirkend doppelt wertzuschätzen.

Roma von Alfonso Cuarón: Die allererste Einstellung. Raue Gehwegplatten, rautenförmig. Schritte nähern sich, jemand kippt auf ihnen das alte Putzwasser aus. In der Spiegelung nun erkennbar die Dächer der umstehenden Gebäude, die Silhouette eines vorüberziehenden Flugzeuges ist noch kurz zu sehen, bevor der Schatten des nächsten Dachs sie schluckt. Hin und wieder ein neuer Schwall Wasser, dann verzerren Wellen und Seifenbläschen die eng eingefasste, gespiegelte Welt. Ganz oben und ganz unten, drinnen und draußen. Alles, was den Film ausmacht, auf wunderbare Weise ist es in dieser einzigen Einstellung schon enthalten.

p15750243_p_v8_aaWildlife von Paul Dano: Die allerletzte Einstellung. Anderthalb Stunden haben wir Joes (Ed Oxenbould) Eltern (Jake Gyllenhaal und Carey Mulligan) dabei zugeschaut wie sie sich entzweit, aneinander vorbeigeredet und einander verletzt haben. Immer wieder haben wir gesehen, wie Joe in seinem Nebenjob vermeintliche Musterfamilien vor der Kamera drapiert hat: die Großen nach Hinten, die Kleinen nach vorn, möglich nah beieinander, Köpfe leicht neigen, lächeln bitte. Nun schleppt er die eigenen Eltern in das Fotostudio; bittet sie Platz zu nehmen, auf drei nebeneinander gestellten Stühlen gegenüber der Kamera. Aktiviert den Selbstauslöser und setzt sich auf den verbliebenen Stuhl in der Mitte. Wir sehen sie so, wie Joes Kamera sie sieht, voll frontal, ohne Beschönigung. Menschen so nüchtern fotografieren wie Objekte. Vielleicht die einzig ehrliche Art Familien zu portraitieren.

Katrin Doerksen schreibt – über Film vor allem, manchmal auch über Comics, Mode und Fotografie. Bei CulturMag auch über die Berlinale. Alle ihre schönen CM-Texte hier. Ihr Blog l’âge d’or – Celebrating the Visual, Twitter: @katrindoerksen, Facebook: www.facebook.com/kadoerksen

canyon-passage-blu-ray-movie-titleWerner Dütsch: Jacques Tourneurs „Canyon Passage“

Wie Peter Temple, Philip Kerr oder Sam Shepard gehört er zu den Toten des Jahres 2018. Werner Dütsch hat viele bedeutende (und kritische) Filmemacher gefördert und selbst sehr fundierte Filme gemacht; die Liste der Filmreihen und Sendungen, die er als WDR-Redakteur betreute, ist groß und umfassend. Er war eine Institution, Dietrich Leders Nachruf bekräftigt das: „Seine klaren Anmerkungen, sein unbestechlicher Blick, seine Solidarität werden fehlen – vor allem dem öffentlich-rechtlichen Fernsehen, das heute vermutlich gar nicht mehr weiß, was es an ihm hatte.“ Unser Kolumnist Max Annas hat ihn oft erlebt, und er hat uns Dütschs Text zu Jacques Tourneurs Western „Canyon Passage“ (1946, dt. Feuer am Horizont, viele Filmstills hier) von 2013 vermittelt:
 
     Die erste Einstellung wie die letzte: halb realer gebauter Schauplatz, halb gemalter Hintergrund. Matte Painting in einem Film, der mit Farben umgeht wie ein Maler, der grobe Effekte meidet. Zweimal ein auffälliges Grün – für einen Spieltisch und für einen Tresor, Gier und Betrug. Sanft das vierfach abgestimmte Grün für Susan Haywards ersten Auftritt: Ihre Augen, deren Grün auch in den Dialog findet – the devil with the green eyes -, ein Reversbesatz, eine Jacke, ein bodenlanger, weiter Rock, der leise raschelt, wenn er bewegt wird. Taft? Neben soviel Western-Luxus Hauptdarsteller Dana Andrews in bescheidener, dunkelgrüner Cordjacke. Auch die gediegen altmodischen Kleider der Patricia Roc, der anderen Dame des Films, in verhaltenen Farben.

     yxc296yj4ixjjyi2Das eindringliche Rot der Ahornblätter, die in einer Nahaufnahme Ward Bond einrahmen, ist dem Indian Summer geschuldet.
     Hat Tourneur für seinen ersten Farbfilm, der auch sein erster Western ist, gemäßigte Farben beabsichtigt oder sich der Technicolor Directrice Natalie Kalmus anvertraut, die allen Technicolor-Filmen moderate, harmonische, unaufdringliche Farben verordnen wollte – auch unter Protest. Einmal gibt es für einen Dialog einen Sonnenuntergang mit vielen Wolken (a buttermilk sky). Im Vergleich dazu das flamboyante Rot eines anderen Films von 1946: In »Duel in the Sun«  geraten Figuren in ein überrotes Technicolor-Farbbad, das weniger der Sonne als dem Willen für Ausdruck und Auffälligkeit geschuldet ist. »Canyon Passage« kommt ganz ohne Hysterie aus, auch wenn es um Vergewaltigung, Mord, Lynchen und Massaker geht und um weit aufgefächerte Beziehungen, in denen die Frauen die Paar-Entscheidungen treffen werden. Dann aber erlaubt sich Tourneur eine Szene, neben der die lächerlichen, erotisch sein wollenden Exzesse der Selznick und Hughes nur albern ausschauen.
     Dana Andrews ist mit Patricia Roc verlobt, Brian Donlevy mit Susan Hayward.// Andrews und Hayward finden Gefallen aneinander, Donlevy macht noch einer anderen den Hof – vergeblich. Um Patricia Roc bemüht sich auch Victor Cutler, ein schüchterner Freund Andrews‘. Die Hayward bekommt Andrews, muss ihn dafür aber dreimal fragen: »Would you mind havin‘ me on your hand?«   Patricia Roc erklärt Andrews unmissverständlich, dass sie Sesshaftigkeit seiner Herumzieherei vorzieht und entscheidet sich für Cutler.// Andrews und Donlevy sind Freunde, es gibt offene Intimitäten: Donlevy begrüßt Susan Hayward nach langer Trennung mit einem verhaltenen Kuss, Andrews schaut zu.
14649d80eee6bad2271c06adf0dd2da6--dana-andrews-susan-haywardAndrews: That‘s the best you can do?
Donlevy: Could you do any better?
Andrews: If I hadn‘t seen my girl for a whole month, a whole lot better.
In der späteren Variante der Kuss-Szene gibt Donlevy der Hayward wieder einen keuschen Kuss.
Andrews: You gonna do your kissing in private, and do it better.
Donlevy: I‘ll ask you again, could you do better? 

Auf der Stelle macht Andrews es besser. Kein Kuss nur simuliert, nur vorgespielt: Ein Freund zeigt dem anderen eindringlich, wie das sein kann mit dem Küssen. Die Hayward macht das unerwartet intensiv mit: Sie will den, der sie küsst. ‘Mitspielen‘ ist dafür ein zu harmloses Verb. Wie hier Lippen, Gesichter, Hände und Körper zueinander finden, das ist nicht nur für einen Western schockierend. Obendrein, und das skandalisiert auch den Fortgang der Szene, gibt es zwischen den sich neugierig und gespannt anschauenden Freunden und der Dame ein verblüffendes Einverständnis; als wäre eine ménage à trois beschlossene Sache. Das ist halbnah und lässig gefilmt, ohne aufgeregte Schauspielerei.
     Wenn Andrews der Patricia Roc einen Schmuck um den Hals legt, setzt sie dazu an, ihm dankend einen Kuss geben zu wollen, hält aber inne, da sie entdeckt, dass die Hayward zuschaut. Die beiden Frauen miteinander: höflich reserviert, manchmal freundlich, immer neugierig, auch misstrauisch und eifersüchtig. Susan Hayward war 1946 auf dem Weg zum Starruhm, die im englischen Kino schon erfolgreiche Patricia Roc mag sich in Hollywood eine zweite Karriere erhofft haben, es blieb bei diesem einen Film. Wenn die dunkelhaarige Roc sich gegen Andrews entschieden hat, ist sie zum ersten Mal mit aufgelöstem, langem Haar zu sehen; drei Sekunden lang mag man glauben, die Hayward gesehen zu haben, deren rotes Haar der Film gedämpft als ein Rotbraun erscheinen lässt.

     Noch ein Ver-Sehen: Jedermann erinnert Filmkopien, deren Anfänge und Enden schrecklich verregnet sind. So beginnt auch der Vorspann von Canyon Passage mit seiner serifenreichen Western-Schrift. Doch es sind keine Laufstreifen, es ist ausdauernder, gnadenloser Regen, der die Eingangszene beherrscht. Nacht, Graublau, Matschbraun, Wasser und das Schwarz der Pferde, die Baumstämme durch den Schlamm ziehen. Bei einer Express Company deponiert Andrews sein Gold. Es sind nur Körner, aber – so heißt es da – die Farbe macht es aus, ein Gelb wie Butter, die man aufs Brot streicht, mit Gold funktioniert das nicht. Über Gelb und Butter und Gold kommt der Dialog schnell zu den Göttern: A man can choose his own gods, what are your gods? Tourneurs Farbfilm bringt das alles mühelos zusammen. In der nächste Szene beabsichtigt Andrews, sie neu einzukleiden, from the skin on.

  15dvd600 Welche Rolle haben Kleider und Mode in einem Film mit Kostümen von Travis Banton, der Jahre zuvor an der Extravaganza der Paramount geschneidert hat, für Sternberg und Lubitsch? Bequem ließe sich sagen, seine Kleider für die Damen seien unangemessen und einfach nicht authentisch. Als wären die Männerkostüme der Western wahrscheinlicher, mit der Herrenmode für den Saloon, dem Country-Chic fürs Gelände und den virilen Fetischen: den Hüten, auf die kein Wind und kein Galopp Einfluss nehmen kann, den Halstüchern, den hüftlastigen Coltgürteln, beladen mit Waffen von märchenhafter Treffsicherheit, den rustikalen Stiefeln und Sporen. Westernspiele, Westernrituale: Evokation, nicht Rekonstruktion.

     Und Hoagy Carmichael, der hier ein Instrument spielt, das ausschaut wie eine nicht ganz echte Laute, die er mandolin und mandy nennt. Er fand das später seine beste Filmrolle. Eine Figur mittendrin und daneben. Sehr schlank, sehr lebhaft, als sei er gerade aus »To Have and Have Not« oder »The Best Years of Our Life« hier hereinspaziert, eine größere Rolle einzufordern, diesmal seriös gekleidet und mit einem beigefarbenen Stovepipe Hat, den ein sehr breites, schwarzes Hutband ziert. Er animiert die Leute im Film, kommentiert die Handlung und hat vier Songs im On. Die lassen sich mal auf die Handlung ein, mal vagabundieren sie frei herum, und einer hätte ihm fast einen Oscar eingebracht:

Ole buttermilk sky
I’ma keepin‘ my eye peeled on you
What’s the good word tonight?
Are you gonna be mellow tonight?

Ole buttermilk sky
Can’t you see my little donkey and me
We’re as happy as a christmas tree
Headin‘ for the one I love.

     Americana: Die Gemeinde der Siedler errichtet einem jungen Paar mit Enthusiasmus ein Blockhaus. (So einen kommunalen, aber üppigeren Hausbau gab es 1985 in Peter Weirs »Witness«  bei den Amish.) Das Paar wird von einem Mann getraut, der seinen christlichen Text in ziviler Kleidung spricht. Es wird musiziert und getanzt, plötzlich erstarren alle: Wie aus dem Nichts sind Indianer aufgetaucht. Andy Devine – bei John Ford immer der Trottel – spricht in ihrer Sprache mit dem Wortführer und übersetzt: »It‘s the same old story, they don‘t mind us coming here. It‘s like he says, mother earth is for all. What they don‘t like is the cabin, that makes the land ours.«  Parallel dazu die Geste eines versuchten Ausgleichs, einer Vermittlung: In einem Korb sammelt Hoagy Carmichael Äpfel, die den Indianern übergeben werden. Die hätten gerne, was die Weißen gerne zu sich nehmen und ihnen hier verweigern: Whiskey. Ein Indianer reißt von Carmichaels Instrument eine Saite, ein brauchbares Material.
    MV5BMTI1NDM3MjI2OV5BMl5BanBnXkFtZTcwNjQxOTI0MQ@@._V1_ Äpfel werden in Oregon schon vor 1856 angebaut, gehören dort zur Western-Folklore. Nachzulesen wäre, ob es Carmichaels Äpfel schon 1945 in Ernest Haycox‘ Fortsetzungsstory »Canyon Passage« in der Saturday Evening Post gibt: Haycox hat den größten Teil seines kurzen Lebens in Oregon verbracht. Seine Storys waren u.a. Stoff für »Union Pacific«, »Stagecoach«, »The Far Country«.
     In Spanien hatte »Canyon Passage«  den Titel »Terra Generosa. «
      »Canyon Passage«  verbreitet keine Illusionen. Es gibt Krieg mit den Indianern, den ein Weißer auslöst, also gibt es die vertrauten Westernbilder des brennenden und des verbrannten Hauses. Tourneur zeigt eine Frau, die Witwe geworden ist (Dorothy Peterson). In Nahaufnahme ihr Kopf von hinten: die Schultern, das hochgesteckte Haar, ein weißer, nicht ganz glatt gestrichener Kragen, matte Farben, Küchenwerkzeuge. Ein Eisenstein-Bild?

     Müßig, jetzt auszudenken, was Frieda Grafe zu »Canyon Passage«  eingefallen wäre. Vielleicht hätte sie mir widersprochen, wie vor vier Jahrzehnten, als ich ihr erklären wollte, warum »There Was a Crooked Man«  kein richtiger Western sei. Sie wandte sich lachend an Enno Patalas: Der Mankiewicz hat dem Dütsch die Western kaputt gemacht! Was hätte sie zu den Alterswerken von Travis Banton geschrieben?

frieda grafe 81WrvWT8ReLWerner Dütsch war über drei Jahrzehnte beim WDR: Filmprogramme, Produktion von Filmsendungen und Dokumentarfilmen. Dozent an der Kunsthochschule für Medien, Köln. Auch Wolf-Eckart Bühler (unter dem alten Filmkritik-Kürzel WEB in unserem Jahrerückblick zu finden) hat mit ihm und für ihn gearbeitet.

Der hier mit freundlicher Erlaubnis von Verlag und Herausgebern veröffentlichte Text stammt von 2013 und ist Teil eines Projekts, das Max Annas mit Annett Busch und Henriette Gunkel realisiert hat: Die 30 Lieblingsfilme Frieda Grafes als Anlass, zusammen mit anderen über die Kanonisierung von Film nachzudenken – nachzulesen ist diese Liste in der Filmzeitschrift Steadycam Nr. 45 von 2003.
Frieda Grafe: 30 Filme – 3 Hefte,  je 10 der 30 Lieblingsfilme Grafes, 80 bzw 88 Seiten, fadengeheftet,dazu Filmstills, je 90 Abbildungen, 70 davon vierfarbig, montiert mit Textauszügen aus Frieda Grafes Werk, jedes Heft 12 Euro, Verlag Brinkmann und Bose, Berlin 2013. – Schöne, kleine Kostbarkeiten.

 

(c) Lieteraturzeitschirft "Am Erker"

Joachim Feldmann © Literaturzeitschrift „Am Erker“

Joachim Feldmann: Antriebsriemen

Neulich sollte ich ein Gummiband bewerten. Und zwar in mehr als 25 Zeichen. Nun handelte es sich selbstredend nicht um ein normales Gummiband, sondern um einen Original-Antriebsriemen für meinen Thorens-Plattenspieler. Wahrscheinlich habe ich, seit ich mir vor vielen Jahren das gute Stück zulegte, mehr Geld für diese labile Ersatzteile ausgegeben, als das ganze Gerät gekostet hat. Aber warum erzähle ich das überhaupt? Vielleicht, weil diese banale Geschichte so einiges darüber das vergangene Jahr aussagt.

Mir fiel nämlich nichts ein, was ich hätte schreiben können. Nicht einmal für magere 25 Zeichen. Ich habe nämlich keine Haltung zu Antriebsriemen. Meine einzige Erwartung ist, dass sie möglichst lange ihren Dienst versehen. Und ob die erfüllt wird, weiß ich erst in möglichst ferner Zukunft.

So ein Antriebsriemen ist übrigens erheblich nützlicher als viele der Bücher, zu denen ich ebenfalls eine Meinung haben sollte. Bei vielen weiß ich schon nach den ersten Zeilen, dass sie mir nur die Zeit stehlen würden. Und da ich äußerst ungern Verrisse schreibe, verzichte ich in solchen Fälle auf die Lektüre. Enttäuschungen lassen sich auf diese Weise aber nicht immer verhindern. So kaufte ich mir den neuen Rebus („In a House of Lies“), obwohl ich eigentlich weiß, dass es Ian Rankin immer schwerer fällt, seinem längst pensionierten Helden einen akzeptablen Plot zu spendieren. Aber auch die Bücher anderer Autoren, denen ich lange die Treue gehalten hatte – stellvertretend seien hier Peter Robinson (Alan Banks) und Stephen Booth (Cooper & Fry) genannt -, hätte ich gerne mit einer Mängelrüge bedacht.

chop2107alb06krimiAber ich bin zu streng mit dem zu Ende gehenden Jahr. Schließlich gab es großartige Romane, in denen wieder einmal gezeigt wurde, was Spannungsliteratur, die sich den sozialen Verwerfungen unserer Zeit nicht verschließt, zu leisten vermag. Autorinnen wie Lisa McInerney, Simone Buchholz oder Denise Mina demonstrierten auf erzählerisch sehr unterschiedliche Weise, wie sich sozialer Realismus und ästhetischer Anspruch vereinbaren lassen. Nicht zu vergessen der Amerikaner Tom Franklin, dessen Südstaatenepos „Crooked Letter, Crooked Letter“ (dt. als „Krumme Type, krumme Type“ bei Pulpmaster) mich so beeindruckte, dass ich das Buch sofort meinem Englisch-Leistungskurs als Unterrichtslektüre aufnötigte. Also doch ein gutes Jahr für die Kriminalliteratur? Wahrscheinlich ja.

Der Antriebsriemen hält übrigens. Und auf dem Plattenteller dreht sich die einzige aktuelle Scheibe (so sagte man früher), die ich in diesem Jahr gekauft habe: Van Morrisons „The Prophet Speaks“.

Die Texte von Joachim Feldmann bei CrimeMag hier. Seit 1977 macht er zusammen mit Michael Kofort und anderen die Literaturzeitschrift Am Erker. Zudem ist er bei so gut wie jeder Lieferung der Bloody Chops dabei.

K1024_Candice-FoxCandice Fox

You know what I like about the current television revolution? Writers and directors seem to have let go of their need for everyone to be terribly good-looking, with a heart of gold. The characters in Escape at Dannemora look like real people and they act like it too – they’re selfish and corrupt, with reasonable helpings of kindness and mixed in. I’m only four episodes in and utterly hooked on this gritty, tense and unpredictable prison drama. 

It’s a travesty that American Animals hasn’t gone up for any kind of Oscar nomination. The beautifully shot, frequently funny and gut-wrenching story about a heist is relateable for taking us deep inside that moment everyone’s experienced, when you look around and wonder ‘Is this it?’ The young men featured strike out to change their lives, believing they’re meant for more, and in doing so we live their wonderful and terrible adventure with them. Easily smashed its way into my top three films of all time.

JaRü _Stephen Hunter_Brawl_mm00237410I was lucky enough to host global crime phenomenon Lee Child in Australia recently, so I read his latest, „Past Tense“, and simply adored it. There are two central mysteries, and the one that sold me actually didn’t involve Jack Reacher, weirdly. Something awful is about to happen at a remote motel in Laconia, New Hampshire where two young people are holed up. This book had me shouting at my husband in tension – he’d read it first and knew the plot twist, but luckily didn’t give it up. A great, great book.

Speaking of Jack Reacher, if you’ve seen Vince Vaughn in Brawl in Cell Block 99  you’ll understand why he’s the only choice to play Reacher in the upcoming television series – Vaughn is impossibly big, brutish and ultra-violent in this very dark prison pick (I guess it’s been a prison loving year for me – weird!) If you’re into sudden, unpredictable bursts of good old fashioned fighting for your life – this is the film for you. (See also former movie critic Stephen Hunter’s recommendation in our 2017 Year’s Ende Issue – the editors.)

Candice Fox is published in Germany to quite some fame, she will be here again End of January. Disclaimer: Thomas Wörtche is her German editor, Alf Mayer paid her a visit in Sydney and had a long chat with her. Katja Bohnet and Max Annas, both of them renowned German authors, discussed „Hades“ and there are some more CrimeMag articles about her. And here in CrimeMag, her open letter to Stephen King. Her website.

9783551721273Michael Friderici: Body and Soul oder: Here is a strange and bitter crop

Die Berufsgruppe der Henker hat mit der Trennung von Kopf und Rumpf einen praktischen Beitrag Leib-Seele-Problematik geliefert. Fritz Kortner dachte nicht so sezierend: Der Mime entwickelte seine Kunst am Box-Ring weiter. Enki Bilal auch. 

Bug1: Der Pariser Comic-Künstler hat das Schachboxen Mitte der 90er Jahre des vergangenen Jahrhunderts erfunden. Drei Minuten Schach, drei Minuten Boxen. Jetzt ist hierzulande ein Hardcover von ihm erschienen. BUG1 beginnt in Paris, im Jahr 2041. Sämtliche Daten sind von Servern und USB-Sticks verschwunden. Einer jedoch scheint alle Daten zu erinnern. Verständlich, dass wenig Interesse am Leib, dafür mehr am Kopf dieses Mannes besteht… Grandios. Bilal eben. 

auster_4321A Tuckn: Weniger toll eine österreichische Olympionikin: Sie bog falsch ab und verpaßte eine Medaille. Ihr Vater, TV-Experte, nannte sie vor offenem Mikro dafür „a Tuckn„, was sich -sehr gutwillig-  als Dummkopf interpretieren lässt. Aber selbst der sollte, insbesondere während einer Olympiade, mit einem austrainierten Körper harmonieren. – 

1.2.3.4: Vielleicht erinnert sich jemand an Paul Auster und seine geliebte mechanische Reiseschreibmaschine. Seit 1962 stand sie bei einem Freund herum. Auster kaufte sie ihm 1974 für 40 Dollar ab;  Jahre später widmete er der „Olympia“ eine Kurzgeschichte: seine „Liebes-Beziehung“ zur mechanischen Schreibmaschine im digitalen Zeitalter. Von einem der größten Rüstungsbetriebe des Deutschen Kaiserreiches (wo zB das legendäre MG 08/15 entstand) ist dort nicht die Rede. Der mußte nach dem Versailler Vertrag seine Waffen-Produktion aufgeben und begann stattdessen – erfolgreich- auf Büro-, insbesondere Schreibmaschinen umzustellen. Anlässlich der Olympischen Sommerspiele 1936 erhielten Werk und Schreibmaschinen die schöne Benamsung „Olympia“. – Ist das Werk von Paul Auster jetzt neu zu bewerten? Denn an dieser Stelle wollte ich unkritisch feiernd auf sein „4 3 2 1“ hinweisen. Erst jetzt. Denn das Buch ist über 1000 Seiten stark, deshalb hat das Umblättern etwas länger gedauert.

Übermalung: Das Eugen-Gomringer Gedicht „avenidas“ ist nur  8 Zeilen kurz. Es war auf der Fassade der „Alice-Salomon-Hochschule“ zu lesen, die nach einer in die Emigration gezwungenen Jüdin  benannt ist.  Das Gedicht, auch ein Ausdruck der Suche nach einer anderen Sprache, war 6 Jahre nach dem Ende des 2. Weltkrieges entstanden.  Es muß also ähnlich alt sein, wie die Olympia von Paul Auster – und etwa 40 Jahre älter als die Bologna-Creditpointsammlerfundamentalisten/-innen*, die Gomringers Nachkriegs-Lyrik als frauenfeindliche Entartung entlarvten: Die offizielle Sprachfassadenreinigungsformulierung lautete  „potenziell sexistisch“. Ergo: Keine Kunst. Ergo: Kann weg. Ergo ist es übermalt worden. – Wenige Wochen später  twitterte die Tierschutzorganisation Peta: „So wie es nicht mehr annehmbar ist, rassistische, homophobe oder diskriminierende Sprache zu verwenden, so werden auch Wendungen, die Grausamkeiten gegenüber Tieren verharmlosen, verschwinden.“  

Pardon wird nicht gegeben: „Verschwinden“ ist durchaus als freundliche Umschreibung von „Auslöschung“ interpretierbar. Ist natürlich nicht so gemeint. Klar. Zudem bleibt die Hoffnung, dass sich nicht nur die Body-and-Soul-Problematik mit der Weiterentwicklung Künstlicher Intelligenz von selbst erledigt. – Bis dahin plädiere ich dafür, Austers Texte zu indizieren. Schließlich hat sich die Geschichte seiner Maschine in seine Texte eingeschrieben, zum anderen feiert er seine (!) Olympia als Maschine (!!) und Schreibkraft (!!!).  – Die wunderschöne (!!)  Tochter Professor Spalanzanis in E.T.A. Hoffmanns „Sandmann“,  ein/e Automat/in, heisst die nicht auch Olimpia? – Die nächste Putztruppe wartet schon. Pardon wird nicht gegeben, nichts und niemandem gegenüber – an keinem Örtchen! 

GwABobac_RPTkU3RegrRMen Women Artists: Hochschul-Institution, die scheinbar progressiv geschlechtsneutral nach Sitzenden, Stehenden, Sitzenden und Stehenden segregieren, für erhebliche Nachdenklichkeiten bei den Notdürftigen.  Eine geradezu vorbildliche Lösung für alle nach diskriminierungsfreier Entleerung-des-Leibes-Strebenden dagegen haben sich kluge Köpfe des Museums für Zeitgenössische Kunst in Antwerpen ausgedacht.  Bei den entsprechenden Örtlichkeiten stehen drei Türen zur Auswahl, for Men, Women & Artists!   

Sanguine: Luc Tuymans kuratierte in diesem Museum die Ausstellung „Sanguine/Blutrot“ zum Rubensjahr. Er konfrontiert Schlüsselwerke des Barock mit zeitgenössischen Künstlern. Ein grandioses dialogisches Spektakel, das den kritischen Betrachter auch daran gemahnt, endlich darüber nachzudenken, ob die wohl eher geschlechtslosen (!?) Himmelsboten nun stehen, sitzen, fliegen oder… Und dann die Lieb(!)frauenkathedrale… – Es gibt noch vieles zu korrigieren, umzubenennen, zu übermalen, abzureißen, zu streichen, verschwinden zu lassen… Jedenfalls: Rubens dort hängende triptychonale ‘Kreuzaufrichtung , bzw.  „Kreuzabnahme“ – als Teil eines Gesamtkunstwerkes und  bildermächtigen Ausdrucks der Gegenbewegung zur asketischen Verinnerlichung einer protestantischen tabula rasa an der Schelde zu erleben,  ja, das empfand ich als unanständig – als unanständig  schön. 

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Abu Dhabi Louvre @ Wkiemirati Commons

Louvre Moschee: Noch unverschämter geht es in Abu Dhabi zu. Dort scheint  die Sonn schon seit je ohn Unterlaß. In dieser natürlichen Licht-Permanenz steht das drittgrößte Gotteshaus der islamischen Welt. Architektonisch eine Art Vorhof zum Paradies. Auf über 5.600 Quadratmetern Platz für 40.000 Gläubige… – Nur wenige Kilometer davon entfernt  der Ende 2017 eröffnete Louvre Abu Dhabis, mit 6000 Quadratmetern Ausstellungsfläche. Platz spielt in der Wüste keine Rolle. Durch 8000 Öffnungen einer netzartigen Aluminiumdachkonstruktion fallen die Sonnenstrahlen. Die vielen Wasserbassins reflektieren das Licht, vervollständigen das  Bild zu einem impressionistischen Gesamtkunstwerk. Die Konstruktion schafft ein  ideales Mikroklima – für die Flaneure und  Kunstwerke.  –  Atemberaubend. Das Meer reicht bis nach innen und deutet die Grenze zur Welt da draußen an. – Alleine eine Milliarde€ bezahlt das Emirat für Expertise, Leihgaben und vor allem dafür, den Namen „Louvre“ um 30 Jahre lang nutzen zu dürfen. Das erste Universalmuseum im Nahen und Mittleren Osten betont die Gemeinsamkeiten zwischen den Kulturen – die Wege des Handels, des Wissens, der Schriftkultur  als dem Gemeinsamen von Christentum, Islam und Judentum. Die arabische Halbinsel bildet in dieser Erzählung den quasi natürlichen Schnittpunkt. 
Ja, es wird geglättet und „übermalt“. Kultur dient hier zur dekorativen Gestaltung der real existierenden kapitalen Konkurrenz und formuliert symbolisch den öl- und gasvermittelten Anspruch politisch mitspielen zu wollen. Fragen eines lesenden Arbeiters interessieren hier nicht. Politische Parteien sind verboten, Gewerkschaften nicht existent. Trotzdem begann 2013 ein Streik, der ausgerechnet von der Louvre-Baustelle ausging und das ganze Land erfasste. Das alles verschwindet hinter den Fassaden einer Opulenz, die kindliche Märchenphantasien aufleben lässt. 

Das Montage Werk: In Frank  Göhres limitiert aufgelegtem “Montage Werk“ heißt es in einem Text über Roland Klick: „Er durchwandert die  Stadt die er ‚an ihren dreckigsten, kältesten Ecken aufsucht, in Hinterhöfen, auf dem nächtlichen Hauptbahnhof, in abbruchreifen Hausgerippen‘.“

Body and  Soul: Am 14. Oktober 1864 schlug „ein erfahrener Henker“ Christian Ludwig Hilberg am Rabenstein in Marburg den Kopf ab.  Vor großem Publikum, wie es heißt. Es war die letzte öffentliche Hinrichtung in Hessen, wobei Hessen das einzige Bundesland war, in dem die Todesstrafe „bis gestern“ in der Verfassung stand.  Seit 2018  gilt auch dort: „Die Todesstrafe ist abgeschafft.“ – Noch so ein Beitrag zur Leib-Seele-Problematik. 

Michael Friederici organisiert „Schwarze Nächte“ in Hamburg, Autorenlesungen und Veranstaltungen der besonderen Art. Seine Texte bei CrimeMag hier.

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